Jeden Morgen zieht Guylain Vignolles auf dem Weg zur Arbeit im Pariser Vorortzug lose Blätter aus seiner Mappe und liest den anderen Pendlern vor: aus einem Roman, einem Krimi oder einem Kochbuch, ohne auf Inhalt oder Stil zu achten, allein um des Lesens willen. Er arbeitet nämlich an einem gigantischen Reißwolf für unverkäufliche Literatur und findet abends beim Reinigen der Maschine immer einzelne Seiten, die ungeschreddert an der Innenwand kleben geblieben sind. Vorsichtig abgelöst und getrocknet, sind sie sein Lesestoff für den nächsten Morgen. Denn während für seinen Chef nur der Profit zählt und sein Kollege ein sadistisches Vergnügen am Einstampfen ganzer Wagenladungen von Gedrucktem empfindet, hat Guylain Mitleid mit all den Büchern, die ihren Lebensabend nicht friedlich bei einem Bouquinisten am Seineufer verbringen dürfen.
Allein die Vielfalt dieser Texte – von einer Kriegserzählung oder einer Tatortschilderung bis hin zu einem Softporno – bietet der Übersetzerin schon Gelegenheit, ihr Können zu zeigen. Doch es kommt noch besser. Nicht nur, dass der Pförtner des Altpapierrecyclingsbetriebs ein Fan des klassischen Theaters ist und mit selbstgedrechselten Alexandrinern ahnungslosen LKW-Fahrern die Einfahrt verwehrt, wenn sie ausgerechnet in der Mittagspause ankommen. Die Palette der sprachlichen Ausdrucksmittel wird noch erweitert, als die zweite Hauptfigur ins Spiel kommt: Eines Tages findet Guylain – im Zug natürlich – einen USB-Stick mit ihren Tagebucheinträgen. Fasziniert beginnt er die Frau zu suchen, die von ihrem Reich aus 14.717 weißen Kacheln erzählt. Und den Fahrgästen im Vorortzug liest er vor, was die Toilettenfrau in einem Einkaufszentrum den Tag über so denkt und erlebt.
Wie geht die Übersetzerin Sonja Finck an diese Herausforderungen heran? Ein Beispiel: Die Beschreibung der Maschine, an der Guylain arbeitet, erfordert die Wiedergabe technischer Termini („Fixierarm der Messerwelle“), kombiniert mit Personifizierungen wie „sie stöhnte, grunzte und ächzte“, die Guylains Einstellung verdeutlichen. Er hasst dieses Gerät, nicht nur, weil es Bücher zerkleinert, sondern auch, weil es sich gelegentlich ohne menschliches Zutun in Gang setzt und dann gern vorwitzige Ratten zermalmt. Es kommt sogar zu einem schrecklichen Unfall, bei dem die Beine eines Arbeiters in das Häckselwerk hineingezogen werden. Obwohl als Ursache ein technischer Defekt ausgemacht wird, ist die Maschine für Guylain ein bösartiges, gefräßiges Monster: „Er war sich nämlich sicher, dass sie auf die quiekenden, zappelnden Körper [der Ratten] ganz versessen war“. Daher erscheint, auch wenn er selbst sie „la Chose“ (das Ding) nennt, der Ausdruck „die Bestie“ durchaus nicht unpassend.
Lebewesen sind für Guylain auch die allabendlich geretteten Buchseiten, nämlich „peaux vives“, eine Wortschöpfung des Autors, das Gegenteil von „peaux mortes“ (abgestorbene Hautpartikel). Die Übersetzung „Findelkinder“ entfernt sich vom Bild des Originals, entspricht aber der liebevollen Fürsorglichkeit, mit der Guylain seine Fundstücke behandelt. Dass der Name des Betriebs ebenfalls etwas Lebendiges bezeichnet, ist dagegen reiner Euphemismus. Die französische Abkürzung STERN evoziert eine Seeschwalbe (sterne); die Übersetzung erhält das Bild des Zugvogels und kreiert die Abkürzung STAR („Service und Technik beim Altpapier-Recycling“).
In den Tagebucheinträgen der Toilettendame finden sich Metaphern und Lautmalerei. Julie spricht zwar stolz von ihrem blitzsauberen gekachelten Universum, aber fast zärtlich von jenen beschädigten Kacheln, denen sie eine Geschichte ansieht und die sie „geules cassées“ nennt. Mit diesem Ausdruck (kaputte Gesichter) wurden im Ersten Weltkrieg die Verwundeten bezeichnet, die vor allem durch Verletzungen im Gesicht entstellt waren; im Deutschen lässt er sich mit „Kriegsversehrte“ nur annähernd wiedergeben. Zweimal jährlich zählt Julie sämtliche Kacheln, und immer kommt 14.717 heraus, eine Zahl wie ein „Hungerhaken“. Sie träumt von einer Zahl „mit dickbäuchigen Nullen“ oder einer schönen Drei, „gewölbt wie die ausladende Brust einer Amme“. Drastisch wird Julie bei den Geräuschen ihrer Kunden, kategorisiert in „noble“ („das Reiben, Rascheln, Knistern oder leise Rauschen von Seide, Satin, Nylon“), „ablenkende“ („demonstratives Hüsteln“), „Aktivitätsgeräusche“ („Furzen, Pupsen, Plätschern, Gluckern, Tröpfeln, Platschen“) und „Wohlfühlgeräusche“ („befriedigtes Stöhnen“), um nur einige Beispiele anzuführen.
Größere Schwierigkeiten bei der Übersetzung stellen bekanntlich Wortspiele und Gedichte dar. In Le liseur du 6h27 betrifft ein Wortspiel den Namen der Hauptperson; da dieser für eine äquivalente Stilfigur geändert werden müsste, löst die Übersetzerin das Problem durch eine Erklärung für den Spitznamen, mit dem Guylain geschlagen ist: Böse Zungen verdrehen „Guylain Vignolles“ zu „vilain guignol“, „dummer Kasper“. Richtig knifflig wird es bei den Alexandrinern des Pförtners, denn Reime finden sich im Französischen leichter als im Deutschen. Aber die Übersetzerin hat am Dichten offenbar ebenso viel Spaß wie der kauzige Liebhaber des Zwölfsilblers, und so geht auf den Lastwagenfahrer vor geschlossener Schranke eine lange Tirade hernieder:
Il est passé midi, voyez la grande horloge.
Déjà sur la demie, la grande aiguille se loge!
Quittez cette arrogance, rengainez ce dédain,
Il reste un peu de chance que je vous ouvre enfin.„Die Uhr an der Wand hat längst Mittag geschlagen
Der emsige Zeiger tickt ohne Verzagen!
Legt ab euren Hochmut und hört auf zu brüllen
Dann werd ich den Wunsch Euch vielleicht noch erfüllen!“
(Und so weiter über sechs Strophen).
Didierlaurents Roman war in Frankreich ein solcher Erfolg, dass die Auflage schon vor seinem Erscheinen von 8.000 um weitere 5.000 Stück erhöht wurde; mehrere Taschenbuchverlage rissen sich um die Rechte, und 25 Übersetzungen waren in Auftrag, wie Le Figaro in einer Rezension dieses „modernen Märchens“ schrieb. Die deutsche Ausgabe ist liebevoll gestaltet: Guylains lose Blätter sind grafisch vom Rest des Textes abgehoben, ein bisschen grau und mit Wasserrändern – eine hübsche Idee. Leider lässt sich jedoch schon am Titel und an der Umschlaggestaltung mit dem Versprechen „die hinreißende Geschichte von zwei liebenswerten Außenseitern“ eine Tendenz zur Sentimentalisierung, wenn nicht gar zur Trivialisierung, erkennen.
In diese Richtung geht vermutlich auch ein Detail, das mich nachdenklich gemacht hat: Didierlaurent hat die Büchervernichtungsmaschine als deutsches Produkt mit der Typbezeichnung Zerstor 500 erfunden und erläutert seinen Lesern die Bedeutung dieses Wortes „dans la langue de Goethe“ – sicher nicht zufällig eine Anspielung des im Elsass geborenen Autors auf ein Deutschenbild, das von den Extremen Kultur und Barbarei gekennzeichnet ist. Dass diese Worterklärung in der Übersetzung entfällt und das Ding schlicht Zerstör 500 heißt, genügt zur reinem Information – aber wird dem deutschsprachigen Leser damit nicht auch eine Nuance der Kommunikation des Autors mit seinen französischen Lesern vorenthalten?
Trotzdem: Wer sich von dem Cover nicht beirren lässt, entdeckt eine Geschichte mit Witz und Humor, einen Roman über die Liebe zu Büchern, zum Fabulieren, zur Sprache – lesenswert auch ohne Liebesgeschichte, und auf jeden Fall gekonnt, ja: liebevoll übersetzt.
Jean-Paul Didierlaurent/Sonja Finck: Die Sehnsucht des Vorlesers. (Im französischen Original: Le liseur du 6h27.)
dtv 2015 ⋅ 224 Seiten ⋅ 15 Euro
www.dtv.de/buch/jean-paul-didierlaurent-die-sehnsucht-des-vorlesers-26078/