In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
Es war im Mai 2024 in einer Buchhandlung in Bratislava auf dem Heimweg von meiner ersten Vice-Versa-Übersetzungswerkstatt … da bin ich zufällig auf ein schlichtes Buch gestoßen, das Debüt der jungen slowakischen Autorin Miroslava Kuľková. Ich bin ein visueller Mensch und greife nur nach Büchern, deren Cover mich optisch und haptisch ansprechen, und dieses in mattem beige-schwarz gehaltene Buch mit einer orangenen „Bauchbinde“ ist mir sofort ins Auge gesprungen. (Der deutsche Verlag hat sich für ein ganz anderes Cover entschieden, mit viel auffälligem Rot und einem grafisch stilisierten Hotel. Das ist nicht ganz so mein Fall, aber vielleicht braucht der deutsche Markt es etwas plakativer.) Der Titel Hotel Balkán wirkt auf den ersten Blick thematisch nicht so slowakisch (muss es ja eigentlich auch nicht), aber der Klappentext hat mich direkt überzeugt. Außerdem gehörte das Buch zu den Top Ten-Nominierten für den slowakischen Literaturpreis Anasoft Litera 2024 und erhielt im Rahmen dieses Wettbewerbs den Publikumspreis. Es handelt sich um zusammenhängende Kurzgeschichten – ein unterschätztes Genre, das ich sehr mag. Die Lektüre für die Heimfahrt im Zug war gesichert.
Wieder zuhause verblieb es ein paar Monate auf meiner mentalen To-Do-Liste, bis ich zufällig erfuhr, dass sich ein hiesiger Verlag für das Buch interessierte. Es gab jedoch bereits eine deutsche Leseprobe. Mir blieb das Herz stehen – ach bitte, ich wollte es doch so gern übersetzen! Ich kontaktierte den Verleger und – einmal aufatmen – das Buch war nicht vergeben und der Verleger danube books würde gerne mit mir zusammenarbeiten und das Buch herausbringen. Wir stimmten uns ab und mein erstes Mal Vertragsverhandlungen verlief recht entspannt. Gemeinsam haben wir dann beim Slowakischen Literaturinstitut Bratislava einen Förderantrag eingereicht, der wenige Monate später bewilligt wurde. Außerdem bewarb ich mich für ein slowakisches Residenzstipendium … und bekam es!
Dem Erscheinen meines ersten eigenen Buches (keine Anthologie, keine Zeitschrift, kein Katalog!) stand also nichts mehr im Weg und ich freute mich riesig. Die Residenz im mittelslowakischen Banská Štiavnica im April und Mai 2025 war wunderbar, um tief in die Übersetzung einzusteigen, ins Sprachbad abzutauchen und konzentriert zu arbeiten, ohne von den Ablenkungen des heimatlichen Alltages unterbrochen zu werden. Natürlich hatte ich auch Respekt vor diesem ersten großen Projekt. Aber der Kompromiss: ein Buch – mehrere zusammenhängende kürzere Geschichten und die insgesamt übersichtliche Seitenzahl im Original (knapp 160 Seiten), inklusive der zahlreichen Zeichnungen zwischen den Kapiteln – schien mir ein guter Einstieg.
Der Erzählband Hotel Balkán versammelt sieben Geschichten. Jede spielt in einem anderen Land des Balkan (gut, um seine Geografie-Kenntnisse über die Region aufzufrischen) und trotzdem sind sie miteinander verbunden. Die Erzählerin reist von Land zu Land, um mit Politikerinnen und Politikern darüber zu sprechen, wie und ob die zerbrochenen Beziehungen auf dem Balkan (unter anderem nach dem Zerfall Jugoslawiens) wieder repariert werden können. Sie trifft dabei neben offiziellen Staatsvertretern aller Couleur hauptsächlich auf junge Frauen, die ihr aus ihrem Leben erzählen. In jedem Land und jeder Stadt gibt es ein Hotel Balkán, in dem sie mal mehr, mal weniger abenteuerlich übernachtet. Neben Geografie und Landeskunde erfährt man oder frau aus jedem Land eine interessante Besonderheit und ich habe beim Übersetzen viel Neues gelernt.
Besonders spannend war auch die Online-Diskussion, an der die Autorin und ich teilgenommen haben. Das Format ist verpflichtender Teil der Residenz und wird moderiert und aufgezeichnet. Es war das erste Mal, dass wir uns gesehen und miteinander gesprochen haben – sofortige Sympathie und eine gute Wellenlänge. Wir haben spannende Fragen zur Entstehung des Buches und witzige Parallelen zwischen Text und Begleitumständen des Übersetzungsprozesses diskutiert. Die zufälligen (?) Ähnlichkeiten waren mir beim Übersetzen beinahe unheimlich vorgekommen. Die Protagonistin spricht in einer Geschichte zum Beispiel davon, wie sie zum Mittag jungen Spinat kauft – eine Zutat, die ich selbst just an diesem Tag in meiner Einkaufstasche hatte, obwohl ich sie sonst selten kaufe. In einer anderen Stadt des Balkans ersteht sie eine Postkarte – Prishtina city of love steht darauf.
Auch ich befand mich in der slowakischen Stadt der Liebe, denn in Banská Štiavnica (Schemnitz – eine UNESCO-Stadt!) gibt es ein Museum, die Bank der Liebe, in der man seinen persönlichen Liebesbeweis in ein Schließfach legen kann. Außerdem hat der slowakische Dichter Andrej Sládkovič dort seiner Marina das längste (gleichnamige) Liebesgedicht der Welt geschrieben, in der ganzen Stadt sind Herzen zu finden. Bei der Übersetzung habe ich gelernt, dass es in Zagreb ein Museum der zerbrochenen Beziehungen gibt, in das man ebenfalls seine persönlichen Erinnerungsgegenstände bringen kann. Was für eine seltsame Parallele. Es gab noch mehr, die ich aber nicht alle aufzählen kann.
Meine Residenzwohnung war genauso spartanisch wie die beschriebenen Hotelzimmer, etwas feucht und teilweise dunkel, da sie sich in einem Gebäude mit dicken Wänden befand. Das Gefühl des Fremdseins und der Abwesenheit eines richtigen Zuhauses konnte ich ebenso gut nachvollziehen wie die beschriebenen zufälligen Begegnungen auf Reisen, die Unterhaltungen mit Fremden und der veränderte Blick. Dank des Internets verfolgte ich die Reiseroute anhand echter Fotografien und Bilder, war quasi „live“ dabei, was beispielsweise nützlich war für die Beschreibung der nicht-fiktiven Architektur der Balkanstädte. Im Buch flogen oft Raben (oder Krähen?) umher und krächzten, in meiner Residenz hörte ich jeden Tag Amseln singen und Turmfalken pfeifen. Aber die Raben entpuppten sich als linguistisches Problem.
Im Slowakischen ist ein Rabe grammatikalisch weiblich, im Deutschen männlich. Die Krähe wäre zwar eine mögliche Entsprechung, aber ihr Name klingt nicht so weich und mystisch, eher gehässiger und härter. Dazu kommt, dass Raben mit dem Tod assoziiert werden, der im Slowakischen ebenfalls eine Frau ist, was sehr gut zu den Protagonistinnen in den Erzählungen passt, die oft unter toxischen Männern und althergebrachten Wertvorstellungen zu leiden haben. Die Frage, wie es im Deutschen sein soll (der Rabe oder die Krähe), habe ich mit der Autorin noch nicht abschließend geklärt. Aber sie war selbst davon überrascht, dass ihr dieser Aspekt gar nicht so bewusst war. Es ist auf jeden Fall ein Vorteil, dass sie selbst auch Deutsch versteht.
Die Arbeit am Buch war für mich fast wie eine meditative Reise, es strahlte eine innere Ruhe aus und zog mich in seinen Bann. Die Autorin spricht teils schwer verdauliche Themen an: Krieg und Traumata, Machtmissbrauch, Unterdrückung von Frauen und schwierige Familienverhältnisse. Sie verwendet eine reduzierte Sprache, spielt mit Leerstellen und dem zwischen den Zeilen Lesbaren. Auch die schwarz-weißen Zeichnungen und der unaufgeregte, teils sachliche, teils lyrische Stil der Autorin trugen zur melancholischen, aber doch hoffnungsvollen Stimmung des Textes und meines Übersetzungsprozesses bei.
Die Überarbeitung und das Lektorat stehen noch aus, aber ich bin sehr zuversichtlich. Es ist ein Text, der mir liegt und mir nahegeht. Ein Text, der mich bei meinem ersten Mal Übersetzungsresidenz begleitet und gut getragen hat. Ich bin froh und dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Bei der Arbeit an den einfühlsamen, oft kurzen Abschnitten habe ich mich weiter darin geübt, kreativer und freier zu übersetzen. Weniger am Text zu kleben, aber sowohl dem Text selbst als auch der Autorin treu zu bleiben. Ich habe ganz nebenbei aber auch viel über die Befindlichkeiten auf dem Balkan gelernt. Die Einblicke in unterschiedliche Themen sind das Spannende an unserem Beruf. Besonders wichtig ist mir der persönliche Austausch mit den Autor:innen, die ich übersetzen darf, weil dieser nützliche und manchmal überraschende Einsichten in den Text mit sich bringt und für beide Seiten bereichernd sein kann. Die meisten sind dafür offen und dankbar. Und ich bin es auch.
Manchmal kommt es allerdings anders als geplant und die Realität wirft den Plan über den Haufen. Die Veröffentlichung des Buches musste aus verschiedenen Gründen um ein halbes Jahr nach hinten verschoben werden, sodass Hotel Balkán schlussendlich nicht meine erste eigene Buchveröffentlichung wird. Vorher erscheint im März 2026 (hoffentlich planmäßig und ohne Komplikationen) beim neugegründeten Allee Verlag der Roman Spomenieš si na Trenčín? (aktueller Arbeitstitel: Weißt du noch, Trenčín?) von Lukáš Cabala, der aus ebendieser Stadt stammt, die 2026 eine der beiden Kulturhauptstädte Europas sein wird.

Stefanie Bose lebt in Leipzig. Freiberufliche (Literatur-) Übersetzerin sowie Sprach- und Kulturmittlerin für Slowakisch und Tschechisch. Nach dem Abitur Europäischer Freiwilligendienst in der Ostslowakei. Anschließend Studium der Westslawistik mit Schwerpunkt Slowakisch/Tschechisch und Ethnologie sowie zusätzliche Übersetzungsmodule an der Universität Leipzig. 2015–2024 Büroleitung/Assistenz für den Honorarkonsul der Slowakischen Republik mit Sitz in Leipzig. Langjährige Mitarbeit und Organisation von Kulturprojekten (Kulturhistorisches Museum Magdeburg, Stadt Leipzig, Schaubühne Lindenfels). Seit 2013 aktiv im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen dem sächsischen Leipzig und dem mährischen Brünn. Seit 11/2022 Vorsitzende des neu gegründeten Vereins Städtepartnerschaft Leipzig – Brno e. V. sowie langjähriges Mitglied im Verein Slowaken in Sachsen / Slováci v Sasku e. V. Seit 2011 Sprach- und Integrationsmittlerin (SprInt) für Slowakisch und Tschechisch. Tätig als Übersetzerin u. a. von Belletristik und Lyrik, Sach- und Fachtexten und journalistischen Texten aus dem Tschechischen und Slowakischen, Literaturvermittlerin, gelegentlich Moderatorin von Lesungen/Veranstaltungen, Vorträge oder Recherche, Redaktion/Texterstellung oder Korrekturen. Seit 2024 Weiterbildung im Bereich Audiodeskription, Erfahrungen mit Übertitelung am Theater, Drehbuch.
