„Im Echo­raum des­sen, was ande­re geschrie­ben haben“

Luis Ruby hat schon viele Werke der brasilianischen Kultautorin Clarice Lispector übertragen; nun liegt auch „Die Passion nach G.H.“ als Neuübersetzung vor. Im Interview spricht er über Kopfzerbrechen, Obsession und Dankbarkeit. Interview:

Der Übersetzer Luis Ruby. Foto: Ebba D. Drolshagen

G.H. betritt die Kam­mer ihres ehe­ma­li­gen Haus­mäd­chens, öff­net die Tür des Klei­der­schranks – und zer­quetscht dabei eine Kaker­la­ke. Das ist alles, was die bra­si­lia­ni­sche Kult­au­torin Cla­ri­ce Lis­pec­tor (1920–77) an Plot benö­tigt, um ein beklem­mend-meta­phy­si­sches Meis­ter­werk der Moder­ne zu schaf­fen. Nach über 40 Jah­ren ist Die Pas­si­on nach G.H. nun in einer Neu­über­set­zung von Luis Ruby erschie­nen, der bereits meh­re­re Wer­ke der Autorin ins Deut­sche über­tra­gen hat.

Bevor wir zu den eigent­li­chen Fra­gen kom­men: In Ihrem TOLE­DO-Jour­nal zu Lis­pec­tors Kolum­nen haben Sie eini­ge Ihrer Lieb­lings­sät­ze unkom­men­tiert ein­ge­streut. Las­sen Sie uns das auch hier machen! Dabei kön­nen wir uns abwechseln.

Wun­der­voll!

Lis­pec­tor wird häu­fig als bra­si­lia­ni­scher Kaf­ka bezeich­net. Im Fal­le der Pas­si­on nach G.H. drängt sich dank der Kaker­la­ke eine Par­al­le­le mit der Ver­wand­lung auf, wenn man die­sen Gedan­ken wei­ter­spin­nen möch­te. Fin­den Sie, der Ver­gleich trägt?

Ich habe Die Ver­wand­lung kürz­lich bei einem Prag­a­uf­ent­halt wie­der gele­sen und sehe nicht all­zu vie­le Gemein­sam­kei­ten, aber den Ver­gleich fin­de ich inter­es­sant. Die Ver­wand­lung hat eini­ges von phan­tas­ti­scher Lite­ra­tur, wenn auch ohne die cha­rak­te­ris­ti­sche Span­nung zwi­schen ‚Rea­li­tät mit ande­ren Regeln als den bekann­ten‘, und einer Erklä­rung, die das Unbe­kann­te ein­fängt, klas­sisch etwa: ‚doch nur geträumt?‘ (sie­he Todo­rovs Begriff des für das Gen­re zen­tra­len Zwei­fels [hési­ta­ti­on]).

„Von Nahem betrach­tet, ist die Kaker­la­ke ein Gegen­stand von gro­ßem Luxus. Eine Braut aus schwar­zen Edelsteinen.“

In Die Pas­si­on nach G.H. spie­len sol­che Zwei­fel eine knap­pe Neben­rol­le (‚ist das ges­tern über­haupt­ge­sche­hen?‘) und wer­den nicht über­na­tür­lich grun­diert. Auf mich wirkt der Text wie eine direk­te Aus­sa­ge zur bekann­ten Welt, wenn auch meta­phy­sisch und/oder meta­pho­risch geprägt. Die typisch kaf­ka­es­ke Aus­ein­an­der­set­zung mit einem undurch­sich­ti­gen Appa­rat (an Regeln, an ver­wal­te­ri­schen Instan­zen und Hin­der­nis­sen) fehlt in der Pas­si­on kom­plett. In der Ver­wand­lung hin­ter­legt sie, wie­wohl nicht zen­tral, Gre­gor Sams­as Ver­hält­nis zu sei­ner Arbeit und auch das Außen­ver­hält­nis von Nebenfiguren.

Wie haben Sie zu Lis­pec­tor gefunden?

Tat­säch­lich beim Über­set­zen. Im Vor­lauf des bra­si­lia­ni­schen Gast­land­auf­tritts auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se 2013 hat­te Corin­na San­ta Cruz mich gefragt, ob ich mir vor­stel­len könn­te, etwas von Cla­ri­ce zu über­set­zen – der Schöff­ling Ver­lag nahm einen neu­en Anlauf, leg­te den Erst­ling der Autorin, Nahe dem wil­den Her­zen, in der Über­set­zung von Ray-Güde Mer­tin neu auf – über­ar­bei­tet von Corin­na, die auch mei­ne Über­set­zung von Der Lüs­ter redi­gier­te. Dazu erschien auf Deutsch Ben­ja­min Mosers Bio­gra­phie Why This World (deutsch von Bernd Rull­köt­ter unter dem Titel: Cla­ri­ce Lis­pec­tor. Eine Bio­gra­phie, Schöff­ling 2013).

Die­ser breit ange­leg­te Ver­such, die Autorin, von der seit den 60er Jah­ren etli­che Wer­ke bei Cla­as­sen, spä­ter auch Suhr­kamp erschie­nen waren, bei uns (noch­mal) bekannt­zu­ma­chen, war auch für mich ein viel­sei­ti­ger Anfang im Aus­tausch mit den ande­ren Betei­lig­ten. Dass die Autorin schwer zu über­set­zen ist, hat­te ich gehört und erleb­te ich schnell. Aber mir schien doch auch, dass ich mich auf ihre Art, wahr­zu­neh­men und zu schrei­ben, ein­las­sen kann, und bei der Arbeit am Lüs­ter kris­tal­li­sier­ten sich Grund­zü­ge eines text­na­hen Über­set­zens her­aus, das Geschmei­dig­keit eher in Klar­heit und Prä­gnanz sucht (im Feh­len von Unnö­ti­gem) als in einer auf­fül­len­den Glattheit.

„Ich wer­de in die­ser schlaf­wand­le­ri­schen Spra­che spre­chen, die, wenn ich wach wäre, nicht Spra­che wäre.“

Ihre Über­set­zung der Pas­si­on nach G.H. ist nicht die ers­te deut­sche Fas­sung. 1984 brach­te der Lilith Ver­lag den Roman in einer Über­set­zung von Chris­tia­ne Schrüb­bers her­aus, 1990 erschien eine Suhr­kamp-Auf­la­ge, edi­tiert von Sari­ta Brandt. Inwie­weit haben Sie sich dar­an abgearbeitet?

Das Stich­wort Glatt­heit von eben bezieht sich nicht auf ande­re Über­set­zun­gen von Cla­ri­ce Lis­pec­tor, son­dern auf eine Ten­denz, die ich bei schwie­ri­gen Tex­ten gele­gent­lich beob­ach­te, ob auf Über­set­zer­sei­te oder ver­lags­sei­tig.  Im Fall der Pas­si­on habe ich mich mit der frü­he­ren Über­set­zung kaum beschäf­tigt. Sie lag mir nicht vor, und ich hat­te wenig Zeit.

„Was immer kom­men moch­te, ich hät­te jeder­zeit kochen­des Was­ser parat.“

Vor allem aber erfor­dern Neu­über­set­zun­gen mei­nes Erach­tens kei­nen Bezug zu vor­an­ge­gan­ge­nen, wenn auch durch­aus zur Geschich­te des Ori­gi­nal­texts (also zu deren ‚Leben‘ seit Erschei­nen). Jede Über­set­zung eines star­ken Tex­tes – was das sein soll, wäre ein eige­nes The­ma – wird so oder so unter­schied­lich aus­fal­len. Dazu kom­men Eigen­hei­ten der über­set­zen­den Per­so­nen, deren Kön­nen (und wie es sich in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Text ent­wi­ckelt) und deren Sub­jek­ti­vi­tät. Gewiss kann man auch aus dem Aus­tausch mit ande­ren Über­set­zun­gen ler­nen. In die­sem Fall hat­te ich nur eini­ge schlag­licht­ar­ti­ge Ein­drü­cke beim Bespre­chen der Redak­ti­on, wenn mei­ne Lek­to­rin mir frag­li­che Stel­len zum Ver­gleich vor­las. Bei­läu­fig also schien mir, dass es sich um eine durch­dach­te, ernst­haf­te Über­set­zung han­delt, mit der Nei­gung, ein wohl­erwo­ge­nes Ver­ständ­nis zu übermitteln.

Ich weiß nicht, ob mei­ne kur­so­ri­schen Ein­drü­cke da etwas Wesent­li­ches erfasst haben. Gene­rell liegt es bei Erst­über­set­zun­gen wohl nahe, nicht ganz so tole­rant für die Unmit­tel­bar­keit, das Offe­ne und unter­schied­lich zu Erschlie­ßen­de an einem kom­pli­zier­ten Text zu sein; sei­ne Auf­ga­be stär­ker im Ver­mit­teln zu sehen. Und auch von außen wird dies eher erwartet.

Über­set­zun­gen kön­nen Autor*innen ein zwei­tes Leben ein­hau­chen (oder ein drit­tes, vier­tes,  …). Die Pas­si­on nach G.H. erschien 1964 im bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch. Was zeich­net die (Re-)Lektüre im Jahr 2025 aus?

Was mei­ne Über­set­zung betrifft, ein biss­chen ein blö­der Stan­dard­satz, aber auch wahr: Das mögen ande­re ent­schei­den? Das Aus­hal­ten von (lite­ra­ri­schen) Zumu­tun­gen und von Offe­nem, ohne Belie­big­keit, wür­de ich hof­fen. Ein Wis­sen­wol­len, soweit es geht, aber kei­ne erzwun­ge­ne Klä­rung. Auch Schwie­ri­gem und Unbe­stimm­tem kann man sich anver­trau­en, wenn es in sich stim­mig ist. Über­set­zun­gen schei­nen einem ja Ent­schei­dun­gen auf­zu­drän­gen, die man als Leser eines Werks nicht tref­fen muss: Etwas könn­te so oder so ver­stan­den wer­den, viel­leicht auch noch anders. Die­sen Reich­tum nicht zu ver­kür­zen, ist wün­schens­wert – wie das geht, eine uner­schöpf­li­che Auf­ga­be. Wo aber etwas klar zu ver­ste­hen ist (nur eben schwie­rig), da wäre ver­meint­li­che Offen­heit fehl am Platz.

Als Leser nur von jetzt (nicht von 1964 oder dazwi­schen) wür­de ich ver­mu­ten, dass Cla­ri­ce Lis­pec­tor 2025 sowohl inhalt­lich zu lesen ist als auch mit Fokus auf ihre Spra­che, das Denk- und Fühl- oder Wahr­neh­mungs­werk zusam­men mit dem (oder als) Kunstwerk.

„Sich ver­lie­ren, ist ein gefähr­li­ches Sich-Finden.“

Die Autorin und Über­set­ze­rin Lydia Davis schrieb ein­mal: „The trans­la­ti­on pro­blems that you have strug­g­led with the har­dest, per­haps never satis­fied with your solu­ti­ons, will stay with you for years — you can count on it.“ Geht es Ihnen auch so? Kön­nen Sie eini­ge kon­kre­te Bei­spie­le aus der Über­tra­gung der Pas­si­on nach G.H. nen­nen, die Ihnen Kopf­zer­bre­chen berei­tet haben (oder auch ein­fach beson­de­re krea­ti­ve Freude)?

Erheb­li­ches Kopf­zer­bre­chen gleich am Anfang die ‚des/organização‘ – da heißt es auf der ers­ten Sei­te (hilfs­wei­se wört­lich): „Ich habe Angst vor die­ser so tie­fen des­or­ga­ni­za­ção“, und wei­ter unten: „Das wür­de ich ger­ne des­or­ga­ni­za­ção nen­nen […], weil ich danach wüss­te, wohin ich zurück­keh­ren wür­de: zu der orga­ni­za­ção von davor.“ Die Lösung war eher kon­se­quent als befrie­di­gend: ‚Un/Ordnung‘ braucht man für das äqui­va­len­te des/ordem im Text, und außer­dem geht es, wie sich nach und nach zeigt, um ein Kon­zept der Per­son, die sich oder zu der sich etwas Unbe­stimm­te­res ‚orga­ni­siert‘ Mich stört die­ser son­der­ba­re, bes­ten­falls ver­kopf­te Aus­druck auf der ers­ten Sei­te durch­aus, aber er steht da, ver­zweigt sich wei­ter, und an mir ist es, ihn und die­ses gan­ze Geflecht zu übermitteln.

Span­nend fand ich, was man mit abso­lu­ten Neo­lo­gis­men macht, die ihrer­seits auch in etwas Wei­te­res ein­ge­bun­den sind: Das Wort ‚sen­ti­men­ta­ção‘ z.B. ist ana­log gebil­det zu ‚huma­ni­za­ção‘ (‚Ver­mensch­li­chung‘), das dane­ben steht. Nach lan­gen Expe­ri­men­ten und Abwä­gun­gen wur­de dar­aus ‚Ver­füh­li­gung‘. (‚Ver­füh­lung‘ wäre zu nah an ‚Ver­füh­rung‘, im Ori­gi­nal klingt nichts Der­ar­ti­ges mit.) Spä­ter hat man dann noch das Par­ti­zip ‚ver­füh­ligt‘. Das sind alles kei­ne Ein­zel­fäl­le, die­se Sprach­ar­beit zieht sich mit ihrer eige­nen Sys­te­ma­tik oder Schlüs­sig­keit durch den Text. Wie gut bestimm­te Lösun­gen funk­tio­nie­ren, mag jede/r im Kon­text so oder anders emp­fin­den. Ich ver­su­che vor allem zugäng­lich zu machen, was da gespielt wird, und wie.

In Ihrem Nach­wort zum Roman Der Lüs­ter schrei­ben Sie, Wie­der­ho­lun­gen gäben bei der Lek­tü­re „Halt im Befremd­li­chen“. Auch in der Pas­si­on nach G.H. voll­zieht die Erzäh­le­rin eine krei­sen­de, repe­ti­ti­ve Such­be­we­gung. Füh­ren Sie beim Über­set­zen Wort­lis­ten, um nicht den Faden zu verlieren?

Nicht direkt Lis­ten, aber Wie­der­ho­lun­gen sind mir wei­ter­hin sehr wich­tig, und ich ach­te dar­auf, sie auf­zu­neh­men; eben­so dar­auf, Varia­ti­on als Varia­ti­on zu über­mit­teln, sozu­sa­gen die ande­re Sei­te der Medail­le. Dank elek­tro­ni­scher Datei­en ist das (im Ver­gleich zum Umgang mit gedruck­ten Büchern) rela­tiv leicht anzu­pa­cken. Man muss sich die Mühe machen und schau­en, dass die Kos­ten im jewei­li­gen sprach­li­chen Umfeld begrenzt blei­ben, wo wie­der­keh­ren­de Ele­men­te nicht immer gleich gut passen.

„Das Wachen der Kaker­la­ke war Leben, das leb­te, mein eige­nes Leben, das wachend sich lebte.“

In der Pas­si­on spie­len Wie­der­ho­lun­gen noch eine ande­re Rol­le: Cla­ri­ce Lis­pec­tors Tex­te haben einen spe­zi­fi­schen Flow (den des poe­ti­schen Blicks am Anfang von Der Lüs­ter, den aus der gedank­li­chen und emo­tio­na­len Beweg­lich­keit vie­ler ihrer Erzäh­lun­gen und Kolum­nen). Hier aber stört das Obses­si­ve den Fluss. Und bekommt durch die Que­run­gen und Span­nun­gen zwi­schen obses­si­ver Wie­der­ho­lung und Abwei­chung einen eige­nen Rhythmus.

„Nein, Lieb­ling, das tat nicht, wie man so sagt, gut. Das tat, wie man sagt, schlecht. Wirk­lich sehr, sehr schlecht.“

Lis­pec­tor las bekann­ter­ma­ßen nicht ger­ne Über­set­zun­gen ihrer eige­nen Wer­ke – sie war nur sel­ten zufrie­den mit dem, was sie vor­fand (genau zwei Mal, wenn man einem Inter­view mit Jor­ge Ama­do trau­en darf). Spür­ten Sie den (ima­gi­nä­ren) kri­ti­schen Blick der Autorin beim Über­set­zen mit­un­ter im Nacken?

„Da stand ich ohne Aus­weg, in die Enge getrie­ben von der Son­ne, die mir jetzt auf den Nacken­haa­ren brann­te, in einem tro­cke­nen Ofen namens zehn Uhr vormittags.“

Könn­te sie Deutsch, wäre das ver­mut­lich nicht nur ange­nehm für den Über­set­zer. Wobei ich Cla­ri­ces angeb­li­che Unzu­frie­den­heit mit Über­set­zun­gen nicht auf die Gold­waa­ge legen wür­de. Im Gegen­teil, die Mög­lich­keit eines Aus­tauschs dar­über wäre sehr inter­es­sant, zumin­dest etli­che Ver­su­che wert. Im Traum.

In der Wirk­lich­keit feh­len den meis­ten Autoren die Mit­tel, Über­set­zun­gen in ande­re Spra­chen ein­zu­schät­zen. Zum Glück wis­sen sie das im Nor­mal­fall auch. Aus­kunft über ihr eige­nes Werk geben vie­le ger­ne, und ich bin dafür sehr dank­bar. Bei Cla­ri­ce Lis­pec­tor muss sich die Dank­bar­keit nun auf das beschrän­ken, was da steht (in ihren Wer­ken und in ein paar Inter­views). Auch hier ist die Dank­bar­keit groß.

In Ihrem TOLE­DO-Jour­nal beto­nen Sie, wie wich­tig es war, sich mit Kolleg*innen und Lektor*innen über Ihre Arbeit aus­zu­tau­schen. War das auch dies­mal der Fall? Wür­den Sie Über­set­zen gene­rell als kol­la­bo­ra­ti­ven Pro­zess bezeichnen?

Der Aus­tausch mit Corin­na San­ta Cruz rund um ihre Redak­ti­on war bei der Pas­si­on inten­si­ver und wich­ti­ger denn je: weil die­ses Buch so sper­rig ist oder weil es so weit ins kaum zu Wis­sen­de und/oder zu Sagen­de zu grei­fen ver­sucht; und auch weil ich sehr mit einem ande­ren gro­ßen Pro­jekt beschäf­tigt war (Boc­c­ac­ci­os Deka­me­ron) und den Dia­log brauch­te, um mich zwi­schen­durch ganz die­sem Werk zuzu­wen­den. Auch Ange­li­ka Sche­del, die zustän­di­ge Lek­to­rin bei Pen­gu­in, hat zum Schluss noch ihre sehr prä­zi­se Text­wahr­neh­mung eingebracht.

„Ich schmeck­te voll­auf nach Stahl und Grün­span, war voll und ganz sau­er wie ein Metall auf der Zun­ge, wie eine grü­ne Pflan­ze, die zer­quetscht wird, mein Geschmack stieg mir ganz in den Mund.“

Schon 2023 waren im Rah­men der Deutsch-Bra­si­lia­ni­schen Über­setz­er­werk­statt in Para­ty weni­ge Sei­ten die­ser Über­set­zung in einem frü­hen Sta­di­um dis­ku­tiert wor­den, und auch den Betei­lig­ten dort bin ich dank­bar. Das sind alles unter­schied­li­che Rol­len und Bei­trä­ge, aber ja, kol­la­bo­ra­ti­ve Ele­men­te sind wert­voll. Ein Groß­teil des Pro­zes­ses spielt sich gleich­wohl allein ab – allein mit dem Text und dem Werk (der Autorin) – im Echo­raum des­sen, was ande­re geschrie­ben haben.

Es erschei­nen momen­tan diver­se Büche von Übersetzer*innen über das Über­set­zen, auf TraLaLit haben wir unter ande­rem eine Rezen­si­on zu The Phi­lo­so­phy of Trans­la­ti­on von Fos­se-Über­set­zer Dami­on Searls ver­öf­fent­licht. Haben Sie eine eige­ne „Phi­lo­so­phie“ der Über­set­zung? Oder blei­ben Sie lie­ber ganz kon­kret am Text?

Kon­kret am Text zu blei­ben, ist sozu­sa­gen der Kern mei­nes Ansat­zes. Es ist ein Blei­ben in Bewe­gung (theo­re­tisch gesagt: im her­me­neu­ti­schen Zir­kel), mit Fra­gen nach außen zum Text selbst, nicht aber mit Fra­gen von außen an ihn. Die Bewe­gung schöpft aus der Wahr­neh­mung. Wie man die­se frei­set­zen und anrei­chern kann, beschäf­tigt mich weit über das Über­set­zen hin­aus, das mich wie­der­um eini­ges dazu gelehrt hat. Viel­leicht schrei­be ich ja mal was darüber.

Immer wich­ti­ger wird mir, wie ein Text klingt, was natür­lich auch mit den Qua­li­tä­ten bestimm­ter Autoren zu tun hat (Cla­ri­ce Lis­pec­tor und Boc­c­ac­cio sind da bei­de prä­gend). Ich mei­ne wirk­lich: wie der Text gespro­chen klingt, und dar­an arbei­te ich inten­siv im letz­ten Durch­gang einer Übersetzung.

„Es war eine Suche nach jeman­dem zum Spie­len, der Wunsch nach Ver­tie­fung der Luft, danach, mit ihr in tie­fe­ren Kon­takt zu kom­men, die Luft, die nicht dazu da ist, ver­tieft zu wer­den, deren Bestim­mung es ist, genau so in der Schwe­be zu bleiben.“

Ich war erst kürz­lich in einer Buch­hand­lung, in der die Rega­le nach Ländern/Regionen sor­tiert waren. Dort fand ich Lis­pec­tor neben Lis­pec­tor neben Lis­pec­tor. Und ansons­ten spa­nisch­spra­chi­ge Titel aus ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern. War­um ist bra­si­lia­ni­sche Lite­ra­tur häu­fig so unter­re­prä­sen­tiert? Und zuletzt: Haben Sie Emp­feh­lun­gen für ande­re Titel, die aus dem bra­si­lia­ni­schen Por­tu­gie­sisch über­setzt wurden?

Ich ken­ne lei­der viel zu wenig an bra­si­lia­ni­scher Lite­ra­tur. Dass wenig davon auf Deutsch vor­liegt, hat ver­mut­lich damit zu tun, dass sel­ten Ver­la­ge glau­ben, sie ver­kau­fen zu kön­nen – sicher­lich auch aus Unkennt­nis und kul­tu­rel­ler Fer­ne, aber pri­mär aus Man­gel an För­de­rung. Es fehlt an einer kon­sis­ten­ten Über­set­zungs­för­de­rung, wie sie von stär­ker im Aus­land ver­tre­te­nen Län­dern wie Nor­we­gen oder den Nie­der­lan­den erfolg­reich betrie­ben wird; wie sie auch von Argen­ti­ni­en lan­ge Zeit ver­läss­lich (wenn auch in klei­ne­rem Aus­maß) betrie­ben wurde.

„Da, ehe ich ver­stand, bekam ich ein grau­es Herz, so wie man graue Haa­re bekommt.“

In Deutsch­land wie­der­um fehlt es an einer För­de­rung lite­ra­ri­scher Viel­falt, die sich damit mes­sen könn­te, wie ande­re Küns­te durch öffent­li­che Büh­nen, öffent­li­che Muse­en, öffent­lich finan­zier­te Fil­me, Rund­funk etc. ermög­licht wer­den. Das zu ändern, wird in Zei­ten knap­per – wenn auch stän­dig expan­die­ren­der – Haus­halts­mit­tel nicht ein­fach. Ich den­ke aller­dings, dass es auf Dau­er ent­schei­dend dafür sein wird, ein brei­tes und diver­ses Spek­trum an inter­na­tio­na­ler Lite­ra­tur auf Deutsch lesen zu kön­nen. Der Buch­markt allein wird das nicht tra­gen. Auch hier hilft der Blick über die Gren­zen auf erfolg­rei­che För­der­struk­tu­ren anders­wo, z.B. in der Schweiz.

Emp­feh­len möch­te ich die Roma­ne von Luiz Ruf­f­ato in der Über­set­zung von Micha­el Kegler.


Luis Ruby

1970 in Mün­chen gebo­ren, über­setzt neben Cla­ri­ce Lis­pec­tor Autoren wie Hernán Ron­si­no, Isaac Rosa und Nic­colò Amma­ni­ti. Er wur­de für sei­ne Arbeit u.a. mit dem Baye­ri­schen Kunst­för­der­preis und dem Münch­ner Lite­ra­tur­sti­pen­di­um ausgezeichnet.


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