Rein ins Getümmel!

Die Übersetzerin und Autorin Jen Calleja hat ein Buch über Literaturübersetzung geschrieben, wie es anschaulicher kaum sein könnte. „Fair: The Life-Art of Translation“ ist ein Erlebnis. Von

Zu Jen Callejas fiktiver "Translation Fair" gelangt man von Hastings aus mit der Fähre. Hintergrundfoto: Mike Hindle via Unsplash.

Der ers­te Satz des Vor­worts kün­digt an: Was jetzt kommt, ist „spek­ta­ku­lär“. Und das ist nicht zu viel ver­spro­chen. Fair: The Life-Art of Trans­la­ti­on der bri­ti­schen Lite­ra­tur­über­set­ze­rin Jen Cal­le­ja, gera­de bei pro­to­ty­pe press erschie­nen, ist Essay über das Über­set­zen, ist Auto­bio­gra­phie einer Über­set­ze­rin, und ist Spek­ta­kel. Mit Fair betre­ten wir eine eben­sol­che, eine fik­ti­ve „fair“, das heißt eine Mes­se, Buch­mes­se vor allem, die aber zugleich Jahr­markt ist, Ver­gnü­gungs­park, Aben­teu­er­spiel­platz und Pop-up-Thea­ter. Genau­ge­nom­men han­delt es sich um „a Trans­la­ti­on Fair“ („eine Über­set­zungs­mes­se“) und „a Trans­la­tor Fair“ („eine Übersetzer*innenmesse“). Jen Cal­le­jas Rol­le bei die­ser Mes­se ist eine drei­fa­che: Sie ist Gegen­stand und The­ma, sie ist Orga­ni­sa­to­rin und Kura­to­rin, und sie ist unse­re Tour-Gui­de. Klingt abs­trakt? Ver­wir­rend? Abs­trakt ist hier nichts, im Gegen­teil: Die Kapi­tel des Buches könn­ten kon­kre­ter und anschau­li­cher kaum sein. Und ver­wir­rend, naja, dafür haben wir ja unse­ren Guide.

Als Über­set­ze­rin hat Jen Cal­le­ja natur­ge­mäß viel Zeit auf Buch­mes­sen ver­bracht, ins­be­son­de­re in Lon­don und Frank­furt, da sie aus dem Deut­schen über­setzt. Ihre eige­ne Mes­se fin­det nicht in einer Metro­po­le statt, son­dern in Has­tings, an der eng­li­schen Süd­ost­küs­te, wo sie lebt und arbei­tet. Für Cal­le­jas Mes­se braucht man zum Glück kein teu­res Ticket, sie ist auch wei­test­ge­hend bar­rie­re­frei, das heißt, Fair setzt kaum Vor­wis­sen vor­aus und kommt gänz­lich ohne Fach­vo­ka­bu­lar aus. Ein Besuch lohnt sich für alle, die sich für Lite­ra­tur­über­set­zung inter­es­sie­ren, egal ob mit pro­fes­sio­nel­ler Erfah­rung in der Buch­bran­che oder ohne! Außer­dem ist die­se Mes­se kein Ufo-Event, son­dern ein­ge­bun­den in loka­le Struk­tu­ren. Ein Buch­händ­ler aus der Stadt betreut etwa den Buch­ver­kauf im Gift Shop, aber der kommt natür­lich erst am Ende. Am Anfang ste­hen wir vor einem gro­ßen Luft­bal­lon­bo­gen, gehen hin­durch, und schon sind wir mittendrin. 

Mit jedem der kur­zen Kapi­tel betre­ten wir jetzt einen Ort auf der Mes­se. Der ers­te ist Stand A1. Hier ist der Arbeits­platz der Über­set­ze­rin aus­ge­stellt. Ihr Schreib­tisch, der Raum, in dem er steht, die Fotos an den Wän­den – alles kön­nen wir durch Cal­le­jas Beschrei­bung genau betrach­ten. Wie in einer Erleb­nis­aus­stel­lung kön­nen wir kurz in ihre Rol­le schlüp­fen, wäh­rend sie uns erzählt, wie sie arbei­tet, was sie dafür braucht, wer ihre Auf­trag­ge­ber sind und was außer der Zeit am Schreib­tisch noch Teil ihres Arbeits­all­tags ist. Auch die Bücher, die sie gera­de über­setzt, sind auf dem Schreib­tisch zu sehen. „I should real­ly be working on the­se pro­jects, this who­le fair is one big bout of pro­cras­ti­na­ti­on“, gesteht Cal­le­ja – eigent­lich soll­te sie dar­an gera­de arbei­ten, das gan­ze Spek­ta­kel sei ein ein­zi­ger Prokrastinationsanfall.

Danach geht es durch eine klei­ne Tür in eine Besen­kam­mer. Schließ­lich gehö­ren nicht nur die Schau­sei­ten der Stän­de und die Attrak­tio­nen zu einer Mes­se. In die­ser klei­nen Kam­mer erzählt Jen Cal­le­ja uns von dem „Besen­kam­mer“ genann­ten Raum in ihrer ehe­ma­li­gen Schu­le, einer staat­li­chen Schu­le, wo sie von enga­gier­ten Lehrer*innen ein­zeln Deutsch- und Fran­zö­sisch­un­ter­richt bekam, auf ihr eige­nes Drän­gen hin, weil in den höhe­ren Klas­sen für die­se Fächer kei­ne Kur­se mehr zustan­de kamen. Immer wie­der tau­chen wir in Fair in die Ver­gan­gen­heit ein, es geht auch um den Weg, der die Über­set­ze­rin in ihren Beruf geführt hat. Alle, die sich für das Leben von Literaturübersetzer*innen nicht inter­es­sie­ren, weil sie mei­nen, Über­set­zen sei ein neu­tra­ler, iso­lier­ter Akt, lässt sie gleich zu Beginn wis­sen: Ihre Arbeit und Erfah­rung aus den jewei­li­gen Kon­tex­ten zu lösen, kommt ihr völ­lig sinn­los vor, so sinn­los „like a word or phra­se remo­ved from the neu­tra­li­ty of the dic­tion­a­ry and pla­ced unthin­king­ly into a sen­tence“ („wie ein unbe­dacht aus der Neu­tra­li­tät des Wör­ter­buchs gelös­ter und in einem Satz plat­zier­ter Ausdruck“).

Jen Cal­le­ja wächst als Arbei­ter­kind und, obwohl ihr Vater mal­te­si­sche und ihre Mut­ter iri­sche Wur­zeln hat, ein­spra­chig auf. Wir erfah­ren von den Hin­der­nis­sen, die das für den Weg in eine geis­tig-künst­le­ri­sche Tätig­keit bedeu­tet, durch den erschwer­ten Zugang zu Schul- und Hoch­schul­aus­bil­dung und spä­ter zu den Netz­wer­ken der Buch­bran­che. Als Über­set­ze­rin des Inter­net- und Social Media-Zeit­al­ters ver­steht sich Cal­le­ja, da Twit­ter es, zur Hoch­zeit der Platt­form, maß­geb­lich erleich­tert habe, Ein­bli­cke in die Bran­che zu erhal­ten und Kon­takt zu Literaturakteur*innen her­zu­stel­len. Wir erfah­ren aber auch, wel­che spe­zi­fi­schen Erfah­run­gen in ihrem Her­kunfts­um­feld den Wunsch, zu über­set­zen, ent­ste­hen las­sen und stär­ken – und wie klas­sen­spe­zi­fi­sche Erfah­run­gen und Wis­sen spä­ter beson­ders wert­voll für ihre Arbeit sind: So sind es zum Bei­spiel Momen­te, in denen die spä­te­re Über­set­ze­rin ihrem Vater lauscht, wenn er am Tele­fon Mal­te­sisch spricht, die eine tief­grei­fen­de Fas­zi­na­ti­on für frem­de Spra­chen wecken; das Immer-Wie­der-Lesen der beschränk­ten Anzahl ver­füg­ba­rer Bücher schult eine Form der Lek­tü­re­kom­pe­tenz, die auch beim Lite­ra­tur­über­set­zen grund­le­gend ist; das Leben zwi­schen unter­schied­li­chen Regio- und Sozio­lek­ten weckt eine Sen­si­bi­li­tät für unter­schied­li­che Spra­chen und Sprech­wei­sen und damit ver­bun­de­ne (Lebens)Welten.

Zu den nächs­ten Sta­tio­nen auf unse­rer Tour gehört Stand B9, wo Bet­ten aus dem Leben der Über­set­ze­rin aus­ge­stellt sind. Gele­sen wird schließ­lich oft im Bett. Also tau­chen wir ein in die­sen inti­men Raum und erfah­ren von ers­ten Lek­tü­ren auf Deutsch, der Fas­zi­na­ti­on über den wach­sen­den Zugang zu deutsch­spra­chi­gen Tex­ten, ers­ten Über­set­zungs­ver­su­chen bei der Lek­tü­re und der Erfah­rung der Inkom­men­su­ra­bi­li­tät der bei­den Spra­chen. Dann machen wir einen gro­ßen Sprung. Danach geht es wei­ter in G5, einem Spie­gel­ka­bi­nett, aka glä­ser­nes Über­set­zen, ein belieb­tes For­mat auf Buch­mes­sen, bei dem Übersetzer*innen live und im Dia­log über­set­zen und so ganz kon­kre­te Ein­bli­cke in ihre Arbeit am Text geben. Hier aller­dings betre­ten wir mit dem Spie­gel­ka­bi­nett den Kopf der Über­set­ze­rin, wo ver­schie­de­ne Stim­men über die Über­set­zung des ers­ten Sat­zes von Mari­on Posch­manns Roman Die Kie­fern­in­seln strei­ten und dabei vor Augen füh­ren, wie fol­gen­reich und kom­plex selbst win­zi­ge Ent­schei­dun­gen für den Gesamt­text sein können.

Es fol­gen Kapi­tel mit Spiel­au­to­ma­ten und Mit­mach­sta­tio­nen, Film­scree­nings, Panel­dis­kus­sio­nen und Instal­la­tio­nen. Außer­dem natür­lich Imbiss­bu­den und Kaf­fee­ecken. Und ein Modell von Cal­le­jas „Trans­la­tor Dre­am­house“ kann besich­tigt wer­den. Wir hof­fen mit der jün­ge­ren Jen auf inter­es­san­te Über­set­zungs­auf­trä­ge, ban­gen mit, wenn nach abge­lie­fer­ter Arbeit aus­ste­hen­de Hono­rar­zah­lung nicht auf dem Kon­to ein­ge­hen. Wir fah­ren mit auf der Über­set­ze­rin­nen­le­ben­ach­ter­bahn. Wir lesen von Rück­schlä­gen, Zwei­feln, Soli­da­ri­tät und Unter­stüt­zung, Begeg­nun­gen mit Autor*innen und Kolleg*innen, von Feh­lern zum Draus-Ler­nen und Feh­lern, die sich letzt­lich als Gewinn ent­pup­pen. Dabei geht es um die Arbeits­be­din­gun­gen von Übersetzer*innen, um die Lite­ra­tur­bran­che als sozia­les Gefü­ge, um die Bezie­hung zwi­schen Autor*in und Übersetzer*in, Fra­gen von Legi­ti­mi­tät und Iden­ti­tät – genau wie um die gro­ßen Fra­gen der Über­set­zungs­wis­sen­schaft: Was pas­siert beim Über­set­zen? Wie ver­hält sich eine Über­set­zung zum Aus­gangs­text? Was macht eine gute Über­set­zung aus? Nur dass hier nichts theo­re­tisch bleibt, son­dern alles erleb­bar wird. Immer ent­wi­ckelt Jen Cal­le­ja ihre Gedan­ken zu die­sen Fra­gen aus­ge­hend von einer kon­kre­ten Erfah­rung, einer kon­kre­ten Situa­ti­on oder Text­bei­spie­len, immer machen sie sich auf der Tour durch Fair an einem Ele­ment des bun­ten Trei­bens fest.

Man­che Ele­men­te des Mes­se­spek­ta­kels kom­men zunächst als Meta­phern daher: Etwa die Tor­ten beim Tor­ten­wer­fen mit der Über­set­ze­rin als Ziel­schei­be, jede Tor­te eine Anschul­di­gung, ein Vor­wurf, den sie sich bei einem Ver­an­stal­tungs­pa­nel gefal­len las­sen muss­te. Oder das Spre­chen und die Hand­ar­beit der demenz­kran­ken Mut­ter. Oder ein Karao­ke-Net­wor­king-Event. Aber in ihrer Per­for­ma­ti­vi­tät befrei­en sich die Tor­ten, das Stri­cken und das Karao­ke aus ihrem Meta­phern­da­sein. Frei nach Ursu­la le Guin, die mit fol­gen­der Aus­sa­ge zum Über­set­zen zitiert wird: „The meta­phors all self-destruct!“

Nicht Lust an der Selbst­ent­blö­ßung ist Motor die­ser gro­ßen, Text gewor­de­nen Show: Fair ist eine groß­zü­gi­ge Ges­te, ein mutig ange­bo­te­ner Erfah­rungs­schatz, ein Plä­doy­er für fai­re Arbeits­be­din­gun­gen (ja, natür­lich geht es auch um Fair­ness) und grö­ße­re Wert­schät­zung für eine uner­setz­ba­re Kunst. 

Und wie das mit Mes­sen so ist: Die Zeit ver­geht wie im Flug. Schon kommt die Durch­sa­ge, die uns bit­tet, uns zu den Aus­gän­gen zu bewe­gen. Jen Cal­le­ja bie­tet uns meh­re­re Aus­gangs­op­tio­nen an, jeder davon rich­tungs­wei­send… Davor aber jetzt noch schnell in den Gift Shop. Da gibt es näm­lich ein Objekt von Jen Cal­le­jas Arbeits­platz zu kau­fen: eine Arbeits­schür­ze, die man zum Über­set­zen zwar eigent­lich nicht braucht, die aber dabei hilft, zu unter­schei­den, ob man gera­de arbei­tet oder nicht. Da eine Gren­ze zu zie­hen, ist näm­lich manch­mal gar nicht so ein­fach. Und dann fragt bei Arbei­ter­kin­dern ja auch noch eine Stim­me im Hin­ter­kopf: Ist das über­haupt Arbeit, was du da machst? Genia­le Idee, die­se Schür­ze. Obwohl Leben und Arbeit bei Literaturübersetzer*innen immer von­ein­an­der durch­drun­gen sind. Das ist eine Grund­prä­mis­se in Fair: The Life-Art of Trans­la­ti­on, und dar­an bleibt beim Ver­las­sen des Gelän­des wohl kein Zwei­fel. 



2 Comments

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    Stephanie Wloch

    Dan­ke für die­se wun­der­schö­ne Beschrei­bung, die Appe­tit macht auf das ori­gi­nel­le Buch. Ich möch­te den Wer­de­gang einer Lite­ra­tur­über­set­ze­rin ger­ne in aller Aus­führ­lich­keit erle­ben. Da ich statt „Nor­mal­über­set­zen“ mit lite­ra­ri­schen Anklän­gen mehr Lite­ra­tur­über­set­zun­gen machen möch­te. Das krea­ti­ve Kon­zept ist ein beson­de­rer Bonus. Es scheint lei­der momen­tan in Deutsch­land nicht zeit­nah bestellbar.

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