Es gibt etwa 7000 Sprachen auf der Welt, doch nur ein winziger Bruchteil davon wird ins Deutsche übersetzt. Wir interviewen Menschen, die Meisterwerke aus unterrepräsentierten und ungewöhnlichen Sprachen übersetzen und uns so Zugang zu wenig erkundeten Welten verschaffen. Alle Beiträge der Rubrik findet ihr hier.
Wie haben Sie Filipino bzw. Tagalog gelernt?
Ein standardisiertes Diplom wie die chinesischen HSK-Prüfungen gibt es nicht. Im Sommer 1991 lernte ich mit dem einzigen Lehrbuch, das in Zürich zu kaufen war, um eine Reise vorzubereiten. Später sagte mir eine philippinische Freundin „Leg dieses Buch weg, das ist koloniale Grammatik“ – also der Versuch, mit Begriffen einer indoeuropäischen Grammatik eine austronesische Sprache zu ordnen, die ganz anders aufgebaut ist.
Im April 1992 belegte ich an der University of the Philippines einen Masterstudiengang in Women and Development Studies. Eigentlich wären alle ausländischen Studierenden verpflichtet gewesen, die Nationalsprache Filipino zu lernen, aber die Regel wurde nicht durchgesetzt. Schon nach einem Semester hatte der Kurs zu wenig Teilnehmende und wurde ausgesetzt. Der allgemeine Unterricht fand auf Englisch statt. Eine japanische Kollegin sagte, wirklich gute Kurse für Filipino gäbe es nur in den Missionarsschulen. Da wollte ich nicht hin, so blieb mein Filipino ein Alltags-Taglish – also ein Gemisch aus Englisch und der Regionalsprache Tagalog, auf der Filipino beruht.
Nach dem Abschluss kehrte ich Ende 1994 in die Schweiz zurück. Erst 2012 begann ich erneut mit dem Sprachenlernen, weil ich an einem Roman über José Rizal arbeitete, der 1886 den „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller von Deutsch auf Tagalog übersetzt hatte. Diesmal befolgte ich den Rat der japanischen Kollegin und buchte mangels Alternativen zweimal längere Intensivkurse an einer Sprachschule für Missionar:innen in Metro Manila. Darauf folgten selbstorganisierte Skype-Lektionen mit einer Filipino-Studentin sowie Sprach-Tandems in Zürich.
Wie sieht die philippinische Literaturszene aus?
Auf den Philippinen werden offiziell 130 Sprachen gesprochen, davon sind acht regionale Verkehrssprachen. Mindestens in diesen größeren Sprachen gibt es aktive Literaturszenen mit kleinen Verlagen und Festivals. Ich selbst kann aber nur Filipino und Englisch lesen. Da es in den Filialen der Buchhandelsketten überwiegend importierte Bücher auf Englisch zu kaufen gibt, muss man sich bei jedem Besuch über Ausflüge in die wenigen richtig guten Buchläden, durch Gespräche und Internet-Recherchen neue Einblicke verschaffen. Einige große Literaturpreise (National Book Award oder Palanca) treffen eine Auswahl. Wichtig sind die Institute für Creative Writing an den großen Universitäten in Metro Manila, Dumaguete, Davao, Iloilo, Naga, Cebu, Sultan Kudarat, Baguio und anderen Städten.
Inzwischen publizieren die größeren Verlage auch E‑Books. Viele junge Autor:innen veröffentlichen am Anfang über digitale Plattformen wie Tumblr und WhatPad. Die wichtigsten kommerziellen Verlage verlangen ein (sehr hohes) Mindestmaß an Followers, bevor sie eine Autorin überhaupt in Betracht ziehen. Anders gehen die Universitätsverlage vor, da sind Empfehlungen aus den Creative-Writing-Kursen wichtig. Besonders aufregend sind kleine, unabhängige Verlage und Zines, die von Autor:innen und Kollektiven ins Leben gerufen werden.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Bisher sind nur vier Übersetzungen vom Filipino ins Deutsche greifbar. Zwei davon sind Romane, die ganz unterschiedliche literarische Tendenzen aufzeigen. Die 70er von Lualhati Bautista ist ein berührender Roman aus dem Jahr 1983. Man merkt ihm an, dass die Autorin auch Drehbuchautorin war – die Ereignisse steigern sich in Kaskaden. Das Original wurde in kleinem Format auf Zeitungspapier gedruckt, um für ein breites Publikum erschwinglich zu sein. Der Monolog einer Mutter, die über ihre fünf Söhne die Gewalt der Marcos-Diktatur miterlebt, hat selbst zur wachsenden Kritik an diesem Regime beigetragen. Ferdinand Marcos Sr. wurde 1986 gestürzt.
Das Meer der Aswang von Allan N. Derain ist 2021 erschienen. Der Autor baut auf Dokumentationen der indigenen, mündlichen Literatur auf. In diesem Bereich hat sich in den vergangenen dreißig Jahren unglaublich viel getan. Derain schreibt modern in dem Sinn, dass sein Schreiben von einem Nachdenken darüber unterfüttert ist, wer in einem Text wie erzählt. So verbindet der Autor überlieferte Epen der philippinischen Insel Panay mit der Gegenwart, mit Fragen über das Verhältnis von Menschen zu Wäldern, zu Tieren, Geistern und Monstern. Nicht zuletzt kommt in der Geschichte eines 15-jährigen Mädchens, das sich in ein Krokodil verwandelt, eine Überlebenswut zur Sprache, die Seite für Seite in Sprachwitz umschlägt.
Was ist noch nicht übersetzt?
In den 1960er-Jahren erlebte die Literatur auf Filipino (Tagalog) eine Renaissance. Sozial engagierte Autoren prägten einen expressionistischen, harten Stil, der sich explizit von einer weicheren, gefühlsbetonten Prosa populärer Liebesromane abhob. Ein bekannter Vertreter dieser Richtung war Edgardo M. Reyes. Die Verfilmung seines Romans Maynila – Sa Mga Kuko Ng Liwanag (Manila – In den Krallen des Lichts) durch Lino Brocka wurde in die Auswahl von „Cannes Classic“ aufgenommen und erlaubt einen Einblick in die Ästhetik dieser Generation.
Im 19. Jahrhundert hat Francisco Balagtas Versepen geschrieben. Er nahm einheimische Versmaße auf, orientierte sich aber auch an spanischer, beziehungsweise mexikanischer Barocklyrik. In Florante at Laura evoziert er ein antikes Albanien, in dem sich griechische und persische Helden und Heldinnen in einen Urwald retten und zusammenfinden: Ein unglaublicher Remix aus Traditionslinien, die in der Hafenstadt Manila zusammenkamen.
Obwohl sich heute das Englische als Bildungssprache hält und in mittelständischen Milieus oft auch Familiensprache ist, wächst die Literatur auf Filipino – nicht zuletzt dank einer lebendigen Hip Hop- und Spoken-Word-Szene. Verschiedene Formen von Kurzprosa sind bei Leser:innen sehr beliebt (sogenannte Dagli, aber auch blog-ähnliche Erzählungen aus den Golfstaaten, Singapur, Europa oder Nordamerika, wo viele philippinische „Overseas Contract Workers“ arbeiten). Aktuell weiten sich in den publizierten Romanen die Themenfelder und sprachlichen Ausdrucksformen, man darf gespannt sein.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Tagalog/Filipino? Wie gehen Sie damit um?
Grammatikalische Schwierigkeiten sind gleichzeitig herausfordernd und bewusstseinserweiternd. Ein einzigartiges Verbensystem hat Linguist:innen seit Wilhelm von Humboldt fasziniert. Es zwingt dazu, sich Handlungen sehr genau vorzustellen, bevor man sie in einen deutschen Satz kleidet. Ein philosophisches Abenteuer ist die Einsicht, dass der Gegensatz von Aktiv und Passiv eine reine Konvention ist – Handlungen und Geschehnisse können auch in einem viel feinstufigeren Kontinuum eingeordnet werden.
Wie viele Sprachen hat auch Filipino kein grammatikalisches Geschlecht, von spanischen Lehnworten abgesehen. Oft ist es schmerzhaft, diese Offenheit im Deutschen vereindeutigen zu müssen. Sie fordert aber auch dazu heraus, für jeden Text passende Formen zu suchen, um am Korsett des generischen Maskulinums zu rütteln.
Zu den strukturellen Schwierigkeiten zählt die schwache institutionelle Abstützung der Sprache: Ein monolinguales Wörterbuch vom Standard eines Webster oder Duden steht aus. Etymologische Wörterbücher sind Flickwerk und schwer zugänglich. Aktuell breiten sich kurzlebige digitale Wörterverzeichnisse aus, die mit Machine-Learning-Programmen betrieben werden. Das alles in der Kombination Filipino-Englisch. Den Sprung ins Deutsche muss ich also selbst vollziehen und mir dafür eigene Arbeitsinstrumente erstellen.
Die Abwesenheit allgemein anerkannter Diplome heißt auch, dass der Aufbau von Vertrauen in meine Arbeit über persönliche Beziehungen sowie individuelle Auskünfte von Autor:innen und Autoritätspersonen erfolgt. Das ist ein bisschen wie „Street Credibility“: Ziemlich fragil.
Auch diese institutionellen Schwächen haben aber ihre Vorteile. Das Gefühl, etwas neu aufzubauen, ist beflügelnd. Die Abwesenheit von Standards und respektheischenden Vorbildern eröffnet auch einen großen Freiraum. Zur Vertiefung und Verfeinerung der eigenen Arbeit ist der Aufbau einer Community von professionell Übersetzenden, die sich untereinander austauschen, kritisieren und inspirieren, aber unabdingbar.
Was kann Tagalog/Filipino, was Deutsch nicht kann?
Wie das Indonesische hat auch Filipino zwei Formen für das Pronomen „wir“. Eine inklusive Form schließt die angesprochene Person mit ein, die exklusive Form schließt sie von der Aussage aus. Wenn ich an dieser Stelle von „uns Schweizer:innen“ schreibe, werden sich nicht alle Leser:innen inkludiert fühlen. Diese Feinheit kann in ganz privaten, aber auch öffentlichen Situationen klärend wirken. Sie hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich sehr viel genauer hinhöre, wenn in einer politischen Ansprache das Wort „wir“ vorkommt.
Mir scheint, dass Filipino über sehr viele fein abgestimmte Verben für Berührungen verfügt, die ich auf Deutsch bisher mit „anfassen“, „anstupsen“, „streicheln“ übersetze und dabei weiß, dass das viel zu grob ist. Wie das Deutsche in diesem Bereich zärtlicher und sprechender werden könnte, ist ein Projekt für künftige Übersetzungen.

Annette Hug ist 1970 in Zürich geboren. Sie hat in Zürich Geschichte und in Manila „Women and Development Studies“ studiert. Nach Tätigkeiten als Dozentin und Gewerkschaftssekretärin lebt sie seit Januar 2015 als freie Autorin. Ihr dritter Roman „Wilhelm Tell in Manila“ (Wunderhorn, 2016) stellt einen übersetzer ins Zentrum: Der philippinische Schriftsteller José Rizal, wie er 1886 Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ ins Tagalog übertrug. Für diesen Roman wurde sie 2017 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Alle zwei Wochen erscheint in der Wochenzeitung WOZ Hugs Kolumne „Ein Traum der Welt“. Seit 2024 veröffentlicht sie Übersetzungen von Filipino (Tagalog) ins Deutsche: Gediche von Luna Sicat Cleto, eine historische Novelle von Isabelo de los Reyes, sowie die Romane „Das Meer der Aswang“ von Allan N. Derain und „Die 70er“ von Lualhati Bautista.
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