Olaf Kühl: der Grenzgänger

Szczepan Twardochs vielschichtiger Roman „Kälte“, übersetzt von Olaf Kühl aus dem Polnischen, erzählt von Flucht, Gewalt und dem Überleben in der eisigen Weite des Nordens – ein literarisches Abenteuer, das auch sprachlich herausfordert. Von

Foto des Übersetzers Olaf Kühl © Tim Altenhof
Foto des Übersetzers Olaf Kühl © Tim Altenhof

Am 27. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­lie­hen, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die Nomi­nier­ten vor. Alle Bei­trä­ge der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Szc­ze­pan Twar­dochs Käl­te ist nichts für schwa­che Ner­ven. Der Roman beginnt und endet in der Ark­tis: Eine fik­ti­ve Ver­si­on des Autors reist in die Geis­ter­stadt Pyra­mi­den, eine ehe­ma­li­ge Berg­ar­bei­ter­sied­lung auf Spitz­ber­gen, die sich auf einer Insel hoch im Nor­den Nor­we­gens inmit­ten des ant­ark­ti­schen Oze­ans befin­det. Dort trifft er auf eine älte­re Frau, die ihn auf ihrem Boot mit­nimmt und ein Notiz­buch über­reicht – was er damit anfängt, bleibt ihm überlassen.

Das Notiz­buch gehör­te Kon­rad Widuch, einem aus Schle­si­en stam­men­den Mari­ne­sol­da­ten, der Anfang des 20. Jahr­hun­derts zum Trotz­kis­ten wird und die rus­si­sche Revo­lu­ti­on beglei­tet. Doch mit Sta­lins wach­sen­der Macht wird es für ihn und sei­ne Frau Sofie, eben­falls Revo­lu­tio­nä­rin, in Russ­land zuneh­mend gefähr­lich. Sie flieht mit den bei­den Töch­tern, wäh­rend er im Gulag lan­det – an einem Ort, den er „nicht erwäh­nen wer­de“. Von dort gelingt ihm die Flucht mit gestoh­le­nen Pfer­den und einem von ihm ver­stüm­mel­ten Mit­in­sas­sen im Schlepptau.

Im Nichts der rus­si­schen Tai­ga hält ihn ledig­lich die Angst vor Russ­land und die Hoff­nung, Sofie wie­der­zu­fin­den, am Leben. Doch das Leben in Twar­dochs Roman ist von uner­bitt­li­cher Bru­ta­li­tät geprägt – wenn sei­ne Figu­ren nicht an Hun­ger oder Käl­te zugrun­de gehen, brin­gen sie sich gegen­sei­tig um. Eini­ge ster­ben auf unvor­stell­bar grau­sa­me Wei­se, ande­re wer­den ver­ge­wal­tigt, und selbst vor Kan­ni­ba­lis­mus macht der Roman nicht halt. 

Irgend­wann wer­den die geflo­he­nen Gefan­ge­nen von einer indi­ge­nen Grup­pe ent­deckt, die als „Cho­lod­ser“ bezeich­net wird. „Cho­lod“ bedeu­tet sowohl im Pol­ni­schen als auch im Rus­si­schen „Käl­te“ oder „Küh­le“ (daher trägt die Ori­gi­nal­aus­ga­be den Titel Chłód). Die Cho­lod­ser haben ihre eige­ne Spra­che, Sit­ten und Bräu­che; ande­re indi­ge­ne Völ­ker wie die Tschuk­tschen und Juka­gi­ren sind zugleich ihre Ver­bün­de­ten und Geg­ner. Widuch ver­bringt meh­re­re Jah­re bei ihnen und doku­men­tiert sei­ne Beob­ach­tun­gen akri­bisch – wie ein Anthro­po­lo­ge. Als jedoch die Gefahr besteht, dass die Cho­lod­ser ins Visier Russ­lands gera­ten, bleibt wie­der nur die Flucht, die im Eis­meer endet, wo Widuch auf einem ver­las­se­nen Schiff sei­ne Geschich­te niederschreibt.

Szc­ze­pan Twar­doch zählt zu den span­nends­ten pol­ni­schen Autoren der Gegen­wart.  Sei­ne Roma­ne, dar­un­ter Der Boxer und Demut, wur­den im deutsch­spra­chi­gen Raum enthu­si­as­tisch rezi­piert. Auch in Käl­te fin­den sich ver­trau­te Ele­men­te aus sei­nem bis­he­ri­gen Werk: der gro­ße Detail­reich­tum, ver­schach­tel­te Sät­ze und nicht zuletzt ein mar­kan­ter, aber völ­lig unzu­ver­läs­si­ger Erzäh­ler. Am Ende die­ses  fan­tas­ti­schen Romans stellt sich unwei­ger­lich die Fra­ge, was man da eigent­lich gera­de gele­sen hat – einen Sur­vi­val-Mythos, ein Aben­teu­er-Epos, einen „his­to­ri­schen“ Roman? Twar­dochs Käl­te ver­eint all das – und ent­hüllt stets nur so viel, dass man ihm voll­kom­men verfällt.

Die Jury-Begrün­dung

Geschich­te und Gegen­wart sind in die­sem sti­lis­tisch viel­fäl­ti­gen, poli­tisch bri­san­ten Roman ver­wo­ben. Der Kampf einer Hand­voll Men­schen gegen mäch­ti­ge Natur legt Zeug­nis ab vom Sys­tem des Stalin’schen Gulag. Olaf Kühl führt das deut­sche Lese­pu­bli­kum sou­ve­rän durch Szc­ze­pan Twar­dochs lite­ra­ri­sches Ver­steck­spiel, in dem Autor und Aben­teu­rer sich iden­tisch geben. Er über­setzt so, dass man friert, empört ist und berauscht.

Die Über­set­zung

Der Über­set­zer Olaf Kühl arbei­tet mit drei Spra­chen: Pol­nisch, Rus­sisch und Ukrai­nisch. Wenn er nicht über­setzt, schreibt er. Zudem war er jahr­zehn­te­lang in der Ber­li­ner Poli­tik tätig – als Russ­land­re­fe­rent und Ost­eu­ro­pa-Exper­te. Seit über zehn Jah­ren über­trägt er die Roma­ne von Szc­ze­pan Twar­doch ins Deut­sche. 2018 wur­de er für sein Gesamt­werk, ins­be­son­de­re für die Über­set­zung von Der Boxer, mit dem Helmut‑M.-Braem-Übersetzerpreis aus­ge­zeich­net. Käl­te ist bereits der sieb­te Roman von Twar­doch, den Kühl über­setzt hat.

Die Nomi­nie­rung für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se kann in man­chen Fäl­len als Wür­di­gung des Gesamt­werks eines Über­set­zers oder einer Über­set­ze­rin ver­stan­den wer­den – und ange­sichts von Olaf Kühls viel­fäl­ti­gem Schaf­fen war eine sol­che Aner­ken­nung längst über­fäl­lig. Mit Käl­te ist aber nicht nur ein Roman nomi­niert, der lite­ra­risch her­aus­for­dert, son­dern auch eine Über­set­zung, die sprach­lich beein­druckt. Es hät­te sich wohl kein bes­se­rer Poly­glott als Olaf Kühl fin­den kön­nen, um Kon­rad Widuchs viel­spra­chi­ge Tage­buch­no­ti­zen ins Deut­sche zu bringen.

Twed­archs Haupt­fi­gur spricht Pol­nisch und Deutsch, lernt Rus­sisch und spä­ter auch die Spra­che der Cho­lod­ser, deren Eigen­tüm­lich­kei­ten er detail­liert fest­hält. Er schreibt auf Pol­nisch –  eine Spra­che, die sei­ne Toch­ter, die spä­ter sei­ne Noti­zen fin­den wird, nicht ver­steht, wes­halb sie zur Über­set­zung grei­fen muss. Das von der Jury des Prei­ses der Leip­zi­ger Buch­mes­se ange­führ­te Kri­te­ri­um, dass eine gelun­ge­ne Über­set­zung sich lese, als hät­te der Text nie in einer ande­ren Spra­che vor­ge­le­gen, stößt bei einem Roman wie Käl­te an sei­ne Gren­zen. Denn Käl­te erzählt mit sei­nem weit gereis­ten, wenig ver­wur­zel­ten Erzäh­ler vom Fremd­sein – und die­ses Fremd­sein wird zwangs­läu­fig auch sprach­lich erfahr­bar gemacht:

Ich nahm das Ber­dan-Gewehr vom Schlit­ten und lud mei­ne vor­letz­te Patro­ne, weiß selbst nicht, wozu, ver­mut­lich aus der Gewohn­heit, dass der Mensch ein Feind ist, beson­ders der Aus­län­der, der Inost­ran­jetz. Bin ja selbst Inost­ran­jetz, über­all, mein gan­zes Leben […]  Und seit jener Zeit – immer Inost­ran­jetz. Einer aus ande­ren Gegen­den. Aus frem­den Ländern.


In Käl­te ent­steht das Ver­ste­hen oft aus der Hand­lung selbst. Die Cho­lod­ser wer­den nicht nur beschrie­ben, son­dern defi­nie­ren sich durch ihr Tun. Gleich­zei­tig trifft Widuch immer wie­der auf Frem­de, denen er bruch­stück­haft sei­ne Geschich­te erzählt. Dadurch las­sen sich ein­zel­ne Strän­ge aus der Ver­gan­gen­heit auf­grei­fen und in die nicht­li­nea­re Erzähl­wei­se einordnen. 

Hin­zu kommt, dass weder Autor noch Über­set­zer ihr Publi­kum (in Käl­te wird kon­se­quent eine „nicht exis­tie­ren­de“ Lese­rin ange­spro­chen) unter­schät­zen. Im Gegen­teil: Es scheint vor­aus­ge­setzt zu wer­den, dass auf­merk­sa­me Lese­rin­nen und Leser die zahl­rei­chen Anspie­lun­gen und his­to­ri­schen Begrif­fe eher als Her­aus­for­de­rung denn als Hür­de begrei­fen. Wer wenig über den rus­si­schen Nor­den weiß, wird spä­tes­tens bei den ein­dring­li­chen Schil­de­run­gen von Flo­ra und Fau­na ins Goo­geln gera­ten – oder all das über­le­sen und sich ein­fach von der Span­nung bis zum Ende mit­rei­ßen las­sen. Es erweist sich ange­sichts der sprach­li­chen und inhalt­li­chen Dich­te des Tex­tes als Vor­teil, dass Twar­doch ein Autor ist, der die Stär­ken eines gut kon­stru­ier­ten, wenn auch nicht immer völ­lig rea­lis­ti­schen Plots zu schät­zen weiß.

Rein lexi­ka­lisch anspruchs­voll sind vor allem die zahl­rei­chen tech­nisch-his­to­ri­schen Begrif­fe, ins­be­son­de­re aus der Nau­tik – schließ­lich war Widuch Matro­se bei der Hoch­see­flot­te und auch der Erzäh­ler der Rah­men­hand­lung fin­det sich auf einem Boot wie­der: „In der Zeit pas­sier­ten wir das Sør­kapp und setz­ten die Isbjørn auf Kurs 70. Es weh­te west­li­cher Wind von zehn, zwölf bis zwan­zig Kno­ten Stär­ke, der Wel­len­gang war mäßig, wir segel­ten mit dem Back­stag und mach­ten gute sie­ben, spä­ter auch acht Kno­ten mit einer Leich­tig­keit, die ich von einer stäh­ler­nen Jacht mit ihren fünf­zig Fuß nicht erwar­tet hät­te“. Doch auch in ande­ren Berei­chen begeg­net man Fach­ter­mi­ni. Waf­fen wie das „Drei­li­ni­en­ge­wehr vom Sys­tem Mosin“ oder das „Ber­dan-Gewehr“ erwei­sen sich im Nie­mands­land als wert­voll, denn die trü­ge­ri­sche Idyl­le in Chlod endet abrupt, als ein „Aero­plan“ vom „Typ Poli­kar­pow R‑5“ über die Sied­lung fliegt.

Am Ende steht und fällt die­ser Roman – eben­so wie sei­ne Über­set­zung – mit der Kraft sei­ner Erzähl­stim­me. Widuch ist eine viel­schich­ti­ge, wider­sprüch­li­che Figur, die sich erst nach und nach wie ein Puz­zle über die 400 Sei­ten zusam­men­setzt. Und doch bleibt das Gefühl, dass ein Teil fehlt. Mal ist er unge­dul­dig und rau, nennt sich selbst „dumm“ und ein „Mist­stück“, dann wie­der beglei­tet ihn ein tro­cke­ner Gal­gen­hu­mor, wenn er auf sei­ne Erfah­run­gen zurück­blickt. Mit­un­ter nimmt er eine distan­zier­te Hal­tung ein. Genau die­se Ambi­va­lenz macht ihn als Erzäh­ler so fes­selnd. Und egal, was ihn gera­de umtreibt – der Ton sitzt.

An einer Stel­le des Romans fragt sich Widuch, war­um er die­se Flucht über­haupt noch auf sich nimmt. Ange­sichts des hohen Ver­schlei­ßes an Figu­ren ist es tat­säch­lich ein Wun­der, dass er noch lebt. In sol­chen Momen­ten wird am deut­lichs­ten, dass Widuch letzt­lich ein sen­ti­men­ta­ler ver­an­lag­ter Mensch ist – einer, der eigent­lich das „Rich­ti­ge“ tun will, einer, den das Leben trotz all dem Schlech­ten, was ihm auf der Flucht begeg­net, fas­zi­niert. Doch im Hin­ter­grund lau­ert das gro­ße Russ­land, das Widuch unauf­hör­lich ver­folgt. In Twar­dochs unheim­li­chen Roman und Olaf Kühls unheim­lich guter Über­set­zung dürf­te sich jene Panik aus­brei­ten, die vie­le in Euro­pa tei­len. Genau das macht Käl­te – ein eigent­lich zeit­lo­ses Buch, das man jeder­zeit und über­all lesen könn­te – zu einem bedeu­ten­den Roman unse­rer Gegenwart:

Lieb­lings­stel­le

Ihr seid weni­ge. Und sie sind vie­le. Und Russ­land, wenn es sich ergießt, ist wie eine Spring­flut, wie die­se gro­ßen Wogen im Meer, die auf­kom­men, wenn der Glet­scher kalbt, wenn ein Berg vom Eis abbricht und ins Meer fällt und die Bran­dung am Strand auf­steht zu einer Was­ser­wand und anstürmt und weg­fegt, um sich dann zurück­zu­zie­hen und die Boo­te vom Ufer mit­zu­rei­ßen, trock­nen­de Fischer­net­ze, Men­schen, See­hun­de, Göt­ter, wenn ihr sie ans Ufer gestellt habt, alles nimmt sie mit und geht, aber Russ­land ist schlim­mer, denn die Woge zieht sich zurück, aber Russ­land nie­mals. Ver­steht ihr? Wo der Rus­se sei­nen Fuß hin­setzt, dort bleibt er auch.

Anm. d. Red.: Die­ser Bei­trag wur­de ohne Kennt­nis der Ori­gi­nal­spra­che ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.


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