
Ganze 72 Jahre lang herrschte Ludwig XIV., auch bekannt als „Sonnenkönig“, über Frankreich. Bei seinem Tod im Jahre 1715 hatte sich sein Einfluss weit über das eigene Land hinaus ausgedehnt: Von der Architektur über die Gartengestaltung bis hin zur Kleidung ahmte man die an seinem Hof herrschende Mode nach. Neben Musikern wie Lully und François II. Couperin („Le Grand“) förderte Ludwig XIV. auch zahlreiche Schriftsteller. Komödie wie Tragödie erlebten mit Molière beziehungsweise Corneille und Racine ihre Blütezeit.
Während diese Autoren sich an Vorbildern orientieren konnten, handelt es sich beim Roman der französischen Klassik um eine Neuerfindung. Der heroisch-galante Roman des Barock war ausschweifend, spielte in der fernen Vergangenheit (so wie die Autor:innen sie sich vorstellten) und beschrieb zahlreiche unwahrscheinliche Abenteuer zu Wasser und zu Lande. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts orientierte man sich dann an der Gattung der Novelle, fasste sich deutlich kürzer, ließ französische Figuren auftreten und strebte danach, die Dinge (innerhalb der Grenzen der Schicklichkeit) wirklichkeitsgetreu darzustellen. Literaturwissenschaftler:innen verorten hier die Geburtsstunde des modernen Romans.
Typisch für den Roman der Epoche sind Dreieckskonstellationen, die dadurch zustande kommen, dass ein Mann und eine Frau heiraten, ohne dass letztere bereits weiß, was es bedeutet, zu lieben. Dieses Wissen erlangt sie erst dadurch, dass ein weiterer Mann hinzu kommt, was zu seelischen Konflikten führt. Als Höhepunkt der Romanproduktion der Epoche werden die Romane der Madame de Lafayette bezeichnet, geboren 1634 als Marie-Madeleine Pioche de la Vergne, Vertraute von Henriette d’Angleterre, der Schwägerin des Königs, und bekannt für ihren Salon, in dem sich prominente Schriftsteller versammelten. Mit ihrem Zeitgenossen Racine verbindet sie die Auffassung von Liebe als zerstörerische Kraft, die Eifersucht hervorbringt, das Motiv der Entsagung sowie die jansenistische Ansicht, dass nicht jeder auserwählt ist und der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann.
Der ihr zugeschriebene Roman La Princesse de Clèves erschien 1678 ohne Namensnennung. Der Wunsch nach Anonymität war damals für eine vornehme Dame mit guten Beziehungen zum Hof nachvollziehbar – öffentlich als Autorin von Liebesromanen aufzutreten, hätte ihrem Ruf geschadet –, doch die Fachwelt ist sich nicht einig, ob Madame de Lafayette das Werk tatsächlich selbst verfasst hat. Einige, wie zum Beispiel der Romanist Jürgen von Stackelberg, sehen ihren guten Freund Jean-Regnault de Segrais in dieser Rolle und sie lediglich als Ideengeberin. Fest steht, dass verschiedene im Salon verkehrende Personen an der Entstehung beteiligt waren, darunter auch der Aphoristiker François de La Rochefoucauld.
Die Kritik, die La Princesse de Clèves an der höfischen Gesellschaft übt, war wohl ein weiterer Grund für die anonyme Veröffentlichung. Zwar spielt der Roman über 100 Jahre vor seiner Entstehungszeit, doch Eitelkeit, Liebeshändel und Intrigen prägten auch während der Regentschaft Ludwigs XIV. den Alltag. Reale Personen und Ereignisse bilden den Rahmen des Romans – Heinrich II. starb tatsächlich 1559 an den Folgen einer Turnierverletzung und seine Frau Katharina von Medici sowie seine langjährige Geliebte Diana von Poitiers treten ebenso auf wie seine Schwiegertochter Maria Stuart. Hauptgegenstand des Romans, dessen Handlung sich schnell zusammenfassen lässt, ist die Analyse der Leidenschaften der auftretenden Personen; mehr noch als um einen historischen handelt es sich um einen psychologischen Roman.
Die Titelheldin trägt zu Beginn noch den Namen Mademoiselle de Chartres. Sie wurde von ihrer Mutter fern vom Hof erzogen und ausdrücklich vor den schlechten Sitten und der Heuchelei gewarnt, die dort herrschen. Als sie am Hof erscheint, sind alle von ihrer Anmut und Bescheidenheit angetan; ein Monsieur de Clèves gewinnt ihre Hand. Sie achtet ihn, liebt ihn jedoch nicht, worunter er leidet. Als der für seine zahlreichen Eroberungen bekannte Monsieur de Nemours nach längerer Abwesenheit an den Hof zurückkehrt, geschieht sowohl mit ihm als auch mit der jungen Frau etwas: Sie liebt zum ersten Mal, er interessiert sich zum ersten Mal für nur eine Frau. Madame de Chartres bemerkt die Neigung ihrer Tochter und warnt sie auf ihrem Sterbebett ausdrücklich davor, ihr nachzugeben. Diese zieht sich zunehmend von der Gesellschaft zurück. Als ihr Mann sie auf dieses seltsame Verhalten anspricht, gesteht sie ihm, Gefühle für einen anderen zu haben, nennt jedoch seinen Namen nicht.
Was beide nicht ahnen: Monsieur de Nemours hat das Gespräch belauscht und errät, dass er gemeint ist. Monsieur de Clèves errät dies mit der Zeit ebenfalls, hält aber das Verhältnis der beiden für enger, als es tatsächlich ist. Nachdem seine Eifersucht ihn ins Grab gebracht hat, macht Monsieur de Nemours der Witwe einen Heiratsantrag, den sie ablehnt. Sie zieht sich völlig vom Hof zurück und stirbt jung.
Die Figuren des Romans versuchen vielfach, die eigenen Gefühle oder Taten zu verbergen, was jedoch nicht immer funktioniert, da jeder jeden beobachtet und in Erfahrung gebrachte Geheimnisse sofort weitererzählt werden. Eifersucht hindert die handelnden Personen daran, die Dinge rational zu betrachten und macht sie anfällig für Irrtümer. Hinzu kommen Zufälle, die der Handlung eine Wendung geben. Das Normbewusstsein von Madame de Clèves ist einerseits stark genug, damit sie sich ihrer Gefühle schämt, andererseits zu schwach, um sie diese Gefühle unterdrücken zu lassen – so beschreibt es Fritz Peter Kirsch in seinem Überblick Epochen des französischen Romans.
Sie handelt inkonsequent und befindet sich in einer ausweglosen Situation. Häufig versucht sie, Dinge dadurch zu erreichen, dass sie etwas nicht tut. Dies spiegelt sich in der Sprache des Romans wider. Die Litotes, die Bejahung durch Verneinung des Gegenteils, wird sehr häufig verwendet. Ebenso auffällig ist die indirekte Kommunikation – Dinge werden häufig angedeutet statt klar ausgesprochen. Auf diese Besonderheiten muss sich auch eine Übersetzung einlassen. Eine weitere Herausforderung stellt die uns fremde höfische Lebenswelt mit all ihren Gebräuchen und Vergnügungen dar. Die handelnden Personen sind größtenteils real, weswegen es unabdingbar ist, sich mit dem geschichtlichen Hintergrund vertraut zu machen.
La Princesse de Clèves wurde bereits im 18. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übertragen. Die Übersetzung von Friedrich Schulz aus dem Jahr 1790 ist auf Amazon bei zwei verschiedenen Herausgebern sowohl in Papierform als auch als E‑Book erhältlich. Dabei stellt das E‑Book aus der Reihe RUTHeBooks Klassiker mit einem Preis von 99 Cent die günstigste Möglichkeit dar, den Roman kennenzulernen. Ratsamer ist selbstverständlich eine Übersetzung neueren Datums. Für diesen Artikel wurden die folgenden neu oder antiquarisch in Papierform erhältlichen Übersetzungen aus dem 20. und 21. Jahrhundert berücksichtigt:
- Paul Hansmann, in einer Überarbeitung veröffentlicht 1986 von der Harenberg Kommunikation Verlags- und Mediengesellschaft Dortmund. Die ursprüngliche Übersetzung erschien 1913 im Georg Müller Verlag München. Hansmann lebte von 1882 bis 1936 und war auch als Theaterdichter tätig.
- Hans Broemser, veröffentlicht 1948 im Matthias-Grünewald-Verlag Mainz. Wer er war, ist nicht mehr herauszufinden, jedoch erschienen im gleichen Verlag bis 1963 noch weitere Übersetzungen aus dem Französischen von ihm, hauptsächlich von theologischen Werken.
- Ferdinand Hardekopf, erschienen 2011 als überarbeitete Neuausgabe im Manesse Verlag Zürich. Hardekopf lebte von 1876 bis 1954 und war als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen tätig. Die erste Fassung der Übersetzung wurde 1957 im gleichen Verlag veröffentlicht – offensichtlich posthum. Ein Vergleich der Fassungen untereinander zeigt, dass die Änderungen lediglich die Wahl einzelner Wörter sowie die Rechtschreibung (z. B. daß/dass) betreffen.
- Julia (Marianne) Kirchner, erschienen 1967 im Insel Verlag Frankfurt am Main. Über die Übersetzerin ist bekannt, dass sie 1937 geboren wurde und sich auch italienischer Literatur widmete, vor allem Werken von Italo Calvino.
- Eva und Gerhard Hess, erschienen 1983 bei Reclam. Beide gemeinsam hatten bereits 1946 bei der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Mainz eine Übersetzung veröffentlicht. Mit Reclam wurde ein Vertrag über eine neue Übersetzung geschlossen. Gerhard Hess (1907−1983) ist als Romanist und Übersetzer aus dem Französischen bekannt. Eva Hess war vermutlich seine Frau.
Wie soll man diesen Text aus dem 17. Jahrhundert für Leser:innen des 20. Jahrhunderts übersetzen? Diese Frage stellt sich bereits beim Titel. Die Hauptperson wird in allen deutschen Fassungen als „Prinzessin“ bezeichnet. Auch der Titel „Fürstin“ wäre denkbar gewesen und hätte weniger an eine Königstochter denken lassen − man denke an die Abhandlung Il Principe von Nicolò Machiavelli, die hierzulande unter dem Titel Der Fürst bekannt ist. Und welche Stadt führt das unglückliche Ehepaar da eigentlich im Namen? Wer sie auf der Landkarte sucht, wird in Deutschland fündig: Kleve liegt in Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu den Niederlanden. Die bis 1935 übliche Schreibweise „Cleve“ findet sich bei Hansmann und Broemser – die drei anderen Übersetzungen sind mit Die Prinzessin von Clèves betitelt.
Der Roman beginnt mit einer Beschreibung des Lebens am französischen Königshof in den 50er-Jahren des 16. Jahrhunderts und einer Vorstellung aller Figuren, die im Folgenden eine Rolle spielen werden. Antoine Adam bezeichnet in seiner Einleitung zur französischen Ausgabe von 1966 die ersten Seiten als „abschreckend für den modernen Leser“, zumal die Personen recht stereotypisch beschrieben werden. Auf die zeitgenössische Leserschaft muss der Einstieg anders gewirkt haben; möglicherweise weckte das Heraufbeschwören vergangener Zeiten Sehnsüchte. Schauen wir uns die ersten Sätze an:
Bei der Überarbeitung der Übersetzung von Hansmann hat man einige Fehler übernommen. Nicht seit zehn, sondern seit zwanzig Jahren liebt der König die Herzogin. Warum „parties de chasse“ mit „Reitspiele“ statt mit „Jagdpartien“ übersetzt wurde, ist schwer nachvollziehbar. Was den Vergleich der Herzogin mit ihrer Enkelin betrifft, geht auch Broemser in eine falsche Richtung: Im Original steht, die Ältere kleide sich so, wie es für die Jüngere angemessen wäre. Bei Hess und Hess schmücken sich tatsächlich beide – ob die Enkelin es tatsächlich tut, lassen sowohl Hardekopf als auch Kirchner ebenso offen wie Madame de Lafayette.
In Bezug auf das „jeu de paume“ ist der Vergleich mit der älteren Fassung von Hardekopf interessant. Dort ist von „Rakettballspielen“ die Rede, eine Wortwahl, die vor dem geistigen Auge der Lesenden eher das Gemeinte erscheinen lässt als die unbestimmten „Ballspiele“: Es handelt sich um einen Vorläufer des heutigen Tennis (hier eine in die Zeit passende Illustration). Der Überbegriff für all die Lieblingsbeschäftigungen des Königs lautet im Original „exercices du corps“.
Broemsers Übersetzung „Leibesübung“ wirkt sehr altmodisch, da man als deutsches Äquivalent für „corps“ heute das Wort „Körper“ verwendet (auch seine Übersetzung von „paraître“ mit „blühen“ ganz am Anfang sticht als etwas schwülstig hervor). Auffällig ist auch Kirchners Entscheidung für „ritterliche Übungen“; sie passt jedoch zur „höfischen Geselligkeit“ aus ihrem ersten Satz. Beide Adjektive finden sich auch in anderen Übersetzungen des Romananfangs, wenn auch an anderen Stellen. Den Parallelismus von „pas moins“ im zweiten Satz behalten mit „nicht minder“ / „nicht weniger“ (bzw. umgekehrt) nur Kirchner sowie Hess und Hess bei. Hardekopf hebt die Stelle auf eine andere Weise hervor, nämlich durch die Kombination des Substantivs „Feuer“ mit dem sinnverwandten Adjektiv „glühend“.
Als Beispiel für die indirekte Kommunikation, bei der die Dinge nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet werden, soll ein Auszug aus einer längeren Passage dienen. Monsieur de Nemours hat es geschafft, mit Madame de Clèves allein zu sein. Bis vor Kurzem hat er noch um die Hand der Königin von England geworben – nun zeigt er kein Interesse mehr an ihr und scheint insgesamt stark verändert, was allen am Hof auffällt. Genau zu diesem Thema äußert er sich …
Hansmann hat die Formulierung „qui ne les regardent point“ möglicherweise als „qu’elles ne regardent point“ missverstanden. Seine Lösung „die sie gar nicht beachten“ ist schwer nachvollziehbar. Ebenso wie Broemser übersetzt er „acheter“ wörtlich mit „kaufen“, was nach Supermarkt klingt; die jüngeren Übersetzungen „erkaufen“ oder „gewinnen“ sind eleganter. „Passion“ gibt Hansmann mit „Liebe“ wieder, was zu einer unnötigen Häufung im Deutschen führt, da ja noch das zweimal verwendete Verb „aimer“ zu übersetzen ist. Die anderen Übersetzer haben sich entweder für die wörtliche Lösung „Leidenschaft“ oder für „Neigung“ entschieden. Broemser ist noch einen anderen Weg gegangen, indem er den Satz gekürzt hat. Dies erleichtert das Verständnis, lässt den verliebten Nemours aber schneller zum Punkt kommen, als er es im Original tut.
Auffällig sind zwei Punkte in der Übersetzung von Hardekopf: „Den Beweis erbringen“ impliziert, es habe bereits ein Gespräch zwischen dem Liebenden und der Geliebten gegeben und sie zweifle an seinen Gefühlen. „Verzicht auf die geliebte Frau“ klingt, als bestehe ein Verhältnis zwischen ihnen – es geht dem Liebenden aber nur darum, die Geliebte sehen zu können. Kirchners Lösung wirkt schlicht und elegant, sie ist gut lesbar, ohne dabei auf Details des Originals zu verzichten.
Die von der zeitgenössischen Leserschaft am heftigsten diskutierte Szene ist diejenige, in der Madame de Clèves ihrem Mann ihre Gefühle für einen anderen gesteht. Ist eine solche Situation realistisch? Tut die Titelheldin das Richtige? Geäußert wurden auch Plagiatsvorwürfe, da in einer 1670 veröffentlichten Novelle von Madame de Villedieu eine sehr ähnliche Szene enthalten ist. Die Idee zu La Princesse de Clèves soll jedoch noch älter sein. Im Folgenden ein Auszug, der wiederum zeigt, dass wichtige Dinge im Roman meist nur angedeutet werden.
Um das französische Substantiv „mari“ ins Deutsche zu übersetzen, existieren verschiedene Möglichkeiten. In den unterschiedlichen Übersetzungen finden wir „Gemahl“, Gatte“, „Ehemann“ und „Mann“, wobei die Wortwahl innerhalb der gleichen Übersetzung wechseln kann. Die deutsche Fassung von Broemser wirkt durch die ausschließliche Verwendung von „Gemahl“ auf die heutige Leserschaft sehr altmodisch und übertrieben feierlich. Durchaus interessant ist dagegen seine Entscheidung, „l’innocence de ma conduite et de mes intentions“ mit „mein tadelloser Wandel und die Unschuld meiner Absichten“ wiederzugeben und „innocence“ somit doppelt zu übersetzen. Sowohl Kirchner als auch Hess und Hess übersetzen das Substantiv wörtlich mit „Unschuld“, Hansmann mit dem Adjektiv „makellos“. Hardekopfs „Untadelhaftigkeit“ wirkt recht sperrig.
Hess und Hess übersetzen „ma conduite et mes intentions“ mit „mein Handeln und mein Wollen“ − nicht ganz unproblematisch (um passend zum Stil des Romans eine Litotes zu verwenden), da in einem der nicht berücksichtigten Sätze von „mes actions“ die Rede ist, was ebenfalls mit „mein Handeln“ wiedergegeben wird. (Kirchner übersetzt „conduite“ zwar auch mit „Handeln“, „actions“ aber mit „Taten“.) Das zum Substantiv „conduite“ gehörige Verb „conduire“ taucht am Ende des Abschnitts auf. Alle Übersetzenden haben sich hier für „leiten“ entschieden. Die Ausnahme ist Hardekopf, der 1957 „führen“ verwendete, woraus in der überarbeiteten Fassung von 2011 „helfen“ wurde.
Hansmann fällt in diesem Abschnitt durch zu wörtliche Lösungen unangenehm auf. „Wie man es noch niemals einem Gatten gemacht hat“ mag ja noch angehen, aber „als irgend jemand hatte“? Auffällig ist auch die Lösung von Hess und Hess für den Begriff „amitié“: Alle anderen Übersetzenden geben dieses Substantiv wörtlich mit „Freundschaft“ wieder. Im Reclam-Büchlein heißt es „Liebe“ − nicht ganz passend, weil Madame de Clèves genau dieses Gefühl innerhalb ihrer Ehe niemals empfunden hat. „Zuneigung“ wäre vielleicht noch eine Option gewesen …? Von einzelnen Details abgesehen werden die drei jüngeren Übersetzungen hier dem Original gerecht und sind gut lesbar.
Erst zehn Seiten vor Schluss des Romans kommt es zum ersten offenen Gespräch zwischen Madame de Clèves und Monsieur de Nemours. Sie versucht nicht länger, ihre Gefühle zu verbergen; er gesteht, dass er gelauscht hat, als sie ihrem Mann von diesen Gefühlen erzählte. Objektiv gesehen stünde einer Ehe zwischen den beiden nichts im Wege, sie lehnt seinen Antrag jedoch ab. Nur weil sie bereits entschlossen ist, ihn nie wieder zu sehen, ist sie zu dem Gespräch bereit. Auf der einen Seite sind es „Gründe der Pflicht“, die die Titelheldin dazu bewegen, sich von Monsieur de Nemours und der Gesellschaft insgesamt zurückzuziehen: Schon ihre Mutter hat sie vor ihm gewarnt und ihr Mann ging davon aus, dass sie, einmal Witwe geworden, ihren Geliebten heiraten werde – eine Prophezeiung, die sich nicht erfüllen soll. Auf der anderen befürchtet sie, mit ihm unglücklich zu werden. Aus dem folgenden Auszug wird deutlich, was in ihr vorgeht:
Am wenigsten gelungen wirkt wiederum die Übersetzung von Hansmann, die kleine Fehler enthält und umständlich formuliert. Broemser hat sich auch hier für eine Kürzung entschieden, wobei die wesentlichen Informationen erhalten bleiben. Das Verb „animer“ gibt er ebenso wie Hardekopf mit „anstacheln“ wieder, was Monsieur de Nemours als Mann dastehen lässt, der auf Eroberungen aus ist – ein Ruf, den er am Hof hatte, bevor er Madame de Clèves traf. Hansmanns Übersetzung „anfeuern“ geht in die gleiche Richtung. Alle drei geben „rebuter“ passend dazu mit „abschrecken“ wieder. Hardekopf baut sogar noch ein „immer wieder“ und ein „immer von Neuem“ ein. In den beiden anderen deutschen Fassungen erscheint Nemours eher als treuer Liebender. Mit „Treue“ übersetzen Hess und Hess das französische „constance“ (das alle anderen wörtlich mit „Beständigkeit“ wiedergeben).
Welche Übersetzung sollen des Französischen nicht mächtige nun lesen? Von den beiden ältesten ist abzuraten. Hansmann macht diverse Fehler und sein Text wirkt heute ebenso wie der von Broemser altmodisch. Die 2011 überarbeitete Übersetzung von Hardekopf ist mit 19,95 € die teuerste (und bietet die ausführlichsten Anmerkungen, die dabei helfen, sich unter all den historischen Personen zurechtzufinden). Die Fassungen von Kirchner oder Hess und Hess sind aber genauso gut lesbar. Da alle drei bereits ein wenig in die Jahre gekommen sind und einige Stellen enthalten, die nicht ganz optimal gelöst sind, würde sich auch eine Neuübersetzung des Klassikers lohnen. Die Beschreibung der Gemütszustände der Figuren ist heute noch ebenso fesselnd wie vor fast 350 Jahren. Auch Tratsch und Heuchelei sind zeitlose Themen.