(1) Sieglinde Geisel: Übersetzen heißt antworten (27. Juni 2018)
(2) Felix Pütter: Antworten heißt interpretieren (11. Juli 2018)
(3) Sieglinde Geisel: Übersetzen – im Geist des Originals (17. Juli 2018)
(4) Felix Pütter: Kritik – Im Geist der Übersetzung (12. September 2018)
Lieber Felix,
eine sehr interessante Debatte, und ich stehe ganz und gar auf Frau Geisels Seite, insbesondere was ihre drei Anforderungen an die Übersetzungskritik betrifft: Wer die Ausgangssprache nicht beherrscht oder, falls doch, Original und Übersetzung nicht vergleicht, kann die eigentliche Qualität einer Übersetzung nicht beurteilen; ihm fallen die hübschen Wortspiele und der „kreative“, „souveräne“, „wortgewaltige“ Umgang des Übersetzers mit der Zielsprache ins Auge, und das nimmt er dann vielleicht zum Zeichen, dass es sich um eine gelungene (und womöglich „sehr lesbare“) Übersetzung handelt. Nun ist es ja ganz schön, wenn eine Übersetzerin Wortspiele kann und über viele Register verfügt – aber das ist doch erst die halbe Miete. Wirklich gelungen ist eine Übersetzung erst, wenn sie auch den Geist, den Ton, die Atmosphäre des Originals überzeugend wiedergibt.
So verstehe ich auch Frau Geisels Bemerkung über die (fiktive?) Autorin, die im Ausland auf Lesereise geht und merkt, dass ihr Buch dort ganz anders aufgefasst wird, als sie es geschrieben hat: Es geht ja nicht nur darum, dass alles korrekt übersetzt ist, sondern vielmehr um die Haltung, den Humor (oder sein Fehlen), die Stimme des Autors, den ebenso vielbeschworenen wie schwer definierbaren Ton. Wie würdest du einen Pynchon-Roman finden, der übersetzt ist, als wäre er von John Irving? Wie würde Pynchon das finden?
Ich habe mal mit Marcus Ingendaay einen Abend verquatscht, in dessen Verlauf er mir seine Auffassung vom Übersetzen erklärt hat. Ich habe ihm heftig widersprochen, weil ich es unverantwortlich finde, einen Autor wie Gaddis zu verlustigen, wo es doch gerade die Sperrigkeit und der bittere Sarkasmus sind, die ihn auszeichnen. Das Original ist eben keine Verfügungsmasse, mit der ich verfahren kann, wie ich will. Es ist vielleicht witzig, pathetisch, tiefgründig, obszön, zerfahren oder einfach nur bescheuert – aber es ist das Original und somit der Maßstab für eine gute Übersetzung. Der Autor ist der Herr des Textes, und als Übersetzer habe ich ihm zu dienen. Mit „Kult um das Original“, wie du das nennst, hat das nun wirklich überhaupt nichts zu tun – das ist so, als würdest du von einem Architekten sagen, er treibe einen Kult um seine Pläne.
Du schreibst, man müsse „an einen Übersetzer wie Marcus Ingendaay nicht die Frage […] stellen, ob er das Original ‚verfälscht‘ habe oder nicht, sondern vielmehr müsste man sich fragen, ob er eine schlüssige Interpretation des Originals vorzustellen und vor allem mit den Mitteln der eigenen Sprache wiederzugeben imstande ist“. Ich gebe dir insofern recht, als die Frage, ob Marcus Ingendaay das Original verfälscht hat, sich erübrigt, bzw. schnell beantwortet ist: Ja, er hat das Buch verfälscht, auf, wie ich finde, groteske Weise. Und meine Antwort auf die zweite Frage lautet: Wenn ich ein Buch lese, will ich es selbst deuten, und darum muss jede Interpretation des Übersetzers, und sei sie noch so schlüssig, so weit wie möglich unterbleiben. Wer Wortgirlanden flechten und sein Ego nicht aus dem Spiel lassen will, kann ja selbst Romane schreiben.
Aus all dem ergibt sich die Antwort auf deine letzte Frage: Ja, eine fundierte Übersetzungskritik ohne Kenntnis der Ausgangssprache halte ich für unmöglich.