
Wie hast Du Georgisch gelernt?
Auslöser war, dass ich georgische Literatur im Original lesen und den Literaturaustausch mit dem Westen, insbesondere dem deutschsprachigen Raum wieder in Gang bringen wollte. Ursprungsleseerlebnis dabei war der Schelmenroman Das fürstliche Leben des Kwatschi K. von Micheil Dschawachischwili. Das meiste, was bis in die 1990er in Übersetzung greifbar war, wurde in DDR-Verlagen veröffentlicht; nach dem Fall der Berliner Mauer kam die Übersetzungstätigkeit weitgehend zum Erliegen. Da es keine andere Möglichkeit gab, habe ich jahrelang Privatunterricht bei einer in der Schweiz lebenden Georgierin, selbst Dolmetscherin und Philologin, genommen. Das Erlernen der Sprache ging langsam und in Phasen vonstatten, zum einen, weil ich meine Passion für Georgien und seine Sprache in meiner knapp bemessenen Freizeit lebte, zum anderen, weil ich bis vor kurzem nie länger im Land selbst gelebt habe. Ein guter Teil war auch autodidaktisches Lernen durch intensives Lesen und Korrespondieren während der Zeit, da ich als Literaturagentin tätig war. Dazu kamen in den letzten Jahren regelmäßige georgisch-deutsche Übersetzerseminare. Der Lernprozess geht immer noch weiter, intensiviert und aktiviert sich jetzt, da ich in Georgien lebe.
Wie sieht die georgische Literaturszene aus?
Das gegenwärtige literarische Schaffen ist äußerst lebendig und vielfältig. Noch um die Jahrtausendwende musste die georgische Leserschaft befürchten, dass das georgische Buch aussterben würde. Das hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. Eine neue Generation von Autoren und Autorinnen etabliert sich, es gibt eine Reihe höchst engagierter Verlegerinnen; nach den siebzig Jahren sowjetischer Strangulierung von Denken, Kunst und Literatur, nach den Bürgerkriegsjahren in den 1990ern, nach dem empfindlichen Rückschlag durch den kurzen Krieg mit Russland 2008 blüht die georgische Literatur wieder auf. Die ständigen Veränderungen, die Umbrüche und die Aufbruchsstimmung, die Öffnung des Landes nach Westen, aber auch die politischen und gesellschaftlichen Konflikte scheinen die Literatur zu befruchten. Die junge georgische Literatur handelt von Existentiellem, Substantiellem, ist anschaulich und berührt uns deshalb trotz der Exotik. Sie ist beeinflusst von ihrer langen Geschichte – das Georgische besitzt mindestens seit dem 5. Jahrhundert eine eigene Schrift und die altchristliche georgische Literatur ist eine der ältesten der Welt –, beeinflusst auch von der Lage Georgiens zwischen Orient und Okzident und der Nachbarschaft zum übermächtigen Nachbarn im Norden.
Die georgischen Autoren und Autorinnen sind experimentierfreudig. Der Übergang zwischen Realem und Phantastisch-Absurdem ist oft fließend. Es gibt eine spezifisch georgische Ausprägung von Humor, der schwarz gefärbt ist und manchmal ins Skurrile oder Slapstickhafte spielt oder mit tiefer Melancholie durchwirkt ist, ein Lächeln durch Tränen hindurch. Und natürlich ist die Literatur geprägt von der Sprache – eine reiche, komplexe, bildhafte Sprache. Heute dominierend ist – im Gegensatz zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts – eher die Kurzform: Erzählungen, Kurzromane. Der Lyrik kommt seit jeher eine große Bedeutung zu.
Zu den Themen, die die neue Generation umtreibt, gehören die Bedeutung von Heimat vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte; Emigration; die Natur, die sehr präsent im ländlich geprägten Leben Georgiens ist; Tbilissi als Stadt und (multikultureller) Lebensraum; Sexualität und ihre Tabuisierung in der georgischen Gesellschaft; Geschlechterbeziehungen; die Zwänge von Tradition, Kirche und Familie; die Kluft, die durch die heutige Gesellschaft geht; der wachsende christlich-orthodoxe Fundamentalismus; die Bedrohung durch Russland. Die mehrfache Kriegserfahrung in den letzten dreißig Jahren hinterlässt tiefe Spuren auch in der Literatur; fast in allen in der letzten Zeit erschienenen Werken ist sie mehr oder weniger gegenwärtig.
Georgiens Buchmarkt ist mit nur 3,7 Millionen Einwohnern ein sehr kleiner Markt. Aber: Die Verlage bringen Jahr für Jahr mehr Novitäten heraus, weil immer mehr Menschen Bücher kaufen oder leihen. Die Sprache, die Schrift und damit die Literatur blieben neben der Religion die einzige Konstante und Identifikationsquelle während der leidvollen Geschichte und wurden leidenschaftlich immer wieder verteidigt. Das ist auch heute noch so. Nicht umsonst ist das Motto des Gastlandauftritts „Georgia Made by Characters“ und das Leitmotiv das georgische Alphabet:
„Nichts passt so zum georgischen Wort und Charakter wie das georgische Alphabet, und nichts ist so georgisch wie das georgische Alphabet.“ (Aka Mortschiladse)
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Auf den Gastlandauftritt hin wurden rund 160 deutsche Übersetzungen veröffentlicht, darunter hochkarätige Autoren und Autorinnen in hochkarätiger Übersetzung. Da fällt eine kurze Antwort schwer und wird subjektiv sein. Von den Klassikern, die Georgien in der Zaren- oder Sowjetzeit schildern, sind unbedingt lesenswert: Micheil Dschawachischwili (Übersetzung Kristiane Lichtenfeld), Dawit Kldiaschwili (Ü Rachel Gratzfeld), Tschabua Amiredschibi (Ü Kristiane Lichtenfeld), Reso Tscheischwili (Ü Julia Dengg). Aus der großen Zahl zeitgenössischer Autoren und Autorinnen nenne ich nur ein paar: Aka Mortschiladse (Ü Natia Mikeladse-Bachsoliani bzw. Iunona Guruli) ist ein äußerst vielfältiger und genialer Erzähler, der auf ein umfangreiches Werk zurückblickt, in Georgien als Begründer des modernen Romans gilt und hoch verehrt wird; Artschil Kikodse (Ü Nino Haratischwili bzw. Natia Mikeladse-Bachsoliani) und Anna Kordsaia-Samadaschwili (Ü Sybilla Heinze) – ihre Romane über die Stadt Tbilissi und ihre Menschen bringen uns den georgischen Zeitgeist nahe und sind von leiser Nostalgie durchdrungen; Gela Tschkwanawa (Ü Susanne Kihm und Nikolos Lomtadse), in seiner Heimat leider nicht sehr bekannt, ist der georgische Hemingway, er erzählt unmittelbar und ungefiltert vom Alltag im und nach dem Abchasien-Krieg; Irma Tawelidse (Ü Iunona Guruli) mit ihren verführerisch langsamen Erinnerungsgeschichten, in denen es oft um eine amour fou, um Existenzen mit einer brennenden Sehnsucht geht. Was Lyrik betrifft: Georgiens Herz: ist … mit Poesie infiziert (Nachdichtung Sabine Schiffner) gibt einen wunderbaren Überblick über die moderne georgische Lyrik.
Was ist noch nicht übersetzt?
Sicherlich noch viel zu entdecken gibt es in der Lyrik, aber auch im Bereich Memoiren, Lebenszeugnisse. Unübersetzt (zumindest nicht in adäquater Übersetzung vorliegend) ist auch einer der größten georgischen Dichter, Wascha-Pschawela, in dessen Werk sich ein kaukasisch geprägter Humanismus zeigt. Den Hintergrund für die Handlung der meisten seiner Epen bildet die unzugängliche kaukasische Berglandschaft, in der sich traditionelles Brauchtum und alte Gesellschaftsstrukturen lebendig erhielten, was aber auch Konflikte mit den Forderungen gesellschaftlicher Entwicklung, die mit der Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbunden waren, hervorrief. Wascha-Pschawelas Epen gehören zur Weltliteratur, sind jedoch mit übergroßen Übersetzungsanforderungen verbunden.
Für mich persönlich gehört auch der überaus originelle Erlom Achwlediani zu den Autoren, die es im deutschsprachigen Raum noch zu entdecken gilt, insbesondere sein mystisch-ontologisch-philosophischer Roman Eine Mücke in der Stadt. Und eine Neuentdeckung: der Erstling des bekannten Filmemachers Temur Babluani, ein großartiger, sehr unterhaltsamer Entwicklungsroman, der 1968 in Tbilissi seinen Ausgang nimmt und mit der Rosenrevolution 2003 endet, der Held eine Art moderner georgischer Odysseus, der schuldlos von Arbeitslager zu Gulag irrt, bis er Jahrzehnte später wieder auf seine Manuschaka trifft …
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Georgischen? Wie gehst Du damit um?
Da es bis vor kurzem kaum Übersetzungen aus dem Georgischen gab, fehlen Vorbilder. Die wenigen bestehenden Wörterbücher sind veraltet, bei Jargon und Umgangssprache müssen sich die Übersetzer selbst behelfen.
Spezifische Schwierigkeiten der Übersetzung aus dem Georgischen liegen v.a. in den Eigenheiten der Sprache, die ja keine indogermanische ist. Die Zeitformen unterscheiden sich grundlegend vom Deutschen. Das Substantiv kennt weder einen bestimmten noch einen unbestimmten Artikel. Eine Besonderheit ist das Fehlen des grammatischen Geschlechts. Das führt in manchen Texten zu Ungewissheit über das Geschlecht von handelnden Personen bzw. das Geschlecht ist nur an kleinsten Nuancen oder am Kontext festzumachen, die wiederum kulturabhängig und für uns fremd sein können. In solchen Fällen nehme ich wenn möglich mit dem Autor/der Autorin Rücksprache; Davit Gabunia beispielsweise war es wichtiger, dass im ersten Kapitel seines Romans Farben der Nacht die Homoerotik Ausdruck findet und die im Georgischen bestehende krimihafte Ungewissheit über die Identität des Erzählers geopfert wird.
Aber nicht nur syntaktisch-grammatisch bestehen Schwierigkeiten, auch auf der psychisch-emotionalen Ebene: Was im Georgischen geläufig und harmlos scheint, wirkt im Deutschen oft pathetisch und übertrieben. Hier gilt es abzuwägen, wo abgeschwächt wird und wieviel Exotik dem deutschen Leser zugemutet werden darf.
Immer wieder Probleme bereiten mir persönlich Jargon, die typischen Schimpfwörter und Koseanreden oder regionale Eigenheiten (z.B. die Überhöflichkeit und indirekte Redeweise der Westgeorgier). Es ist oft schwierig einzuschätzen, wie derb oder unhöflich ein Ausdruck ist, damit ich die deutsche Entsprechung finden kann. Da ich das Glück habe, in Tbilissi zu leben, kann ich mich mit georgischen Übersetzerkolleginnen bereden und mir den Gebrauchskontext erläutern lassen. Und dass ich nun im Land selbst lebe und in die Sprache eintauchen kann, hilft natürlich auch.
Was kann Georgisch, was Deutsch nicht kann?
Das georgische Verb ist ein „Alleskönner“. Mittels Präverben, Personalpräfixen und ‑suffixen, sog. Versions‑, Passiv- Kausativ- usw. ‑markern kann in einem Wort ausgedrückt werden, wofür das Deutsche einen ganzen Satz mit diversen Adverbien braucht. Z.B. bedeutet შემომეჭამა – schemometschama: „Ich habe etwas gegessen, obwohl ich eigentlich gar nicht mehr wollte / konnte.“ Das Georgische differenziert auch sehr fein zwischen Selbsterfahrenem und aus dritter Hand Gehörtem.
Was mir besonders gefällt, sind Wörter, die Bewegung, Geräusch und Farbe zugleich ausdrücken, wie ლივლივი (liwliwi): wogen, schwanken, schaukeln, aber nicht nur das. Eine Wiese oder ein Feld ილივლივებს (iliwliwebs), damit ist nicht nur die Bewegung ausgedrückt, sondern auch die Farbe, die ein wogendes Feld annimmt, z.B. der silberne Schimmer, der silberne Schimmer, der bei Wind über ein Roggenfeld läuft …
Rachel Gratzfeld, geboren 1960 in der Schweiz, arbeitete von 2006 bis 2016 als Programmleiterin bei Klett Schweiz und vertrat als literarische Agentin die georgischen Verlage Bakur Sulakauri, Diogene und Siesta sowie die Autorinnen Nino Haratischwili und Tamta Melaschwili. Seit 2017 lebt sie in Tbilissi, Georgien, und arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin. Sie übersetzte u.a. Werke von Davit Gabunia, Lasha Bugadze, Dawit Kldiaschwili und Tatia Nadareischwili; sie ist Herausgeberin und Mitübersetzerin der Anthologie Bittere Bonbons – Georgische Geschichten sowie Mitübersetzerin von Georgien. Eine literarische Reise.