Gro­ße klei­ne Spra­che Fili­pi­no (Tag­a­log)

Die Philippinen, Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2025, sind sprachlich äußerst vielfältig: Offiziell werden rund 130 Sprachen gesprochen. Doch selbst über die Nationalsprache Filipino, die auf Tagalog basiert, ist hierzulande nur wenig bekannt. Von

„Pesca con el Sarambao“ (1847) von José Lozano Honorato, einem philippinischen Künstler und Illustrator. Quelle: Wikimedia Commons.

Es gibt etwa 7000 Spra­chen auf der Welt, doch nur ein win­zi­ger Bruch­teil davon wird ins Deut­sche über­setzt. Wir inter­view­en Men­schen, die Meis­ter­wer­ke aus unter­re­prä­sen­tier­ten und unge­wöhn­li­chen Spra­chen über­set­zen und uns so Zugang zu wenig erkun­de­ten Wel­ten ver­schaf­fen. Alle Bei­trä­ge der Rubrik fin­det ihr hier.

Wie haben Sie Fili­pi­no bzw. Tag­a­log gelernt?

Ein stan­dar­di­sier­tes Diplom wie die chi­ne­si­schen HSK-Prü­fun­gen gibt es nicht. Im Som­mer 1991 lern­te ich mit dem ein­zi­gen Lehr­buch, das in Zürich zu kau­fen war, um eine Rei­se vor­zu­be­rei­ten. Spä­ter sag­te mir eine phil­ip­pi­ni­sche Freun­din „Leg die­ses Buch weg, das ist kolo­nia­le Gram­ma­tik“ – also der Ver­such, mit Begrif­fen einer indo­eu­ro­päi­schen Gram­ma­tik eine aus­tro­ne­si­sche Spra­che zu ord­nen, die ganz anders auf­ge­baut ist. 

Im April 1992 beleg­te ich an der Uni­ver­si­ty of the Phil­ip­pi­nes einen Mas­ter­stu­di­en­gang in Women and Deve­lo­p­ment Stu­dies. Eigent­lich wären alle aus­län­di­schen Stu­die­ren­den ver­pflich­tet gewe­sen, die Natio­nal­spra­che Fili­pi­no zu ler­nen, aber die Regel wur­de nicht durch­ge­setzt. Schon nach einem Semes­ter hat­te der Kurs zu wenig Teil­neh­men­de und wur­de aus­ge­setzt. Der all­ge­mei­ne Unter­richt fand auf Eng­lisch statt. Eine japa­ni­sche Kol­le­gin sag­te, wirk­lich gute Kur­se für Fili­pi­no gäbe es nur in den Mis­sio­nars­schu­len. Da woll­te ich nicht hin, so blieb mein Fili­pi­no ein All­tags-Tag­lish – also ein Gemisch aus Eng­lisch und der Regio­nal­spra­che Tag­a­log, auf der Fili­pi­no beruht. 

Nach dem Abschluss kehr­te ich Ende 1994 in die Schweiz zurück. Erst 2012 begann ich erneut mit dem Spra­chen­ler­nen, weil ich an einem Roman über José Rizal arbei­te­te, der 1886 den „Wil­helm Tell“ von Fried­rich Schil­ler von Deutsch auf Tag­a­log über­setzt hat­te. Dies­mal befolg­te ich den Rat der japa­ni­schen Kol­le­gin und buch­te man­gels Alter­na­ti­ven zwei­mal län­ge­re Inten­siv­kur­se an einer Sprach­schu­le für Missionar:innen in Metro Mani­la. Dar­auf folg­ten selbst­or­ga­ni­sier­te Sky­pe-Lek­tio­nen mit einer Fili­pi­no-Stu­den­tin sowie Sprach-Tan­dems in Zürich.

Wie sieht die phil­ip­pi­ni­sche Lite­ra­tur­sze­ne aus?

Auf den Phil­ip­pi­nen wer­den offi­zi­ell 130 Spra­chen gespro­chen,  davon sind acht regio­na­le Ver­kehrs­spra­chen. Min­des­tens in die­sen grö­ße­ren Spra­chen gibt es akti­ve Lite­ra­tur­sze­nen mit klei­nen Ver­la­gen und Fes­ti­vals. Ich selbst kann aber nur Fili­pi­no und Eng­lisch lesen. Da es in den Filia­len der Buch­han­dels­ket­ten über­wie­gend impor­tier­te Bücher auf Eng­lisch zu kau­fen gibt, muss man sich bei jedem Besuch über Aus­flü­ge in die weni­gen rich­tig guten Buch­lä­den, durch Gesprä­che und Inter­net-Recher­chen neue Ein­bli­cke ver­schaf­fen. Eini­ge gro­ße Lite­ra­tur­prei­se (Natio­nal Book Award oder Palan­ca) tref­fen eine Aus­wahl. Wich­tig sind die Insti­tu­te für Crea­ti­ve Wri­ting an den gro­ßen Uni­ver­si­tä­ten in Metro Mani­la, Duma­gue­te, Davao, Iloi­lo, Naga, Cebu, Sul­tan Kuda­rat, Baguio und ande­ren Städten.

Inzwi­schen publi­zie­ren die grö­ße­ren Ver­la­ge auch E‑Books. Vie­le jun­ge Autor:innen ver­öf­fent­li­chen am Anfang über digi­ta­le Platt­for­men wie Tumb­lr und What­Pad. Die wich­tigs­ten kom­mer­zi­el­len Ver­la­ge ver­lan­gen ein (sehr hohes) Min­dest­maß an Fol­lo­wers, bevor sie eine Autorin über­haupt in Betracht zie­hen. Anders gehen die Uni­ver­si­täts­ver­la­ge vor, da sind Emp­feh­lun­gen aus den Crea­ti­ve-Wri­ting-Kur­sen wich­tig. Beson­ders auf­re­gend sind klei­ne, unab­hän­gi­ge Ver­la­ge und Zines, die von Autor:innen und Kol­lek­ti­ven ins Leben geru­fen werden. 

Was soll­te man unbe­dingt gele­sen haben?

Bis­her sind nur vier Über­set­zun­gen vom Fili­pi­no ins Deut­sche greif­bar. Zwei davon sind Roma­ne, die ganz unter­schied­li­che lite­ra­ri­sche Ten­den­zen auf­zei­gen. Die 70er von Lual­ha­ti Bau­tis­ta ist ein berüh­ren­der Roman aus dem Jahr 1983. Man merkt ihm an, dass die Autorin auch Dreh­buch­au­to­rin war – die Ereig­nis­se stei­gern sich in Kas­ka­den. Das Ori­gi­nal wur­de in klei­nem For­mat auf Zei­tungs­pa­pier gedruckt, um für ein brei­tes Publi­kum erschwing­lich zu sein. Der Mono­log einer Mut­ter, die über ihre fünf Söh­ne die Gewalt der Mar­cos-Dik­ta­tur mit­er­lebt, hat selbst zur wach­sen­den Kri­tik an die­sem Regime bei­getra­gen. Fer­di­nand Mar­cos Sr. wur­de 1986 gestürzt. 

Das Meer der Aswang von Allan N. Derain ist 2021 erschie­nen. Der Autor baut auf Doku­men­ta­tio­nen der indi­ge­nen, münd­li­chen Lite­ra­tur auf. In die­sem Bereich hat sich in den ver­gan­ge­nen drei­ßig Jah­ren unglaub­lich viel getan. Derain schreibt modern in dem Sinn, dass sein Schrei­ben von einem Nach­den­ken dar­über unter­füt­tert ist, wer in einem Text wie erzählt. So ver­bin­det der Autor über­lie­fer­te Epen der phil­ip­pi­ni­schen Insel Panay mit der Gegen­wart, mit Fra­gen über das Ver­hält­nis von Men­schen zu Wäl­dern, zu Tie­ren, Geis­tern und Mons­tern. Nicht zuletzt kommt in der Geschich­te eines 15-jäh­ri­gen Mäd­chens, das sich in ein Kro­ko­dil ver­wan­delt, eine Über­le­bens­wut zur Spra­che, die Sei­te für Sei­te in Sprach­witz umschlägt. 

Was ist noch nicht übersetzt?

In den 1960er-Jah­ren erleb­te die Lite­ra­tur auf Fili­pi­no (Tag­a­log) eine Renais­sance. Sozi­al enga­gier­te Autoren präg­ten einen expres­sio­nis­ti­schen, har­ten Stil, der sich expli­zit von einer wei­che­ren, gefühls­be­ton­ten Pro­sa popu­lä­rer Lie­bes­ro­ma­ne abhob. Ein bekann­ter Ver­tre­ter die­ser Rich­tung war Edgar­do M. Reyes. Die Ver­fil­mung sei­nes Romans May­ni­la Sa Mga Kuko Ng Liwa­nag (Mani­la – In den Kral­len des Lichts) durch Lino Bro­cka wur­de in die Aus­wahl von „Can­nes Clas­sic“ auf­ge­nom­men und erlaubt einen Ein­blick in die Ästhe­tik die­ser Generation. 

Im 19. Jahr­hun­dert hat Fran­cis­co Balag­tas Versepen geschrie­ben. Er nahm ein­hei­mi­sche Vers­ma­ße auf, ori­en­tier­te sich aber auch an spa­ni­scher, bezie­hungs­wei­se mexi­ka­ni­scher Barock­ly­rik. In Flo­ran­te at Lau­ra evo­ziert er ein anti­kes Alba­ni­en, in dem sich grie­chi­sche und per­si­sche Hel­den und Hel­din­nen in einen Urwald ret­ten und zusam­men­fin­den: Ein unglaub­li­cher Remix aus Tra­di­ti­ons­li­ni­en, die in der Hafen­stadt Mani­la zusammenkamen. 

Obwohl sich heu­te das Eng­li­sche als Bil­dungs­spra­che hält und in mit­tel­stän­di­schen Milieus oft auch Fami­li­en­spra­che ist, wächst die Lite­ra­tur auf Fili­pi­no – nicht zuletzt dank einer leben­di­gen Hip Hop- und Spo­ken-Word-Sze­ne. Ver­schie­de­ne For­men von Kurz­pro­sa sind bei Leser:innen sehr beliebt (soge­nann­te Dag­li, aber auch blog-ähn­li­che Erzäh­lun­gen aus den Golf­staa­ten, Sin­ga­pur, Euro­pa oder Nord­ame­ri­ka, wo vie­le phil­ip­pi­ni­sche „Over­se­as Con­tract Workers“ arbei­ten). Aktu­ell wei­ten sich in den publi­zier­ten Roma­nen die The­men­fel­der und sprach­li­chen Aus­drucks­for­men, man darf gespannt sein. 

Was sind die größ­ten Schwie­rig­kei­ten beim Über­set­zen aus dem Tagalog/Filipino? Wie gehen Sie damit um?

Gram­ma­ti­ka­li­sche Schwie­rig­kei­ten sind gleich­zei­tig her­aus­for­dernd und bewusst­seins­er­wei­ternd. Ein ein­zig­ar­ti­ges Ver­ben­sys­tem hat Linguist:innen seit Wil­helm von Hum­boldt fas­zi­niert. Es zwingt dazu, sich Hand­lun­gen sehr genau vor­zu­stel­len, bevor man sie in einen deut­schen Satz klei­det. Ein phi­lo­so­phi­sches Aben­teu­er ist die Ein­sicht, dass der Gegen­satz von Aktiv und Pas­siv eine rei­ne Kon­ven­ti­on ist – Hand­lun­gen und Gescheh­nis­se kön­nen auch in einem viel fein­stu­fi­ge­ren Kon­ti­nu­um ein­ge­ord­net werden. 

Wie vie­le Spra­chen hat auch Fili­pi­no kein gram­ma­ti­ka­li­sches Geschlecht, von spa­ni­schen Lehn­wor­ten abge­se­hen. Oft ist es schmerz­haft, die­se Offen­heit im Deut­schen ver­eindeu­ti­gen zu müs­sen. Sie for­dert aber auch dazu her­aus, für jeden Text pas­sen­de For­men zu suchen, um am Kor­sett des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums zu rütteln. 

Zu den struk­tu­rel­len Schwie­rig­kei­ten zählt die schwa­che insti­tu­tio­nel­le Abstüt­zung der Spra­che: Ein mono­lin­gua­les Wör­ter­buch vom Stan­dard eines Webs­ter oder Duden steht aus. Ety­mo­lo­gi­sche Wör­ter­bü­cher sind Flick­werk und schwer zugäng­lich. Aktu­ell brei­ten sich kurz­le­bi­ge digi­ta­le Wör­ter­ver­zeich­nis­se aus, die mit Machi­ne-Lear­ning-Pro­gram­men betrie­ben wer­den. Das alles in der Kom­bi­na­ti­on Fili­pi­no-Eng­lisch. Den Sprung ins Deut­sche muss ich also selbst voll­zie­hen und mir dafür eige­ne Arbeits­in­stru­men­te erstellen. 

Die Abwe­sen­heit all­ge­mein aner­kann­ter Diplo­me heißt auch, dass der Auf­bau von Ver­trau­en in mei­ne Arbeit über per­sön­li­che Bezie­hun­gen sowie indi­vi­du­el­le Aus­künf­te von Autor:innen und Auto­ri­täts­per­so­nen erfolgt. Das ist ein biss­chen wie „Street Cre­di­bi­li­ty“: Ziem­lich fragil. 

Auch die­se insti­tu­tio­nel­len Schwä­chen haben aber ihre Vor­tei­le. Das Gefühl, etwas neu auf­zu­bau­en, ist beflü­gelnd. Die Abwe­sen­heit von Stan­dards und respekt­hei­schen­den Vor­bil­dern eröff­net auch einen gro­ßen Frei­raum.  Zur Ver­tie­fung und Ver­fei­ne­rung der eige­nen Arbeit ist der Auf­bau einer Com­mu­ni­ty von pro­fes­sio­nell Über­set­zen­den, die sich unter­ein­an­der aus­tau­schen, kri­ti­sie­ren und inspi­rie­ren, aber unabdingbar. 

Was kann Tagalog/Filipino, was Deutsch nicht kann?

Wie das Indo­ne­si­sche hat auch Fili­pi­no zwei For­men für das Pro­no­men „wir“. Eine inklu­si­ve Form schließt die ange­spro­che­ne Per­son mit ein, die exklu­si­ve Form schließt sie von der Aus­sa­ge aus. Wenn ich an die­ser Stel­le von „uns Schweizer:innen“ schrei­be, wer­den sich nicht alle Leser:innen inklu­diert füh­len. Die­se Fein­heit kann in ganz pri­va­ten, aber auch öffent­li­chen Situa­tio­nen klä­rend wir­ken. Sie hat zum Bei­spiel dazu geführt, dass ich sehr viel genau­er hin­hö­re, wenn in einer poli­ti­schen Anspra­che das Wort „wir“ vorkommt. 

Mir scheint, dass Fili­pi­no über sehr vie­le fein abge­stimm­te Ver­ben für Berüh­run­gen ver­fügt, die ich auf Deutsch bis­her mit „anfas­sen“, „anstup­sen“, „strei­cheln“ über­set­ze und dabei weiß, dass das viel zu grob ist. Wie das Deut­sche in die­sem Bereich zärt­li­cher und spre­chen­der wer­den könn­te, ist ein Pro­jekt für künf­ti­ge Übersetzungen. 


Annet­te Hug ist 1970 in Zürich gebo­ren. Sie hat in Zürich Geschich­te und in Mani­la „Women and Deve­lo­p­ment Stu­dies“ stu­diert. Nach Tätig­kei­ten als Dozen­tin und Gewerk­schafts­se­kre­tä­rin lebt sie seit Janu­ar 2015 als freie Autorin. Ihr drit­ter Roman „Wil­helm Tell in Mani­la“ (Wun­der­horn, 2016) stellt einen über­set­zer ins Zen­trum: Der phil­ip­pi­ni­sche Schrift­stel­ler José Rizal, wie er 1886 Fried­rich Schil­lers „Wil­helm Tell“ ins Tag­a­log über­trug. Für die­sen Roman wur­de sie 2017 mit einem Schwei­zer Lite­ra­tur­preis aus­ge­zeich­net. Alle zwei Wochen erscheint in der Wochen­zei­tung WOZ Hugs Kolum­ne „Ein Traum der Welt“. Seit 2024 ver­öf­fent­licht sie Über­set­zun­gen von Fili­pi­no (Tag­a­log) ins Deut­sche: Gedi­che von Luna Sicat Cle­to, eine his­to­ri­sche Novel­le von Isa­be­lo de los Reyes, sowie die Roma­ne „Das Meer der Aswang von Allan N. Derain und „Die 70er“ von Lual­ha­ti Bautista.


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