
Als 2018 die ersten Beiträge auf TraLaLit online gingen, waren wir ein kleines Team von drei Literatur- und Übersetzungsbegeisterten: Felix Pütter, Freyja Melsted und ich. Damals hätten wir kaum zu hoffen gewagt – auch wenn wir es vielleicht insgeheim doch taten –, dass es TraLaLit sieben Jahre später noch geben würde. Warum diese Skepsis? Zum einen, weil das Thema Literaturübersetzung ein Nischendasein fristet. Zum anderen, weil es kaum Vorbilder oder vergleichbare Plattformen gab. Wir fragten uns: Kann ein Medium für Übersetzungskritik überhaupt funktionieren? Und wird sich überhaupt jemand für das interessieren, was wir auf TraLaLit machen?
Aus diesen Gründen bezeichneten wir TraLaLit zu Beginn als eine „Experimentierplattform“. Übersetzungskritik war damals im Feuilleton kaum präsent, und ist es auch heute noch nicht. Eine Ausnahme bilden Besprechungen von Neuübersetzungen. In Fachmedien für Übersetzende, etwa in Toledo-Journalen oder in der Verbandszeitschrift Übersetzen, spielt Übersetzungskritik eher eine Nebenrolle, da der Fokus auf anderen, branchenrelevanten Aspekten liegt. Und auch in der Literaturbloggerszene sind Übersetzungen nur selten ausführlicher Thema – obwohl man dort die Nennung von Übersetzer:innen inzwischen oft ernster nimmt als in vielen klassischen Feuilletons. Insgesamt scheuen viele Literaturkritiker:innen die Auseinandersetzung mit Übersetzungen – oft mit dem Verweis auf fehlende sprachliche Expertise. Umgekehrt zögern viele Übersetzer:innen, die Arbeit von Kolleg:innen öffentlich zu kommentieren.
Wenn überhaupt, findet Übersetzungskritik in Seminaren und Workshops statt, also in geschlossenen Räumen, fernab der Öffentlichkeit. TraLaLit hingegen war von Anfang an anders gedacht: offen, zugänglich, für all jene, die sich für internationale Literatur interessieren – und damit auch für das literarische Übersetzen. Denn wie soll Übersetzungskunst mehr Aufmerksamkeit erhalten, wenn nicht darüber gesprochen, geschrieben, gestritten wird? Übersetzungen gehören in den öffentlichen Diskurs. Nur so wird sichtbar, was Literaturübersetzende leisten und warum ihre Arbeit unersetzbar ist.
Auf Veranstaltungen und in Beiträgen zum Thema Übersetzung wird immer wieder beklagt, dass Übersetzungen – sofern sie gelobt werden – oft pauschal als „kongenial“ bezeichnet werden. Wird Kritik geäußert, wirkt sie oft eher punktuell als fundiert. Die Frage, die für mich in solchen Diskussionen oft unbeantwortet bleibt, lautet: Welches Vokabular haben wir eigentlich, um es besser zu machen? Was genau macht eine gute Übersetzungskritik aus, die über leere Floskeln hinausgeht? TraLaLit war ein Experiment, weil wir nicht wussten, ob wir Antworten auf diese Fragen finden. Klar war nur: Wir wollen über Übersetzungen schreiben – reflektiert und überlegt, enthusiastisch und kritisch, wohlwollend und streitlustig. Und: Alle dürfen mitmachen.
Wirklich alle? In der Literaturbranche wird bekanntlich gern Gatekeeping betrieben – das gilt auch für die Übersetzungsszene. Ich habe längst aufgehört zu zählen, wie oft ich gefragt wurde, ob man überhaupt über Übersetzungen schreiben dürfe, wenn man selbst nicht übersetzt. Eigentlich sollte das keine Rolle spielen. Sonst müsste man ja auch einen so prominenten Literaturkritiker wie Denis Scheck fragen, ob er überhaupt qualifiziert ist, über Literatur zu sprechen – schließlich ist er selbst kein renommierter Autor. (Der undogmatische Hund. Eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau, einem Mann und einem Jack Russell zählt nicht.)
Wenn nur professionelle Literaturübersetzende über Übersetzungen schreiben (dürfen) und allen anderen die Kompetenz abgesprochen wird, ändert sich nichts an dem Zustand, den wir noch immer beobachten: Übersetzung wird kaum öffentlich verhandelt. Sprache und Form treten – in der Literaturkritik wie auf vielen Blogs – oft zugunsten der Themen und der Handlung zurück. Oder aber es wird über die sprachlichen und stilistischen Merkmale einer Übersetzung gesprochen, als handele es sich um ein Original – wobei der Übersetzungsprozess bewusst ausgeblendet wird. Auf TraLaLit haben wir den Fokus verschoben: hin zu etwas, wofür es an vielen Stellen noch an zugänglicher und verständlicher Sprache fehlt. Zu beschreiben, was auf der sprachlichen Ebene eines Textes geschieht, wie Sprache und Inhalt einander bedingen, ist anspruchsvoll, und fällt den meisten Schreibenden schwer. Egal ob professionelle:r Kritiker:in oder Student:in.
Die Frage, wer über Übersetzungen schreiben und sie kritisieren darf, ist immer auch eine Frage nach Deutungshoheit im Literaturbetrieb – nach Sichtbarkeit, Einfluss und letztlich Macht. Natürlich veröffentlichen wir auf TraLaLit nicht alles, was uns zugesandt wird. Unsere Texte gehen durch mehrere Hände und durchlaufen mehrere Lektoratsrunden. Aber: Wir wollen ausdrücklich Menschen befähigen, sich reflektiert und konstruktiv mit Übersetzungen auseinanderzusetzen.
Unter unseren knapp 140 Gastautor:innen finden sich Journalist:innen, wissenschaftliche Mitarbeiter:innen, Studierende, Blogger:innen, Literaturbegeisterte – und ja, auch Übersetzende. Doch nicht immer sind Letztere automatisch die kompetentesten, wenn es darum geht, über ihre eigene Arbeit zu schreiben. (Auch einige Autor:innen geraten an dieser Stelle an ihre Grenzen). Und entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses: Die TraLaLit-Redaktion bestand nie ausschließlich aus Übersetzenden und versteht sich auch nicht als Magazin von und für Nachwuchsübersetzer:innen.
Über 200 Rezensionen sind bislang auf TraLaLit erschienen. In vielen dieser Beiträge wird die Übersetzung im Vergleich mit dem Original betrachtet – nicht, um eine vermeintliche ‚Treue‘ zu überprüfen, sondern um der Frage nachzugehen, wie sich die Übersetzung zum Original verhält: welche Entscheidungen getroffen wurden, welche Strategien erkennbar sind. Aspekte wie Lesbarkeit, Rhythmus oder Satzbau lassen sich auch ohne Original differenziert analysieren; beim Umgang mit Ton, Stilregistern, Anspielungen oder Sprachbildern hingegen ist das Original oft eine hilfreiche Bezugsgröße. Die Texte machen auf unterschiedlichste Weise deutlich: Eine Übersetzung ist keine Kopie, keine minderwertige Nachahmung, sondern ein eigenständiges sprachliches Kunstwerk.
Am deutlichsten zeigt sich das in unserer Rubrik Welche Übersetzung soll ich lesen?, in der verschiedene Übersetzungen literarischer Klassiker miteinander verglichen werden. Wie interpretatorisch vielfältig Übersetzungen sein können, wird besonders dann greifbar, wenn man sechs Versionen ein und desselben Satzes nebeneinander legt. Hinzu kommen historische Dimensionen: Unser Verständnis davon, was eine gute Übersetzung ausmacht, verändert sich mit der Zeit. Kaum etwas macht das so anschaulich wie ein Blick zurück in die Übersetzungsgeschichte am Beispiel eines bekannten Werks. Am anderen Ende des Spektrums stehen Rezensionen, in denen das Original nicht hinzugezogen werden kann – schlicht, weil den Rezensent:innen die entsprechenden Sprachkenntnisse fehlen. Warum veröffentlichen wir solche Texte überhaupt?
Manche Sprachen verstehen viele, andere hingegen nur wenige. Würden wir nur Bücher besprechen, deren Originalsprachen wir selbst lesen können, müssten wir unser Länderspektrum (wobei auch dort noch Luft nach oben ist) drastisch einschränken und unseren Blick auf den Westen verengen. Auch in Jurys, etwa beim Internationalen Literaturpreis oder beim Preis der Leipziger Buchmesse, sitzen erfahrungsgemäß Menschen, die im Durchschnitt nur einen Bruchteil der Sprachen beherrschen, aus denen die nominierten Werke übersetzt wurden. Oft bleibt unklar, nach welchen Kriterien dort übersetzerische Leistungen beurteilt werden. Die Praxis zeigt, dass der Vergleich mit dem Original nicht das Non-plus-Ultra der Übersetzungskritk sein muss. Denn auch ohne Originalkenntnis kann eine Rezension überzeugen, wenn sie eine differenzierte Sprachkritik leistet.
Zu vielen unserer Besprechungen, insbesondere den negativen, erhalten wir regelmäßig Rückmeldungen – manche davon sind konstruktiv und wertvoll, andere stellen hingegen den Wert von Übersetzungsbesprechungen grundsätzlich infrage oder sehen darin etwas Unerwünschtes. Damit müssen wir als Redaktion umgehen. Ich persönlich finde auch nicht jeden Beitrag, der in anderen Medien erscheint, überzeugend. Aber würden wir ausschließlich positive Rezensionen veröffentlichen, würden wir weder unserem eigenen Anspruch gerecht noch könnten wir uns als unabhängiges Magazin ernst nehmen.
Natürlich liest niemand gern eine negative Kritik der eigenen Arbeit – das ist menschlich. Doch was oft übersehen wird: Übersetzungskritik wird in eine Rezension eingebettet. Und was ist eine Rezension anderes als die Bewertung eines Textes, eines Films oder eben einer Übersetzung? Es gibt handwerkliche Aspekte beim Übersetzen – den Umgang mit Tempus, idiomatischen Wendungen, Dialekten –, die sich objektiv beschreiben lassen und Gegenstand der Besprechung sein können.
Die eigentliche Bewertung aber basiert auf der Gewichtung individueller, argumentierbarer Kriterien und ist schlichtweg subjektiv – genau wie in der Literaturkritik. Und ja, es spielt eine Rolle, wer den Text schreibt: Für einen fünfzigjährigen Leser, der Jugendsprache nur aus den 80ern kennt, mag eine Übersetzung, die heutige Jugendsprache imitiert, gelungen erscheinen. Eine Leserin aus der Generation Z hingegen empfindet sie womöglich als unpassend oder wenig authentisch. Beide würden vermutlich ganz unterschiedliche Rezensionen über denselben Text schreiben. Die Intention der Übersetzenden ist im Idealfall anzuerkennen, am Ende aber doch zweitrangig (auch Autor:innen müssen damit leben, missverstanden zu werden). Entscheidend bleibt die Wirkung der Übersetzung beim Lesen.
Erst in der aktiven Ausübung von Übersetzungskritik lassen sich diese zentralen Aspekte wirklich erschließen. Die Forderung #Namethetranslator ist dabei lediglich ein Anfang. Mittlerweile gibt es Magazine wie poco.lit, Initiativen wie Plateforme sowie Literaturkritiker:innen wie Sieglinde Geisel oder Thomas Hummitzsch, die die Bedeutung von Übersetzungsarbeit hervorheben. Eine breitere Zielgruppe wird damit jedoch häufig nicht erreicht und die Wirkung bleibt meist auf das direkte Umfeld oder bereits Interessierte beschränkt.
Die Nennung der Namen von Übersetzenden ist am Ende nicht ausreichend, um Übersetzungskunst ernsthaft und angemessen zu würdigen. Erst die kritische Auseinandersetzung – ob zustimmend oder ablehnend – macht die Leistung wirklich sichtbar. Übersetzungskritik ist Anerkennung: Sie offenbart, was an sprachlicher Gestaltung, Entscheidung und Interpretation in einem Text steckt, mitsamt aller Grenzen, Wagnisse und Möglichkeiten. Übersetzende sind, genau wie Schreibende, die Urheber der Texte. Wer unter seinem Namen veröffentlicht, öffnet sich für Anerkennung ebenso wie für Kritik – und macht sich damit angreifbar. Aber man kann nicht mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit fordern und dann zurückschrecken, wenn es mitunter unbequem wird.
Übersetzungskritik hat das Potenzial, Missstände sichtbar zu machen, für die die Literaturbranche selbst Verantwortung trägt. Etwa die Frage: Kann eine Übersetzung eines 700-Seiten-Romans überhaupt gelingen, wenn sie in nur fünf Wochen entstehen muss? Merkt man einem Text an, dass er aus Zeitgründen von fünf verschiedenen Personen übersetzt wurde? Und wer trägt eigentlich die Verantwortung für einen deutschen Buchtitel, der mit dem Original nichts zu tun hat? (In der Regel nicht die Übersetzenden.)
Nicht zuletzt gewinnt die Forderung nach Sichtbarkeit für die übersetzerische Zunft mit dem Aufkommen von KI an Dringlichkeit. Gerade hier setzt Übersetzungskritik an: Sie sensibilisiert Leser:innen für die sprachlichen Nuancen eines Textes. Denn wie sollen Leser:innen (und auch andere Akteur:innen im Literaturbetrieb) zwischen von Menschen und von Maschinen übersetzten Texten unterscheiden können, wenn es keine produktive, öffentliche Auseinandersetzung mit Übersetzung gibt? Übersetzungskritik schafft Bewusstsein für die Komplexität des Übersetzens. Diese Sensibilisierung ist der Kern dessen, was Übersetzungskritik leisten kann – und bitter nötig.
Seit der Gründung verfolgt TraLaLit das Ziel, Übersetzungen und ihre Urheber:innen ins Rampenlicht zu rücken. Das Ergebnis: knapp 400 Beiträge in unserem Magazin – von Interviews mit Übersetzenden und Erfahrungsberichten zum Einstieg in die Branche bis hin zu anschaulichen Einblicken in fremde Sprachen und Literaturszenen. Denn Menschen begeistern sich durchaus für das Übersetzen, sofern es nicht als Randthema abgetan oder als unergründlich dargestellt wird.
Jeder unserer Texte trägt dazu bei, übersetzerische Arbeit als kreative und unersetzbare Leistung anzuerkennen. Übersetzungskritik heißt: genau hinsehen, verstehen, vergleichen, reflektieren, diskutieren. Und vor allem – Sprache ernst nehmen. Das ist es, was wir mit TraLaLit weiterhin tun wollen. Für alle, die übersetzen. Und vor allem für alle, die lesen.
Ohne finanzielle Hilfe gäbe es unser einzigartiges Projekt nicht mehr. Wenn dir TraLaLit am Herzen liegt, unterstütze uns mit einer Steady-Mitgliedschaft und hilf, die Zukunft des Magazins zu sichern.