War­um soll­te eine Über­set­zung ‚treu‘ sein?

Übersetzen ist wissenschaftlicher und künstlerischer Akt zugleich, und dabei entschieden humanistisch, schreibt Damion Searls in „The Philosophy of Translation“. Jen Calleja beschäftigt sich ausgehend von der Lektüre mit der Frage, wie sich am besten vermitteln lässt, was Literaturübersetzung ausmacht. Von

Aufgeschlagenes Buch
Übersetzen beginnt damit, dass jemand ein Buch aufschlägt und anfängt zu lesen. Foto: Sheen Photography via Unspash.

Die­ser Text ist am 28. April 2025 in eng­li­scher Spra­che bei Art­Re­view erschie­nen.
Über­set­zung: Sula Tex­tor

Wenn wir ein Kunst­werk betrach­ten oder ein Buch lesen, sehen und lesen wir alle das­sel­be und doch etwas ande­res. Eine ähn­li­che Theo­rie for­mu­lier­te 1921 der Schwei­zer Psy­cho­ana­ly­ti­ker Her­mann Ror­schach, Erfin­der des berühmt-berüch­tig­ten Tin­ten­klecks-Tests. Lesen ist „auf wun­der­sa­me und geheim­nis­vol­le Wei­se weder eine objek­ti­ve noch eine sub­jek­ti­ve Erfah­rung“[1], schreibt der ame­ri­ka­ni­sche Autor und Über­set­zer Dami­on Searls in sei­nem neu­en Buch The Phi­lo­so­phy of Trans­la­ti­on (2017 hat Searls eine Ror­schach-Bio­gra­phie ver­öf­fent­licht). „Weder neh­men wir nur etwas auf, noch zeigt sich nur etwas, drückt sich nur etwas aus, das in uns ist. Lesen ist ein kom­ple­xes Zusam­men­spiel von Selbst und Welt, ana­log zu Wahr­neh­mung – wir sehen, was wirk­lich da ist in der Welt, aber wir sehen es, es ist Teil unse­rer Welt.“

Wenn ich als Über­set­ze­rin ein Gedicht lese und dann über­set­ze, und zehn ande­re das­sel­be Gedicht über­set­zen, dann wird das Ergeb­nis jeweils ein leicht bis radi­kal ande­res sein. Die­ses Ver­ständ­nis von Über­set­zung als eine Form von Inter­pre­ta­ti­on befreit sie von einer der hart­nä­ckigs­ten (und schwam­migs­ten) Erwar­tun­gen von Rezensent*innen, Wissenschaftler*innen und manch­mal von den Autor*innen selbst: dass sie ‚treu‘ sein muss. „Wir spre­chen nie davon, dass Lesen untreu wäre“, schreibt Searls, „weil uns bewusst ist, dass jede Les­art eine Reak­ti­on ist, kei­ne Kopie.“

Wenn jemand eine lite­ra­ri­sche Über­set­zung liest, heißt es oft, er oder sie lese, sagen wir, Han Kang, Olga Tok­ar­c­zuk oder Franz Kaf­ka: die Originalautor*innen selbst. Die Übersetzer*innen[2] (Debo­rah Smith, Anto­nia Lloyd-Jones und Jen­ni­fer Croft sowie Kaf­kas Übersetzter*innen) wer­den durch eine Art Selbst­täu­schung über­gan­gen, weil man­che Leser*innen den Gedan­ken unbe­quem (oder schlicht unin­ter­es­sant) fin­den, dass vor ihnen schon jemand ande­res das Buch gele­sen (und geschrie­ben) hat. Übersetzer*innen lesen ein Buch viel­leicht ein hal­bes Dut­zend Mal oder öfter, wäh­rend sie die Bedeu­tungs­schich­ten jedes Aus­drucks in einer ande­ren Spra­che nach­bil­den, und so den neu­en Text als eigen­stän­di­ges lite­ra­ri­sches Werk erklin­gen las­sen. Übersetzer*innen erle­di­gen die­se Arbeit auf ihre je eige­ne Art – sie ist, mit Searls gespro­chen, zugleich objek­tiv und sub­jek­tiv, Wis­sen­schaft und Kunst. Man­chen mögen das scho­ckie­rend oder schwer ver­dau­lich fin­den, aber eine Über­set­zung ist, in Searls’ Wor­ten, „zugleich das­sel­be wie das Ori­gi­nal und etwas ande­res – sie ist der Weg des*r Übersetzer*in durch das Original.“

Als ich vor über zehn Jah­ren beschloss, Über­set­ze­rin zu wer­den, war mir das alles noch nicht wirk­lich klar. Ange­regt durch ein Modul zu Theo­rie und Pra­xis der Über­set­zung in mei­nem Mas­ter in Ger­man Stu­dies ent­schied ich, dass ich Lite­ra­tur­über­set­ze­rin wer­den woll­te, und mel­de­te mich zu einem ein­wö­chi­gen Inten­siv­kurs an. Im Gepäck hat­te ich mei­ne ‚Über­set­zung‘ eines Gedichts von Paul Celan. Ich set­ze ‚Über­set­zung‘ in her­ab­wür­di­gen­de Anfüh­rungs­zei­chen, weil das, was ich her­vor­ge­bracht hat­te, über­haupt kei­ne Über­set­zung war. Ich hat­te das Gedicht aus einer Antho­lo­gie aus­ge­sucht und mich dann, nach einem flüch­ti­gen Lese­durch­gang, hin­ge­setzt und es mit­hil­fe eines Online­wör­ter­buchs durch­ge­ar­bei­tet, nahm die Zei­len wört­lich und über­setz­te sie, ohne zu ver­ste­hen, was sie zusam­men­hielt oder was sich hin­ter ihnen ver­barg. „Um ein Gedicht zu über­set­zen“, sag­te eine der Kurs­lei­te­rin­nen zu mir, „musst du es gründ­lich lesen.“ Eine ande­re sag­te mir, „eine Geschich­te über­set­zen heißt, eine Geschich­te schreiben.“

In The Phi­lo­so­phy of Trans­la­ti­on, einem breit ange­leg­ten, schwer ein­zu­ord­nen­den Buch, das Essays mit prak­ti­schen Bei­spie­len aus sei­nen eige­nen Über­set­zun­gen von Wer­ken so unter­schied­li­cher Autoren wie dem zeit­ge­nös­si­schen nor­we­gi­schen Schrift­stel­ler Jon Fos­se (der 2023 mit dem Nobel­preis für Lite­ra­tur aus­ge­zeich­net wur­de), dem Phi­lo­so­phen Lud­wig Witt­gen­stein und dem Dich­ter Rai­ner Maria Ril­ke kom­bi­niert, berich­tet Dami­on Searls von einer ähn­li­chen Erfah­rung. Auf den ers­ten Sei­ten des Buches lesen wir von sei­nem früh auf­kei­men­den Inter­es­se am Über­set­zen und davon, wie das Feed­back einer Freun­din der Fami­lie, Edie (die sich spä­ter – Über­ra­schung! – als Edith Gross­man ent­puppt, die welt­be­kann­te Cer­van­tes- und Gar­cía Már­quez-Über­set­ze­rin und Autorin des 2010 erschie­nen Buches Why Trans­la­ti­on Mat­ters), ihm zu der Erkennt­nis ver­hilft, dass er noch so sehr an sei­nem Deutsch arbei­ten kann − wenn er Über­set­zer wer­den will, kommt es auf sei­ne Fähig­keit an, Tex­te genau zu lesen und selbst auf Eng­lisch krea­tiv zu schrei­ben. Von Anfang an lässt Searls uns Lite­ra­tur­über­set­zung als eine Lese- und Schreib­pra­xis denken.

Die eng­li­sche Autorin und Über­set­ze­rin Kate Briggs fasst lite­ra­ri­sches Über­set­zen in ihrem Essay This Litt­le Art (ins Deut­sche über­setzt von Sabi­ne Voß, Anm. d. Übers.) im Impe­ra­tiv, als etwas, das man ein­fach machen müs­se – „Do Trans­la­ti­ons!“. Weder Searls noch Briggs stel­len die Kunst der Über­set­zung dabei ver­ein­facht dar; und gera­de die­ses Über­set­zen des Über­set­zens lässt Leser*innen und zukünf­ti­ge Übersetzer*innen ver­ste­hen, dass Über­set­zen heißt, eine Geschich­te zunächst zu lesen und dann zu ver­su­chen, sie neu zu schrei­ben. Die Demys­ti­fi­zie­rung von Über­set­zung als Form von Empower­ment fin­det sich in vie­len der jüngst erschie­nen Bücher von Literaturübersetzer*innen über das Über­set­zen: Mark Poliz­zot­tis Sym­pa­thy for the Trai­tor (2018), Cat­ching Fire von Dani­el Hahn (2022), Trans­la­ti­on as Trans­hu­mance von Mireil­le Gan­sel (2014), über­setzt von Ros Schwartz (ins Eng­li­sche; ins Deut­sche über­setzt unter dem Titel Über­set­zen als Wei­ter­zie­hen von Maria Weber und Fabi­an Gre­go­ri, Anm. d. Übers.). Über­set­zun­gen sind in die­sen Büchern nicht mono­li­thisch, son­dern herr­lich viel­stim­mig, wer­den ver­spielt und rät­sel­haft, und Über­set­zen als Pra­xis wird ganz radi­kal als pri­mär huma­nis­ti­sches Unter­fan­gen verstanden.

Searls schlägt Leser*innen in sei­ner Ein­lei­tung einen Choo­se-Your-Own-Adven­ture-Weg durch sein in zwei Hälf­ten geteil­tes Buch vor, indem er ihnen anbie­tet, 100 Sei­ten vor­zu­sprin­gen und das Buch von hin­ten nach vor­ne zu lesen. Wäh­rend es in der ers­ten, theo­rie­las­ti­gen Hälf­te um eine Phi­lo­so­phie der Über­set­zung geht (daher auch der Titel), ist die zwei­te vol­ler kon­kre­ter Bei­spie­le aus Searls’ Arbeit als Über­set­zer. Stel­len­wei­se war ich irri­tiert, wie­viel Raum dem Abriss einer Geschich­te der Über­set­zung und phä­no­me­no­lo­gi­schen Aus­füh­run­gen ein­gangs zuge­stan­den wird (ja, trotz des Titels). Wäh­rend die übli­chen Ver­däch­ti­gen der Über­set­zungs­wis­sen­schaft wie Fried­rich Schlei­er­ma­cher und Law­rence Venuti abge­han­delt wer­den, und die Ety­mo­lo­gie des Wor­tes Über­set­zung auf­ge­drö­selt wird, hat­te ich den Ein­druck, dass das Buch sich zumin­dest in Tei­len aus­schließ­lich an Linguist*innen und Student*innen der Über­set­zungs­wis­sen­schaft rich­tet. Von sei­ner „palim­psesthaf­ten Geschich­te“ der Über­set­zung gibt Searls frus­trie­ren­der­wei­se selbst zu, wel­che gedank­li­chen Wider­sprü­che sie auf­wirft, geht aber nicht näher dar­auf ein, denn es „hilft uns nicht wirk­lich, sie auf­zu­lö­sen“. Viel davon lese ich nicht zum ers­ten Mal, und gleich­zei­tig kann ich mir vor­stel­len, dass es für Leser*innen, die mit die­sen Denk­schu­len noch nicht ver­traut sind, eine Hür­de dar­stellt – oder den Anstoß, ans Ende zu sprin­gen. Lesen ist eben sub­jek­tiv, wie Searls nur zu gut weiß. 

Was ich mir gewünscht hät­te, wäre mehr Searls, mehr von dem Humor und dem Gefühl, die sich manch­mal in sein Schrei­ben schlei­chen, aber nur sel­ten an die Ober­flä­che drin­gen. Searls führt zwar ein paar Über­set­zungs­pro­ble­me aus sei­ner eige­nen Arbeit vor, ich hät­te mir aber durch­gän­gig mehr davon gewünscht. Statt zu wie­der­ho­len, was bereits an Abs­trak­tem über Geschich­te und Theo­rie der Über­set­zung gesagt wor­den ist, soll­ten sich die vie­len der­zeit erschei­nen­den Tex­te von Übersetzer*innen über das Über­set­zen bes­ser auf sol­che kon­kre­ten Details und Beson­der­hei­ten kon­zen­trie­ren. Denn Leser*innen und Autor*innen kön­nen sich viel­leicht bes­ser in Übersetzer*innen hin­ein­ver­set­zen, wenn wir ihnen zei­gen, was wir eigent­lich genau machen, und dass Über­set­zen letzt­lich auch aus Lesen und Schrei­ben besteht. Immer wenn wir lesen, egal ob in unse­rer eige­nen oder einer frem­den Spra­che, müs­sen wir uns erst lang­sam dar­an gewöh­nen, wie ein*e Autor*in schreibt, so Searls; wir müs­sen deren Spra­che ler­nen, nicht nur deren Spra­che. Um das Inter­es­se von Leser*innen an und ihr Ver­ständ­nis von lite­ra­ri­scher Über­set­zung zu stär­ken, soll­ten Betrach­tun­gen zum Über­set­zen sich nicht auf theo­re­ti­sche, son­dern auf prak­ti­sche und erfah­rungs­be­zo­ge­ne Aspek­te fokus­sie­ren, dar­auf, was für ein sen­si­bler und auf­re­gen­der Pro­zess Über­set­zen ist. Sie soll­ten vor allem zei­gen, wie wir ein Buch auf­schla­gen; die ver­schie­de­nen Her­an­ge­hens­wei­sen; geschei­ter­te ers­te Ver­su­che; Stift und Papier griff­be­reit; ein Herz, das plötz­lich schnel­ler schlägt.


[1] Dami­on Searl’s The Phi­lo­so­phy of Trans­la­ti­on liegt nicht auf Deutsch vor; alle Zita­te wur­den für die­sen Text über­setzt. Anm. d. Ü.

[2] Hier für die Über­set­zun­gen ins Eng­li­sche, Anm. d. Übers.

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