
Wie ein blutroter Faden schlängelt sich eine alte albanische Legende durch den dritten Roman des finnisch-kosovarischen Autors Pajtim Statovci: die Legende von einem teuflischen Schlangenmonster, dem titelgebenden Bolla. Einmal im Jahr kriecht es aus seiner Höhle und verschlingt alles, was ihm unter die Augen kommt. Der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, Arsim, der davon träumt, Schriftsteller zu werden, schreibt eine eigene Version dieser Geschichte, in der die Schlange einem furchtlosen blinden Mädchen begegnet und sich mit ihm anfreundet. Als die Schlange das Mädchen schließlich verschlingt und so eins mit ihm wird, scheinen Hoffnung und Angst, Grausamkeit und Zärtlichkeit zu verschwimmen.

Die Handlung, die der Roman vor der vielschichtigen Folie dieser Legende erzählt, beginnt in Pristina im Jahr 1995. Arsim ist 22 Jahre alt, Albaner, Literaturstudent und frisch verheiratet mit einer Frau, die ihn hingebungsvoll umsorgt und schwanger wird mit einem Kind, dessen Vater er nicht sein will. Der Krieg rückt näher, die Menschen in Pristina fragen sich nicht mehr, ob er kommen wird, sondern, ob er nicht längst begonnen hat. Und gerade, als dieser Krieg Albaner und Serben endgültig zu Feinden macht, begegnet Arsim Miloš. Miloš ist Serbe, Medizinstudent, und verliebt sich genauso Hals über Kopf in Arsim wie der in ihn. Während Arsims Frau auf die Geburt des Kindes wartet, erleben die beiden versteckt in Miloš’ kleiner Wohnung für kurze Zeit ein wenig Glück und Leichtigkeit – die jäh endet, als Arsim mit seiner Familie flieht, und Miloš sich daraufhin der Armee anschließt.
Bolla ist ein psychologisch hochkomplexer Roman, der keine Helden kennt. Er erzählt von den Grausamkeiten des Krieges, von Traumata, von einer Angst, die nie mehr verschwindet, von erlebtem ebenso wie zugefügtem Leid und einem Leben im Exil, das weder Hoffnung noch Freiheit bringt. Pajtim Statovci findet dafür eine durch und durch erschütternde Prosa, in der auch in Stefan Mosters Übersetzung jedes Wort, jeder Satz sitzt. Messerscharfe Sprachbilder treffen einen so unerwartet und mit einer solchen Wucht, dass die Lektüre nicht spurlos an einem vorüber geht. – Sula Textor
Pajtim Statovci/Stefan Moster (aus dem Finnischen): Bolla, Luchterhand 2025, 288 Seiten, 22 Euro.

Stadt ist nach Hof der zweite Teil der dänischen Bestseller-Trilogie von Thomas Korsgaard. Hauptfigur der Reihe ist der junge Tue, der auf einem abgelegenen Hof mit zwei jüngeren Geschwistern und seinen Eltern aufwächst. Der zweite Band macht eigentlich genau da weiter, wo der erste aufgehört hat: Mit klaren, nahezu neutralen Sätzen und lebensechten Dialogen – erneut großartig von Justus Carl und Kerstin Schöps übersetzt – konfrontiert uns Korsgaard mit der niederschmetternden Tatsache, dass niemand weiß, was innerhalb der vier Wände einer Familie stattfindet. Tue ist permanent psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt, seine psychisch kranke Mutter, die vom Vater misshandelt wird, zwängt ihm ihre Geheimnisse auf, weil sie niemanden zum Reden hat, während der Vater Tue ständig mit Worten und Taten drangsaliert. Tue, der gerade seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Jungs und Männern macht, findet keinen Weg, mit dieser Gewalt umzugehen, zieht sich in sich selbst zurück und wird immer dann, wenn er versucht, mit seiner Mutter Kontakt herzustellen, rüde abgewiesen und enttäuscht. Und trotzdem spricht aus jeder Zeile die Liebe, die er für seine Mutter empfindet, aber auch, wie sehr er seinen Vater hasst. Die Situation zu Hause spitzt sich dermaßen zu, dass seine Mutter und ihrem Teenager-Sohn dazu rät, auszuziehen. Und so macht sich Tue allein und ohne finanzielle Unterstützung auf den Weg in die Stadt zu seiner treuen Freundin Iben.
Korsgaards Trilogie lässt mich mit jedem Band gespalten zurück. Einerseits sind der dermaßen explizit und unumwunden beschriebene psychische und physischen Missbrauch kaum zu ertragen. Die Bücher lösen Widerwillen in mir aus, körperlich spürbares Unbehagen. Andererseits wird Tues Geschichte episodenhaft in kurzen Kapiteln erzählt, sodass man doch immer weiterliest, sich immer wieder sagt, dass man doch noch ein Kapitel schafft, bis man plötzlich am Ende angelangt ist, und sich darüber ärgert, dass der dritte Band voraussichtlich erst im Herbst 2026 erscheinen wird. Wenn die Übersetzung dann auch noch so gelungen ist und einen direkt in die dänische Provinz katapultiert, kann am Ende nur eine klare Empfehlung dabei herausspringen: Lest diese Reihe! – Lisa Mensing
Thomas Korsgaard/Justus Carl und Kerstin Schöps (aus dem Dänischen): Stadt, Kanon Verlag 2025, 288 Seiten, 24 Euro.
„I am malicious because I am miserable.“ Seit über 200 Jahren verzaubert und verstört Shelleys Frankenstein seine Leserschaft – und ließ eine junge Dahlia de la Cerda ihre Liebe zur Literatur entdecken. Für die mexikanische Autorin wurde das Horror-Genre zum Vehikel, um strukturelle Gewalt sichtbar zu machen. Dabei trägt sie keine Samthandschuhe: Mit Reservoir Bitches hat de la Cerda einen Kurzgeschichtenband geschaffen, der so blutig daherkommt wie Tarantinos Reservoir Dogs – nur dass sich bei ihr alles um Frauen dreht. Ihre Protagonistinnen sind keine glamourösen Heldinnen: Sie sind kompromisslose Kämpferinnen, die sich ihre Identität von niemandem diktieren lassen. Da sind Frauen, die für Likes und Karriere indigene Wurzeln vortäuschen; die zu Diebinnen und Killerinnen werden; die dem Tod davonlaufen, um sich an ihren Peinigern zu rächen; Trans-Frauen, die alles hinter sich lassen, um sie selbst sein zu können.
Die 13 miteinander verflochtenen Geschichten schafften es in der englischen Übersetzung von Heather Cleary und Julia Sanches bereits auf die Longlist des International Booker Prize. Für CulturBooks hat Johanna Malcher Reservoir Bitches ins Deutsche übertragen. Die Brutalität und Profanitäten des Originals hat Malcher effektvoll bewahrt, und auch in der deutschen Fassung begegnen uns Narcos, Buchónes, Nacas und Charros – so bleibt die so zentrale gesellschaftliche und räumliche Verortung erhalten.

Hinter dieser literarischen Wucht steht eine traurige Realität: De la Cerda musste im eigenen Umfeld einen Femizid erleben – in einem Land, das regelmäßig an der Spitze der weltweiten Statistiken zu Gewalt an Frauen steht, insbesondere Trans-Frauen. Mit feministischem Aktivismus und auch in ihrer Literatur leistet die Autorin Widerstand: In Reservoir Bitches treffen Machismo und Gewalt auf Pop, Misoprostol und Frauenbande, die über den Tod hinausreichen – ein queer-feministischer Heist auf das Patriarchat. Als Extra hat CulturBooks dem Band eine Playlist beigefügt, mit der man den Soundtrack der Geschichten nachspüren kann. El camino fue negro, pero al fin, ¡ya triunfé! – Theresa Rüger
Dahlia de la Cerda/Johanna Malcher (aus dem mexikanischen Spanisch): Reservoir Bitches, CulturBooks 2025, 184 Seiten, 22 Euro.
Jahrelang arbeitete die US-amerikanische Autorin Torrey Peters an Kurzgeschichten, die sie im Selbstverlag veröffentlichte – bis ihr während der Pandemie mit dem Debütroman Detransition, Baby der große Durchbruch gelang. Das Buch wurde gefeiert und fand auch im deutschsprachigen Raum große Beachtung. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an ihren nächsten literarischen Wurf.
Stag Dance – Ein Roman in vier Bildern unterscheidet sich deutlich von Peters’ Vorgängerwerk. Die drei Kurzgeschichten und die Novelle stammen aus den letzten zehn Jahren und wurden teils bereits veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen erneut Trans-Identitäten, Gender-Dynamiken und das Aufbrechen gesellschaftlicher Konventionen. Die vier Geschichten sind dabei sehr verschieden: Sie bedienen unterschiedliche Genres, und spielen in verschiedenen Zeiten und Welten.
Die titelgebende Novelle Stag Dance basiert lose auf historischen Begebenheiten, die Torrey Peters als Inspiration dienten. In einer holzfällenden Männergruppe findet jährlich ein Tanz statt, bei dem einige Männer Frauenkleidung tragen und umworben werden. Der Protagonist Babe Bunyan gilt als riesig, stark und etwas unbeholfen, und fühlt sich von der Vorstellung angezogen, sich beim Tanz mit anderen Männern zu verbinden. In intensiven und spannungsgeladenen Szenen entsteht ein eindrucksvolles Porträt von Rivalität, Begehren und dem Aufbrechen starrer Geschlechtergrenzen.

Das scheinbar unübersetzbare „Stag Dance“ hat Frank Sievers mit „Herrentanz“ ins Deutsche übertragen – ein etwas bieder klingendes, aber letztlich passendes Pendant. Es fügt sich gut in die historisierende, altmodische Sprache ein, mit der sich Torrey Peters in dieser Novelle beschäftigt. In den anderen Geschichten hingegen sprechen die Figuren ganz anders: Es wimmelt vor englisch-deutschem Mischmasch, inklusiven Ausdrücken und derben Beschimpfungen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich sowohl Übersetzer als auch Autorin austoben konnten. Insbesondere in einer Zeit, in der queere Communities zunehmend unter Druck geraten, wehrt sich Peters bewusst gegen die Erwartung, queere Literatur müsse stets positive oder vorbildhafte Darstellungen enthalten. Ihre Figuren zeigen Schwächen, Egoismus, Aggression oder Lächerlichkeit – genau das macht sie authentisch und menschlich. – Julia Rosche
Torrey Peters/Frank Sievers (aus dem amerikanischen Englisch): Stag Dance, Ullstein 2025, 352 Seiten, 24 Euro.