
Der erste Satz des Vorworts kündigt an: Was jetzt kommt, ist „spektakulär“. Und das ist nicht zu viel versprochen. Fair: The Life-Art of Translation der britischen Literaturübersetzerin Jen Calleja, gerade bei prototype press erschienen, ist Essay über das Übersetzen, ist Autobiographie einer Übersetzerin, und ist Spektakel. Mit Fair betreten wir eine ebensolche, eine fiktive „fair“, das heißt eine Messe, Buchmesse vor allem, die aber zugleich Jahrmarkt ist, Vergnügungspark, Abenteuerspielplatz und Pop-up-Theater. Genaugenommen handelt es sich um „a Translation Fair“ („eine Übersetzungsmesse“) und „a Translator Fair“ („eine Übersetzer*innenmesse“). Jen Callejas Rolle bei dieser Messe ist eine dreifache: Sie ist Gegenstand und Thema, sie ist Organisatorin und Kuratorin, und sie ist unsere Tour-Guide. Klingt abstrakt? Verwirrend? Abstrakt ist hier nichts, im Gegenteil: Die Kapitel des Buches könnten konkreter und anschaulicher kaum sein. Und verwirrend, naja, dafür haben wir ja unseren Guide.
Als Übersetzerin hat Jen Calleja naturgemäß viel Zeit auf Buchmessen verbracht, insbesondere in London und Frankfurt, da sie aus dem Deutschen übersetzt. Ihre eigene Messe findet nicht in einer Metropole statt, sondern in Hastings, an der englischen Südostküste, wo sie lebt und arbeitet. Für Callejas Messe braucht man zum Glück kein teures Ticket, sie ist auch weitestgehend barrierefrei, das heißt, Fair setzt kaum Vorwissen voraus und kommt gänzlich ohne Fachvokabular aus. Ein Besuch lohnt sich für alle, die sich für Literaturübersetzung interessieren, egal ob mit professioneller Erfahrung in der Buchbranche oder ohne! Außerdem ist diese Messe kein Ufo-Event, sondern eingebunden in lokale Strukturen. Ein Buchhändler aus der Stadt betreut etwa den Buchverkauf im Gift Shop, aber der kommt natürlich erst am Ende. Am Anfang stehen wir vor einem großen Luftballonbogen, gehen hindurch, und schon sind wir mittendrin.
Mit jedem der kurzen Kapitel betreten wir jetzt einen Ort auf der Messe. Der erste ist Stand A1. Hier ist der Arbeitsplatz der Übersetzerin ausgestellt. Ihr Schreibtisch, der Raum, in dem er steht, die Fotos an den Wänden – alles können wir durch Callejas Beschreibung genau betrachten. Wie in einer Erlebnisausstellung können wir kurz in ihre Rolle schlüpfen, während sie uns erzählt, wie sie arbeitet, was sie dafür braucht, wer ihre Auftraggeber sind und was außer der Zeit am Schreibtisch noch Teil ihres Arbeitsalltags ist. Auch die Bücher, die sie gerade übersetzt, sind auf dem Schreibtisch zu sehen. „I should really be working on these projects, this whole fair is one big bout of procrastination“, gesteht Calleja – eigentlich sollte sie daran gerade arbeiten, das ganze Spektakel sei ein einziger Prokrastinationsanfall.
Danach geht es durch eine kleine Tür in eine Besenkammer. Schließlich gehören nicht nur die Schauseiten der Stände und die Attraktionen zu einer Messe. In dieser kleinen Kammer erzählt Jen Calleja uns von dem „Besenkammer“ genannten Raum in ihrer ehemaligen Schule, einer staatlichen Schule, wo sie von engagierten Lehrer*innen einzeln Deutsch- und Französischunterricht bekam, auf ihr eigenes Drängen hin, weil in den höheren Klassen für diese Fächer keine Kurse mehr zustande kamen. Immer wieder tauchen wir in Fair in die Vergangenheit ein, es geht auch um den Weg, der die Übersetzerin in ihren Beruf geführt hat. Alle, die sich für das Leben von Literaturübersetzer*innen nicht interessieren, weil sie meinen, Übersetzen sei ein neutraler, isolierter Akt, lässt sie gleich zu Beginn wissen: Ihre Arbeit und Erfahrung aus den jeweiligen Kontexten zu lösen, kommt ihr völlig sinnlos vor, so sinnlos „like a word or phrase removed from the neutrality of the dictionary and placed unthinkingly into a sentence“ („wie ein unbedacht aus der Neutralität des Wörterbuchs gelöster und in einem Satz platzierter Ausdruck“).
Jen Calleja wächst als Arbeiterkind und, obwohl ihr Vater maltesische und ihre Mutter irische Wurzeln hat, einsprachig auf. Wir erfahren von den Hindernissen, die das für den Weg in eine geistig-künstlerische Tätigkeit bedeutet, durch den erschwerten Zugang zu Schul- und Hochschulausbildung und später zu den Netzwerken der Buchbranche. Als Übersetzerin des Internet- und Social Media-Zeitalters versteht sich Calleja, da Twitter es, zur Hochzeit der Plattform, maßgeblich erleichtert habe, Einblicke in die Branche zu erhalten und Kontakt zu Literaturakteur*innen herzustellen. Wir erfahren aber auch, welche spezifischen Erfahrungen in ihrem Herkunftsumfeld den Wunsch, zu übersetzen, entstehen lassen und stärken – und wie klassenspezifische Erfahrungen und Wissen später besonders wertvoll für ihre Arbeit sind: So sind es zum Beispiel Momente, in denen die spätere Übersetzerin ihrem Vater lauscht, wenn er am Telefon Maltesisch spricht, die eine tiefgreifende Faszination für fremde Sprachen wecken; das Immer-Wieder-Lesen der beschränkten Anzahl verfügbarer Bücher schult eine Form der Lektürekompetenz, die auch beim Literaturübersetzen grundlegend ist; das Leben zwischen unterschiedlichen Regio- und Soziolekten weckt eine Sensibilität für unterschiedliche Sprachen und Sprechweisen und damit verbundene (Lebens)Welten.
Zu den nächsten Stationen auf unserer Tour gehört Stand B9, wo Betten aus dem Leben der Übersetzerin ausgestellt sind. Gelesen wird schließlich oft im Bett. Also tauchen wir ein in diesen intimen Raum und erfahren von ersten Lektüren auf Deutsch, der Faszination über den wachsenden Zugang zu deutschsprachigen Texten, ersten Übersetzungsversuchen bei der Lektüre und der Erfahrung der Inkommensurabilität der beiden Sprachen. Dann machen wir einen großen Sprung. Danach geht es weiter in G5, einem Spiegelkabinett, aka gläsernes Übersetzen, ein beliebtes Format auf Buchmessen, bei dem Übersetzer*innen live und im Dialog übersetzen und so ganz konkrete Einblicke in ihre Arbeit am Text geben. Hier allerdings betreten wir mit dem Spiegelkabinett den Kopf der Übersetzerin, wo verschiedene Stimmen über die Übersetzung des ersten Satzes von Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln streiten und dabei vor Augen führen, wie folgenreich und komplex selbst winzige Entscheidungen für den Gesamttext sein können.
Es folgen Kapitel mit Spielautomaten und Mitmachstationen, Filmscreenings, Paneldiskussionen und Installationen. Außerdem natürlich Imbissbuden und Kaffeeecken. Und ein Modell von Callejas „Translator Dreamhouse“ kann besichtigt werden. Wir hoffen mit der jüngeren Jen auf interessante Übersetzungsaufträge, bangen mit, wenn nach abgelieferter Arbeit ausstehende Honorarzahlung nicht auf dem Konto eingehen. Wir fahren mit auf der Übersetzerinnenlebenachterbahn. Wir lesen von Rückschlägen, Zweifeln, Solidarität und Unterstützung, Begegnungen mit Autor*innen und Kolleg*innen, von Fehlern zum Draus-Lernen und Fehlern, die sich letztlich als Gewinn entpuppen. Dabei geht es um die Arbeitsbedingungen von Übersetzer*innen, um die Literaturbranche als soziales Gefüge, um die Beziehung zwischen Autor*in und Übersetzer*in, Fragen von Legitimität und Identität – genau wie um die großen Fragen der Übersetzungswissenschaft: Was passiert beim Übersetzen? Wie verhält sich eine Übersetzung zum Ausgangstext? Was macht eine gute Übersetzung aus? Nur dass hier nichts theoretisch bleibt, sondern alles erlebbar wird. Immer entwickelt Jen Calleja ihre Gedanken zu diesen Fragen ausgehend von einer konkreten Erfahrung, einer konkreten Situation oder Textbeispielen, immer machen sie sich auf der Tour durch Fair an einem Element des bunten Treibens fest.
Manche Elemente des Messespektakels kommen zunächst als Metaphern daher: Etwa die Torten beim Tortenwerfen mit der Übersetzerin als Zielscheibe, jede Torte eine Anschuldigung, ein Vorwurf, den sie sich bei einem Veranstaltungspanel gefallen lassen musste. Oder das Sprechen und die Handarbeit der demenzkranken Mutter. Oder ein Karaoke-Networking-Event. Aber in ihrer Performativität befreien sich die Torten, das Stricken und das Karaoke aus ihrem Metapherndasein. Frei nach Ursula le Guin, die mit folgender Aussage zum Übersetzen zitiert wird: „The metaphors all self-destruct!“
Nicht Lust an der Selbstentblößung ist Motor dieser großen, Text gewordenen Show: Fair ist eine großzügige Geste, ein mutig angebotener Erfahrungsschatz, ein Plädoyer für faire Arbeitsbedingungen (ja, natürlich geht es auch um Fairness) und größere Wertschätzung für eine unersetzbare Kunst.
Und wie das mit Messen so ist: Die Zeit vergeht wie im Flug. Schon kommt die Durchsage, die uns bittet, uns zu den Ausgängen zu bewegen. Jen Calleja bietet uns mehrere Ausgangsoptionen an, jeder davon richtungsweisend… Davor aber jetzt noch schnell in den Gift Shop. Da gibt es nämlich ein Objekt von Jen Callejas Arbeitsplatz zu kaufen: eine Arbeitsschürze, die man zum Übersetzen zwar eigentlich nicht braucht, die aber dabei hilft, zu unterscheiden, ob man gerade arbeitet oder nicht. Da eine Grenze zu ziehen, ist nämlich manchmal gar nicht so einfach. Und dann fragt bei Arbeiterkindern ja auch noch eine Stimme im Hinterkopf: Ist das überhaupt Arbeit, was du da machst? Geniale Idee, diese Schürze. Obwohl Leben und Arbeit bei Literaturübersetzer*innen immer voneinander durchdrungen sind. Das ist eine Grundprämisse in Fair: The Life-Art of Translation, und daran bleibt beim Verlassen des Geländes wohl kein Zweifel.
