Den Pri­de Month erlesen

Im Pride Month feiern wir queere Geschichten, Stimmen und Perspektiven. Die Redaktion liefert Lektüreempfehlungen für den Monat der Vielfalt. Von

Vier Titel für den Pride Month. Hintergrund: Scott Web (via Unsplash).

Wie ein blut­ro­ter Faden schlän­gelt sich eine alte alba­ni­sche Legen­de durch den drit­ten Roman des fin­nisch-koso­va­ri­schen Autors Paj­tim Sta­tov­ci: die Legen­de von einem teuf­li­schen Schlan­gen­mons­ter, dem titel­ge­ben­den Bol­la. Ein­mal im Jahr kriecht es aus sei­ner Höh­le und ver­schlingt alles, was ihm unter die Augen kommt. Der Prot­ago­nist und Ich-Erzäh­ler des Romans, Arsim, der davon träumt, Schrift­stel­ler zu wer­den, schreibt eine eige­ne Ver­si­on die­ser Geschich­te, in der die Schlan­ge einem furcht­lo­sen blin­den Mäd­chen begeg­net und sich mit ihm anfreun­det. Als die Schlan­ge das Mäd­chen schließ­lich ver­schlingt und so eins mit ihm wird, schei­nen Hoff­nung und Angst, Grau­sam­keit und Zärt­lich­keit zu verschwimmen.

Die Hand­lung, die der Roman vor der viel­schich­ti­gen Folie die­ser Legen­de erzählt, beginnt in Pris­ti­na im Jahr 1995. Arsim ist 22 Jah­re alt, Alba­ner, Lite­ra­tur­stu­dent und frisch ver­hei­ra­tet mit einer Frau, die ihn hin­ge­bungs­voll umsorgt und schwan­ger wird mit einem Kind, des­sen Vater er nicht sein will. Der Krieg rückt näher, die Men­schen in Pris­ti­na fra­gen sich nicht mehr, ob er kom­men wird, son­dern, ob er nicht längst begon­nen hat. Und gera­de, als die­ser Krieg Alba­ner und Ser­ben end­gül­tig zu Fein­den macht, begeg­net Arsim Miloš. Miloš ist Ser­be, Medi­zin­stu­dent, und ver­liebt sich genau­so Hals über Kopf in Arsim wie der in ihn. Wäh­rend Arsims Frau auf die Geburt des Kin­des war­tet, erle­ben die bei­den ver­steckt in Miloš’ klei­ner Woh­nung für kur­ze Zeit ein wenig Glück und Leich­tig­keit – die jäh endet, als Arsim mit sei­ner Fami­lie flieht, und Miloš sich dar­auf­hin der Armee anschließt.

Bol­la ist ein psy­cho­lo­gisch hoch­kom­ple­xer Roman, der kei­ne Hel­den kennt. Er erzählt von den Grau­sam­kei­ten des Krie­ges, von Trau­ma­ta, von einer Angst, die nie mehr ver­schwin­det, von erleb­tem eben­so wie zuge­füg­tem Leid und einem Leben im Exil, das weder Hoff­nung noch Frei­heit bringt. Paj­tim Sta­tov­ci fin­det dafür eine durch und durch erschüt­tern­de Pro­sa, in der auch in Ste­fan Mos­ters Über­set­zung jedes Wort, jeder Satz sitzt. Mes­ser­schar­fe Sprach­bil­der tref­fen einen so uner­war­tet und mit einer sol­chen Wucht, dass die Lek­tü­re nicht spur­los an einem vor­über geht. – Sula Textor

Paj­tim Statovci/Stefan Mos­ter (aus dem Fin­ni­schen): Bol­la, Luch­ter­hand 2025, 288 Sei­ten, 22 Euro.

Stadt ist nach Hof der zwei­te Teil der däni­schen Best­sel­ler-Tri­lo­gie von Tho­mas Kors­gaard. Haupt­fi­gur der Rei­he ist der jun­ge Tue, der auf einem abge­le­ge­nen Hof mit zwei jün­ge­ren Geschwis­tern und sei­nen Eltern auf­wächst. Der zwei­te Band macht eigent­lich genau da wei­ter, wo der ers­te auf­ge­hört hat: Mit kla­ren, nahe­zu neu­tra­len Sät­zen und lebens­ech­ten Dia­lo­gen – erneut groß­ar­tig von Jus­tus Carl und Kers­tin Schöps über­setzt – kon­fron­tiert uns Kors­gaard mit der nie­der­schmet­tern­den Tat­sa­che, dass nie­mand weiß, was inner­halb der vier Wän­de einer Fami­lie statt­fin­det. Tue ist per­ma­nent psy­chi­scher und phy­si­scher Gewalt aus­ge­setzt, sei­ne psy­chisch kran­ke Mut­ter, die vom Vater miss­han­delt wird, zwängt ihm ihre Geheim­nis­se auf, weil sie nie­man­den zum Reden hat, wäh­rend der Vater Tue stän­dig mit Wor­ten und Taten drang­sa­liert. Tue, der gera­de sei­ne ers­ten sexu­el­len Erfah­run­gen mit Jungs und Män­nern macht, fin­det kei­nen Weg, mit die­ser Gewalt umzu­ge­hen, zieht sich in sich selbst zurück und wird immer dann, wenn er ver­sucht, mit sei­ner Mut­ter Kon­takt her­zu­stel­len, rüde abge­wie­sen und ent­täuscht. Und trotz­dem spricht aus jeder Zei­le die Lie­be, die er für sei­ne Mut­ter emp­fin­det, aber auch, wie sehr er sei­nen Vater hasst. Die Situa­ti­on zu Hau­se spitzt sich der­ma­ßen zu, dass sei­ne Mut­ter und ihrem Teen­ager-Sohn dazu rät, aus­zu­zie­hen. Und so macht sich Tue allein und ohne finan­zi­el­le Unter­stüt­zung auf den Weg in die Stadt zu sei­ner treu­en Freun­din Iben.

Kors­gaards Tri­lo­gie lässt mich mit jedem Band gespal­ten zurück. Einer­seits sind der der­ma­ßen expli­zit und unum­wun­den beschrie­be­ne psy­chi­sche und phy­si­schen Miss­brauch kaum zu ertra­gen. Die Bücher lösen Wider­wil­len in mir aus, kör­per­lich spür­ba­res Unbe­ha­gen. Ande­rer­seits wird Tues Geschich­te epi­so­den­haft in kur­zen Kapi­teln erzählt, sodass man doch immer wei­ter­liest, sich immer wie­der sagt, dass man doch noch ein Kapi­tel schafft, bis man plötz­lich am Ende ange­langt ist, und sich dar­über ärgert, dass der drit­te Band vor­aus­sicht­lich erst im Herbst 2026 erschei­nen wird. Wenn die Über­set­zung dann auch noch so gelun­gen ist und einen direkt in die däni­sche Pro­vinz kata­pul­tiert, kann am Ende nur eine kla­re Emp­feh­lung dabei her­aus­sprin­gen: Lest die­se Rei­he! – Lisa Mensing

Tho­mas Korsgaard/Justus Carl und Kers­tin Schöps (aus dem Däni­schen): Stadt, Kanon Ver­lag 2025, 288 Sei­ten, 24 Euro.

„I am mali­cious becau­se I am mise­ra­ble.“ Seit über 200 Jah­ren ver­zau­bert und ver­stört Shel­leys Fran­ken­stein sei­ne Leser­schaft – und ließ eine jun­ge Dah­lia de la Cer­da ihre Lie­be zur Lite­ra­tur ent­de­cken. Für die mexi­ka­ni­sche Autorin wur­de das Hor­ror-Gen­re zum Vehi­kel, um struk­tu­rel­le Gewalt sicht­bar zu machen. Dabei trägt sie kei­ne Samt­hand­schu­he: Mit Reser­voir Bit­ches hat de la Cer­da einen Kurz­ge­schich­ten­band geschaf­fen, der so blu­tig daher­kommt wie Taran­ti­nos Reser­voir Dogs – nur dass sich bei ihr alles um Frau­en dreht. Ihre Prot­ago­nis­tin­nen sind kei­ne gla­mou­rö­sen Hel­din­nen: Sie sind kom­pro­miss­lo­se Kämp­fe­rin­nen, die sich ihre Iden­ti­tät von nie­man­dem dik­tie­ren las­sen. Da sind Frau­en, die für Likes und Kar­rie­re indi­ge­ne Wur­zeln vor­täu­schen; die zu Die­bin­nen und Kil­le­rin­nen wer­den; die dem Tod davon­lau­fen, um sich an ihren Pei­ni­gern zu rächen; Trans-Frau­en, die alles hin­ter sich las­sen, um sie selbst sein zu können.

Die 13 mit­ein­an­der ver­floch­te­nen Geschich­ten schaff­ten es in der eng­li­schen Über­set­zung von Hea­ther Clea­ry und Julia San­ches bereits auf die Long­list des Inter­na­tio­nal Boo­ker Pri­ze. Für Cul­tur­Books hat Johan­na Mal­cher Reser­voir Bit­ches ins Deut­sche über­tra­gen. Die Bru­ta­li­tät und Pro­fa­ni­tä­ten des Ori­gi­nals hat Mal­cher effekt­voll bewahrt, und auch in der deut­schen Fas­sung begeg­nen uns Nar­cos, Buchó­nes, Nacas und Char­ros – so bleibt die so zen­tra­le gesell­schaft­li­che und räum­li­che Ver­or­tung erhalten. 

Hin­ter die­ser lite­ra­ri­schen Wucht steht eine trau­ri­ge Rea­li­tät: De la Cer­da muss­te im eige­nen Umfeld einen Femi­zid erle­ben – in einem Land, das regel­mä­ßig an der Spit­ze der welt­wei­ten Sta­tis­ti­ken zu Gewalt an Frau­en steht, ins­be­son­de­re Trans-Frau­en. Mit femi­nis­ti­schem Akti­vis­mus und auch in ihrer Lite­ra­tur leis­tet die Autorin Wider­stand: In Reser­voir Bit­ches tref­fen Machis­mo und Gewalt auf Pop, Miso­pro­s­tol und Frau­en­ban­de, die über den Tod hin­aus­rei­chen – ein que­er-femi­nis­ti­scher Heist auf das Patri­ar­chat. Als Extra hat Cul­tur­Books dem Band eine Play­list bei­gefügt, mit der man den Sound­track der Geschich­ten nach­spü­ren kann. El cami­no fue negro, pero al fin, ¡ya tri­unfé! – The­re­sa Rüger

Dah­lia de la Cerda/Johanna Mal­cher (aus dem mexi­ka­ni­schen Spa­nisch): Reser­voir Bit­ches, Cul­tur­Books 2025, 184 Sei­ten, 22 Euro.

Jah­re­lang arbei­te­te die US-ame­ri­ka­ni­sche Autorin Tor­rey Peters an Kurz­ge­schich­ten, die sie im Selbst­ver­lag ver­öf­fent­lich­te – bis ihr wäh­rend der Pan­de­mie mit dem Debüt­ro­man Detran­si­ti­on, Baby der gro­ße Durch­bruch gelang. Das Buch wur­de gefei­ert und fand auch im deutsch­spra­chi­gen Raum gro­ße Beach­tung. Ent­spre­chend hoch waren die Erwar­tun­gen an ihren nächs­ten lite­ra­ri­schen Wurf.

Stag Dance – Ein Roman in vier Bil­dern unter­schei­det sich deut­lich von Peters’ Vor­gän­ger­werk. Die drei Kurz­ge­schich­ten und die Novel­le stam­men aus den letz­ten zehn Jah­ren und wur­den teils bereits ver­öf­fent­licht. Im Mit­tel­punkt ste­hen erneut Trans-Iden­ti­tä­ten, Gen­der-Dyna­mi­ken und das Auf­bre­chen gesell­schaft­li­cher Kon­ven­tio­nen. Die vier Geschich­ten sind dabei sehr ver­schie­den: Sie bedie­nen unter­schied­li­che Gen­res, und spie­len in ver­schie­de­nen Zei­ten und Welten. 

Die titel­ge­ben­de Novel­le Stag Dance basiert lose auf his­to­ri­schen Bege­ben­hei­ten, die Tor­rey Peters als Inspi­ra­ti­on dien­ten. In einer holz­fäl­len­den Män­ner­grup­pe fin­det jähr­lich ein Tanz statt, bei dem eini­ge Män­ner Frau­en­klei­dung tra­gen und umwor­ben wer­den. Der Prot­ago­nist Babe Bun­yan gilt als rie­sig, stark und etwas unbe­hol­fen, und fühlt sich von der Vor­stel­lung ange­zo­gen, sich beim Tanz mit ande­ren Män­nern zu ver­bin­den. In inten­si­ven und span­nungs­ge­la­de­nen Sze­nen ent­steht ein ein­drucks­vol­les Por­trät von Riva­li­tät, Begeh­ren und dem Auf­bre­chen star­rer Geschlechtergrenzen. 

Das schein­bar unüber­setz­ba­re „Stag Dance“ hat Frank Sie­vers mit „Her­ren­tanz“ ins Deut­sche über­tra­gen – ein etwas bie­der klin­gen­des, aber letzt­lich pas­sen­des Pen­dant. Es fügt sich gut in die his­to­ri­sie­ren­de, alt­mo­di­sche Spra­che ein, mit der sich Tor­rey Peters in die­ser Novel­le beschäf­tigt. In den ande­ren Geschich­ten hin­ge­gen spre­chen die Figu­ren ganz anders: Es wim­melt vor eng­lisch-deut­schem Misch­masch, inklu­si­ven Aus­drü­cken und der­ben Beschimp­fun­gen. Man gewinnt den Ein­druck, dass sich sowohl Über­set­zer als auch Autorin aus­to­ben konn­ten. Ins­be­son­de­re in einer Zeit, in der que­e­re Com­mu­ni­ties zuneh­mend unter Druck gera­ten, wehrt sich Peters bewusst gegen die Erwar­tung, que­e­re Lite­ra­tur müs­se stets posi­ti­ve oder vor­bild­haf­te Dar­stel­lun­gen ent­hal­ten. Ihre Figu­ren zei­gen Schwä­chen, Ego­is­mus, Aggres­si­on oder Lächer­lich­keit – genau das macht sie authen­tisch und mensch­lich. – Julia Rosche

Tor­rey Peters/Frank Sie­vers (aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch): Stag Dance, Ull­stein 2025, 352 Sei­ten, 24 Euro.

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