Die Fran­zö­si­sche Evolution

Kacken, Fressen, Begatten, Sterben: Jean-Baptiste Del Amo hat einen drastischen und zugleich hochliterarischen Roman geschrieben, der in Karin Uttendörfers anspruchsvoller Übersetzung auch auf Deutsch überzeugt. Von

Am 21. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir in den Wochen vor der Buch­mes­se alle fünf Nomi­nier­ten vor. Alle Fol­gen der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Tie­re, die mit Schlag­stö­cken und Fuß­trit­ten zur Schlach­tung getrie­ben wer­den, die schrei­en, sich die Haut bis aufs rohe Fleisch auf dem Beton auf­schür­fen, mit ver­dreh­ten Augen: Das Grau­en ist groß, das man beim Lesen von Tier­reich ange­sichts der Tier­hal­tung emp­fin­det. Den Roman des Vega­n­ers Jean-Bap­tis­te Del Amo als Ankla­ge oder Plä­doy­er zu dekla­rie­ren, wür­de aber in die fal­sche Rich­tung wei­sen – er ist weder mora­li­sie­rend noch bevor­mun­dend, son­dern steht als groß­ar­tig lite­ra­ri­sche „Fami­li­en- und Schwei­ne­sa­ga“ für sich.

Tier­reich han­delt vom Wunsch, die Natur zu beherr­schen und von der Bes­tia­li­tät des Men­schen. Über fünf Gene­ra­tio­nen hin­weg erzählt der Roman die Geschich­te einer Fami­lie und ihres Betriebs, der sich von einem klei­nen Hof zu einer indus­tri­el­len Schwei­ne­zucht ent­wi­ckelt. Im Zen­trum der ers­ten zwei Tei­le, Die­se ver­damm­te Erde (1898–1914) und Post Ten­ebras Lux (1914–1917), steht Élé­o­no­re. Sie ist die Toch­ter eines schweig­sa­men Vaters und einer gefühls­kal­ten, meist als „die Erzeu­ge­rin“ bezeich­ne­ten Mut­ter. Der Leser erlebt die Kind­heit und Jugend des Mäd­chens mit, den schmerz­haf­ten Tod des Vaters und die Zunei­gung zu ihrem Cou­sin Mar­cel, der aus dem Ers­ten Welt­krieg als einer der vie­len „Gueu­les cas­sées“ zurück­kehrt – trau­ma­ti­siert und mit ent­stell­tem Gesicht.

Die bei­den bekom­men einen Sohn, Hen­ri, und kön­nen nach dem Tod der Erzeu­ge­rin den Hof mit deren Erspar­nis­sen aus­bau­en. Bis ins Jahr 1981 – in dem die wei­te­ren Tei­le, Das Rudel und Der Unter­gang, ange­sie­delt sind – ist die­ser zu einem gro­ßen Schwei­ne­zucht­be­trieb her­an­ge­wach­sen. In der Fami­lie geht es jedoch zuneh­mend berg­ab. Dem stren­gen Hen­ri und sei­nen zwei Söh­nen gelingt es immer weni­ger, ihr Leben und den Hof zusam­men­zu­hal­ten, und nach und nach drängt sich ihnen die Fra­ge auf: Haben sie noch die Kontrolle?

Die­se Fami­li­en­ge­schich­te ist jedoch nicht alles: Wer sie zusam­men­fasst, muss genau­so von den Tie­ren berich­ten, die titel­ge­bend für den Roman sind. Der Autor ver­sucht nicht, die­se dem Leser als Indi­vi­du­en nahe­zu­brin­gen und durch Ver­mensch­li­chung Mit­leid zu erre­gen. (Eine Aus­nah­me stellt viel­leicht der arthri­ti­sche Hund Alphon­se dar, der der klei­nen Élé­o­no­re zur Sei­te steht.) Viel­mehr offen­bart sich in ihrer Betrach­tung die Ani­ma­li­tät des Men­schen. Die Sex­sze­nen des Buchs sind mit dem Wort „Begat­tun­gen“ bes­ser beschrie­ben, und es erschließt sich dem Leser eher aus dem Kon­text, ob hier gera­de Men­schen oder Tie­re zugan­ge sind. Als man die jun­gen Män­ner des Ortes in den Krieg ein­be­ruft, wer­den die Alten „grau wie Schlacht­vieh“, und mit den Kin­dern geht man nicht lie­be­vol­ler um als mit den Fer­keln. Die Bau­ern erken­nen die­se Ähn­lich­kei­ten nicht: „Ein Tier ist ein Tier und ein Schwein weit weni­ger als ein Tier.“ Die Schwei­ne haben für sie aus­schließ­lich öko­no­mi­schen Wert. Und doch sind sie es, die den All­tag und das gesam­te Leben der Fami­lie bestim­men. Der Hof ist und bleibt das Reich der Tie­re – das zeigt sich auch im Aus­gang des Romans.

Die Jury­be­grün­dung

„So wie der Mensch das Tier aus­beu­tet und aus­presst, wird in Tier­reich auch die Spra­che an ihre Gren­zen geführt: Die sich win­den­den Sät­ze und Wort­kas­ka­den bewah­ren gleich­wohl auch im Deut­schen die sinn­li­che Ele­ganz des Originals.“

Die Über­set­zung

Bevor Karin Utten­dör­fer Roma­nis­tik und Ger­ma­nis­tik stu­dier­te, absol­vier­te sie eine Aus­bil­dung zur Kunst­hand­wer­ke­rin. Und Kunst­hand­werk, das ist auch ihre Über­set­zung des Romans von Jean-Bap­tis­te Del Amo. Règ­ne ani­mal ist kei­ne ein­fa­che Grund­la­ge für ihre Arbeit. Aus­ge­fal­le­nes Voka­bu­lar, ver­schie­de­ne Zeit­ebe­nen, star­ke Ver­dich­tung – hand­werk­lich ver­langt der Roman der Über­set­ze­rin eini­ges ab. Wie Utten­dör­fer die oft kom­ple­xen Satz­struk­tu­ren ins Deut­sche über­führt, ohne sich dabei von den „Wort­kas­ka­den“ des Ori­gi­nals zu ent­fer­nen, ist eben­so kunst­voll und krea­tiv wie ihr Umgang mit den oft unge­wöhn­li­chen Bil­dern und Ver­glei­chen: Die Nacht „löst sich nicht auf, son­dern gibt nach, wird ris­sig wie königs­blaue Email­le.“ An ande­rer Stel­le wütet es nach dem Tod des Vaters im „Fäkal­mag­ma“ sei­nes Bauches.

Wie breit gefä­chert müs­sen Karin Utten­dör­fers Lek­tü­ren gewe­sen sein, um den viel­ge­stal­ti­gen Ton ihrer Über­set­zung her­aus­zu­ar­bei­ten? Der Roman klingt nach Bal­zac und Zola, stel­len­wei­se aber auch nach einem You­tube-Video über Mas­sen­tier­hal­tung. Natu­ra­lis­ti­scher Abstam­mung ist auch der deter­mi­nis­ti­sche Ansatz des Romans: Zum einen hat sich die mensch­li­che Grau­sam­keit von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on ver­erbt, zum ande­ren gilt dies auch für bestimm­te Sprach­merk­ma­le. Auf die Ver­or­tung im Jahr 1981 wei­sen fast aus­schließ­lich die tech­ni­schen Errun­gen­schaf­ten hin, sonst bevöl­kern die glei­chen Wort­fel­der den gan­zen Text, keh­ren Begrif­fe wie „Über­res­te“ und „Exkre­men­te“ immer wie­der und über­dau­ern die Jahr­zehn­te – die­se Wie­der­ho­lun­gen und Bezü­ge zu erken­nen, erfor­dert Sen­si­bi­li­tät und Aufmerksamkeit.

Die Jury lobt die „sinn­li­che Ele­ganz“ des Ori­gi­nals. Es geht ums Pis­sen, Kacken und Fres­sen, um den Gestank des Todes, um Blut und Schleim, von Tie­ren wie Men­schen – sinn­lich in Bezug auf Sin­nes­wahr­neh­mun­gen ist Tier­reich also in jedem Fall. Die Radi­ka­li­tät und die teils dras­ti­sche Wort­wahl über­setzt Utten­dör­fer geni­al ins Deut­sche. Dabei gelingt es ihr, die Ähn­lich­keit, oft Gleich­stel­lung von Tier und dem genau­so tie­ri­schen Men­schen, deut­lich zu machen:

Un matin d’octobre, alors qu’elle se trouve seu­le dans la soue et pro­di­gue des soins à leur tru­ie gestan­te, une dou­leur la fau­che au milieu de l’enclos et elle tom­be à genoux, sans même pous­ser un cri, sur le foin qu’elle vient de disper­ser au sol et dont la pous­siè­re pâle et par­fu­mée s’élève enco­re en spi­ra­les. Les eaux inon­dent ses cuis­ses et ses bas. L’animal tra­vail­lé par sa pro­pre gési­ne tourne et retourne autour d’elle en pous­sant de longues plain­tes, son vent­re énor­me bal­lot­té par la cour­se, ses mamel­les déjà gon­flées de lait, les lèv­res de sa vul­ve tur­ge­s­cen­te ent­rou­ver­tes ; et c’est à genoux puis sur le flanc que la géni­tri­ce met bas, com­me une chi­en­ne, com­me une tru­ie, pan­telan­te, rubicon­de, le front per­lé de sueur.
Eines frü­hen Mor­gens im Okto­ber, sie ist allei­ne im Koben und ver­sorgt die träch­ti­ge Sau, wird sie mit­ten im Schwei­negat­ter von einem jähen Schmerz gepackt, und sie sinkt auf die Knie, ohne auch nur einen Schrei von sich zu geben, auf das Heu, das sie gera­de auf dem Boden ver­teilt hat und des­sen wei­ßer und duf­ten­der Staub noch in Spi­ra­len auf­wir­belt. Frucht­was­ser läuft ihr über Schen­kel und Strümp­fe. Das Tier, von sei­nen eige­nen Wehen geplagt, umkreist sie immer wie­der, stößt dabei lan­ge Kla­ge­lau­te aus, sein enor­mer Bauch wab­belt beim Lau­fen von einer Sei­te zur ande­ren, die Zit­zen sind von Milch schon ange­schwol­len, die Lip­pen der pral­len Vul­va bereits leicht geöff­net; und erst auf den Knien, dann auf der Sei­te lie­gend, wirft die Erzeu­ge­rin, wie eine Hün­din, wie eine Sau, zuckend, hoch­rot, von ihrer Stirn perlt der Schweiß.

Tier­reich ist pas­sa­gen­wei­se schwer erträg­lich. Harm­lo­ses wird mit dras­ti­schen Wor­ten aus­ge­drückt, Dras­ti­sches umge­kehrt bis zur Harm­lo­sig­keit sach­lich. Da wird einem Fer­kel der Hals umge­dreht, ohne Vor­zei­chen auf der psy­cho­lo­gi­schen oder sprach­li­chen Ebe­ne, in nüch­ter­ner Spra­che. Durch doku­men­ta­ri­sche Sach­lich­keit ent­ste­hen gera­de die ein­dring­lichs­ten und erschüt­ternds­ten Szenen.

Ruhe fin­det der Leser nur in den atmo­sphä­ri­schen Beschrei­bun­gen, vor allem von Flo­ra und Fau­na, Land­schaft und Dorf:

Le ciel est clair, chaulé, l’air bruis­se enco­re de nuées d’abeilles alour­dies de pol­len. Les ter­res sont ron­des et pom­melées com­me la crou­pe d’un percheron.
Der Him­mel ist klar, weiß­ge­kalkt, die Luft noch erfüllt vom Rau­schen pol­len­be­la­de­ner Bie­nen­schwär­me. Rund und apfel­schim­me­lig wie die Krup­pe eines Per­che­ron lie­gen die Fel­der da.

Hier erweist sich auch, wie vie­le Bäl­le Utten­dör­fer gleich­zei­tig in der Luft hal­ten muss: Klang, Rhyth­mus, Dich­te, Prä­zi­si­on. Nichts davon geht ver­lo­ren. Der deut­sche Satz bewahrt die poe­ti­sche Schön­heit des Ori­gi­nals, eben­so wie des­sen Prä­gnanz. Beim Lesen muss man mit der „Krup­pe eines Per­che­rons“ zurecht­kom­men. Hil­fe­stel­lung gibt ein Glos­sar am Ende des Buchs, das Begrif­fe wie eben­die­sen „Per­che­ron“, „Myxo­ma­to­se“ oder „Ata­vis­mus“ erklärt. Kon­den­siert auf zwei­ein­halb Sei­ten zeigt es den enor­men Recher­che­auf­wand, den die Über­set­ze­rin betrie­ben haben muss, um sich in höchst unter­schied­li­che The­men ein­zu­ar­bei­ten. Doch nicht alles – Medi­ka­men­ten­na­men, Kriegs­ma­te­ria­len, Kör­per­merk­ma­le – fin­det sich im Glos­sar wie­der: Einen hohen Anspruch hat Utten­dör­fer nicht nur an die eige­ne Arbeit, son­dern auch an den Leser.

Jean-Bap­tis­te Del Amo war 2016 in der Aus­wahl für den Prix Gon­court. Er hat den wich­tigs­ten Lite­ra­tur­preis Frank­reichs nicht bekom­men – zu Unrecht. Ein Grund mehr, Karin Utten­dör­fer für ihre bemer­kens­wer­te Über­set­zung auszuzeichnen.

Lieb­lings­satz

„Die Angst, der Schmerz und die Scham haben das Begeh­ren aus­ge­löscht. Der Anblick der auf­ge­spreng­ten Kör­per auf dem Schlacht­feld. Wie konn­te man sie noch wol­len, wenn man wuss­te, was sie enthielten?“

Zwei Fra­gen an die Nominierte

Was macht das Buch aus?

Karin Utten­dör­fer: Tier­reich ist ein radi­ka­ler Roman über das Abdrif­ten einer Mensch­heit, die blind­wü­tig Natur und Tie­re zu domi­nie­ren sucht und die in die­sem unbarm­her­zi­gen Kampf ihre gan­ze Grau­sam­keit ent­hüllt – und all ihr Leid. Del Amo erzählt dies in einer orga­ni­schen Spra­che, die natu­ra­lis­tisch und sinn­lich ist, mit genau­en Beschrei­bun­gen, bestechen­den, berüh­ren­den Bil­dern, mit aus­ge­such­tem Voka­bu­lar und weit aus­ho­len­den Sät­zen, einer Spra­che, die einer­seits poe­tisch, ande­rer­seits bru­tal und extrem krea­tür­lich ist: Sin­nes­ein­drü­cke, Geräu­sche, Gerü­che und eine wir­kungs­vol­le Kom­po­si­ti­on von Lich­tern, Spie­ge­lun­gen, Bli­cken. Orna­men­ta­le Satz­ge­bil­de wer­den kon­tras­tiv zum scho­nungs­los rohen Inhalt gesetzt. In den exak­ten Bezeich­nun­gen von Flo­ra und Fau­na scheint Del Amo in der Spra­che das bewah­ren zu wol­len, was vom Aus­ster­ben bedroht oder bereits ver­schwun­den ist. Und er erschafft ein kör­per­li­ches Schrei­ben, das die Gren­zen zwi­schen Tier und Mensch ins Wan­ken bringt.

Was haben Sie beim Über­set­zen gelernt?

Karin Utten­dör­fer: Über die inhalt­li­che Recher­che hin­aus habe ich das Meis­te in der kon­kre­ten Über­tra­gung von Del Amos Spra­che ins Deut­sche gelernt. Ich muss­te unglaub­lich genau lesen, hin­ter­fra­gen und ana­ly­sie­ren, um den sich win­den­den und oft sehr ver­schach­tel­ten, aus­ufern­den Sät­zen zu fol­gen und dann in einem spä­te­ren Schritt, die­ses Kor­sett wie­der zu lösen und eine eige­ne, deut­sche Sprach­struk­tur, einen pas­sen­den Rhyth­mus und eine eige­ne Öko­no­mie zu fin­den. Aus dem viel­fäl­ti­gen Fach­vo­ka­bu­lar, das für fran­zö­si­sche, näher am Latein geschul­te Ohren zugäng­li­cher ist, galt es beherzt eine für deut­sche Leser geeig­ne­te „Misch­form“ zu erschaf­fen. Das kom­ple­xe Zeit­ge­fü­ge, in dem die Erzähl­zeit jeweils das Prä­sens ist, durch­wo­ben mit eben­falls im Prä­sens wie­der­ge­ge­be­nen Sze­nen aus der Ver­gan­gen­heit, Rück­bli­cken und Traum­se­quen­zen, wir­kungs­äqui­va­lent zu über­tra­gen, erfor­der­te eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der Zei­ten­fol­ge und im Deut­schen zum Teil dif­fe­rie­ren­dem Zeit­ver­ständ­nis. Und nicht zuletzt war das, was ich als ‚kör­per­li­ches Schrei­ben‘ bezeich­ne, ein äußerst sen­si­bles Moment bei mei­ner Arbeit, denn Del Amo geht so weit, in den Beschrei­bun­gen manch­mal die Gren­zen zwi­schen den Geschlech­tern und auch zwi­schen Mensch und Tier auf­zu­lö­sen, sodass die­se auf­re­gen­de Geschich­te nicht nur erzählt wird, son­dern in der Spra­che selbst stattfindet.


Jean-Bap­tis­te Del Amo/Karin Utten­dör­fer: Tier­reich (Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: Règ­ne Animal)

Matthes & Seitz 2018 ⋅ 440 Sei­ten ⋅ 26 Euro

https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/tierreich.html

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