In der Monographie der Professorin für Bewegungs- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein, die unter dem Titel Pina Bausch und das Tanztheater – Die Kunst des Übersetzens erschienen ist, wird das Wort Übersetzen als kulturwissenschaftlicher Begriff verwendet, eingesetzt zum Nachdenken über Tanz, Theater, Kritik und Rezeption. „Übersetzt“ wird dabei nicht wie in der Literatur von einer Ausgangs- in eine Zielsprache, sondern Erlebtes in Bewegung, Wahrgenommenes in Wort und Schrift, Tanz in Notation, Vergangenes in die Gegenwart und zu Analysierendes durch eine „Praxeologie des Übersetzens“ in Wissenschaft.
Enthält das Buch trotzdem Anregungen für das Übersetzen von Literatur? Ich finde ja.
Allerdings hätte ich eine kunstsoziologische Studie über Tanz kaum gelesen, wäre mein Interesse an Pina Bausch und ihrem künstlerischen Erbe nicht kürzlich durch die Teilnahme an einem Workshop für zeitgenössischen afrikanischen Tanz in der École des Sables, Senegal, neu erwacht. Dort wurden wir vormittags von Germaine Acogny in ihre Schule des modernen afrikanischen Tanzes eingeführt, und nachmittags arbeitete Claude Magne, ein französischen Lehrer, mit uns durch genaues Hinsehen und Ausprobieren an und mit unseren europäisch geprägten Bewegungen. Was wir dabei erlebten, war ein ständiges Widerspiel zwischen dem Eigenen und dem Fremden, nicht durch Sprache, sondern allein durch Bewegung zu Musik und weniger mit dem Kopf als mit dem Körper. Auch hatte ich noch nie versucht, Empfindungen und Vorstellungen ohne Worte, nur tanzend auszudrücken.
An den letzten drei Tagen wetteiferten professionelle Tänzerinnen und Tänzer aus ganz Afrika um die Auswahl für eine Gemeinschaftsproduktion der École des Sables mit der Pina Bausch Foundation: eine Inszenierung des Balletts „Das Frühlingsopfer“ in der Choreografie von Pina Bausch mit einem ausschließlich afrikanischen Ensemble. Bei einigen der Auswahlproben bekamen wir noch einmal, auf anderem Niveau, einen Eindruck von der Kluft zwischen afrikanischen und europäischen Bewegungsüblichkeiten.
Nach diesen Erfahrungen klang der Titel des Buches von Gabriele Klein mehr als einladend. Er weckte bei mir die Erwartung, dass „Die Kunst des Übersetzens“ sich vor allem auf Pina Bauschs Arbeit mit ihrer Compagnie beziehe, auf die Umsetzung von Idee in Tanz.
Die Erwartung wurde enttäuscht. Denn Klein will mehr als nur von Pina Bausch und ihrer Arbeitsweise berichten. Sie tut es zwar und bietet die bislang umfassendste Darstellung von Bausch und ihrem Tanztheater, aber es geht ihr dabei stets auch um die Vorführung einer bestimmten Methode: die von ihr entwickelten Ansätze zu einer Übersetzung von ästhetischer Praxis in Diskurs.
Im abschließenden theoretisch-methodischen Teil wird dieser Ansatz erläutert. Für meine Arbeit als Literaturübersetzerin ist das eher am Rande interessant, nicht mehr als ein Blick über den Tellerrand in die Welt der Medien‑, Sozial- und Kulturwissenschaften, wo das »Konzept der Übersetzung« seit einigen Jahrzehnten breit diskutiert wird.
Insbesondere das Paradox von Identität und Differenz als „genuiner Bestandteil des Übersetzens“ wird dabei viel zitiert. Man beruft sich auf einen Aufsatz von Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers von 1923, und überträgt den Gedanken aus seinem literarischen Kontext auf das eigene Feld. Benjamin, schreibt Klein in einem früheren Aufsatz, „Praktiken des Übersetzens im Werk von Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal“, habe das Problem von Identität und Differenz dadurch gelöst, dass er der Übersetzung zwei Aufgaben zuschreibe, nämlich zugleich Differenz zu erzeugen wie „überhistorische Verwandtschaft“ zu bezeugen. In der Übersetzung gehe es demnach nicht darum, den Sinn des Gemeinten zu entschlüsseln, sondern darum, „flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinns das Original (zu berühren), um (…) ihre eigenste Bahn zu verfolgen.“ Wichtig sei, Übersetzung und Original im Spiel miteinander zu halten, der Formulierung Benjamins folgend: „Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.“
Klein und ihre Kolleginnen und Kollegen beziehen das Übersetzen auf den Umgang mit den Gegenständen ihrer Forschung. Ich entnehme dem nicht viel mehr als die erfreuliche Nachricht, dass es im Diskurs ihrer Disziplinen ein Bemühen um Offenheit gibt, indem man sich in der interkulturellen Forschung von früheren Hierarchisierungen und Deutungshoheiten löst und zu verstehen versucht, was „zwischen“ jeweils zu Vergleichendem vorgeht. Die Überwindung tradierter Wertungen ermöglicht einen frischen, differenzierten Blick auf Transferprozesse, weniger Festschreibungen, neue, vielleicht ehrlichere Fragestellungen.
Überzeugend gelingt dies der Autorin im, sagen wir, praktischen Teil ihres Buches, bei ihrem „Versuch, das außergewöhnliche Schaffen von Pina Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal in Worte zu übersetzen und es wissenschaftlich zu fassen“. Aufgeteilt in die Kapitel „Stücke“, „Compagnie“, „Arbeitsprozess“, „Solotänze“ und „Rezeption“ vermittelt sie ein umfassendes Bild der Arbeit des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch vom Beginn in den siebziger Jahren bis über den Tod der Choreografin hinaus. Die Kommentare zum Prozess des Übersetzens sind sparsam und verweisen auf das Theoriekapitel am Ende. Was wir zu lesen bekommen, ist die „Übersetzung“ selbst, sorgfältig recherchierte und erarbeitete, übersichtlich gegliederte, zu sehr gut lesbaren Narrativen gestaltete Abhandlungen, die außerordentlich informativ sind. Wo immer notwendig wird der historische Rahmen beigegeben, auch dies in kondensiertem, lebendigem Stil, so dass die Beschreibung der Kunst nirgends im luftleeren Raum schwebt, sondern sie wohl dosiert in ihrer Zeit verankert. Ausführliche Biografien der wichtigsten Akteure, zugeschnitten auf das für ihre Arbeit Wichtige, geben Einblick in die menschliche Komponente der Produktionen. Weil unmöglich alle 44 Choreografien bedacht werden können, die Pina Bausch geschaffen hat, stehen im Zentrum die 15 internationalen Koproduktionen jeweils mit Blick auf „das Zusammenspiel von Arbeitsprozess (Stückentwicklung, Wiederaufnahmen, Weitergaben), jeweiligem Stück und dessen Aufführungen sowie der Rezeption“. Sie werden in diesem Buch erstmals zusammenhängend untersucht.
Kleins Ziel ist es darüber hinaus,
in Bearbeitung des reichhaltigen Materialkorpus das Konzept der Übersetzung als ein zentrales Konzept für künstlerisches Schaffen und Aufführen in globalisierten und vernetzten Gesellschaften einzuführen … An ihren [Pina Bauschs] Arbeiten, an den Praktiken des Probens, Stückentwickelns und Aufführens, an den Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenhalts lässt sich das Konzept der Übersetzung anschaulich machen.
Für mich aber ist die Bearbeitung des reichhaltigen Materialkorpus selbst – das geglückte Produkt der angewandten Methode –, schlicht die fertige „Übersetzung“ also, der eigentliche Gewinn der Lektüre. Die für den wissenschaftlichen Diskurs wahrscheinlich fruchtbaren Hinweise darauf, dass es sich immer dann um Übersetzung handelt, wenn verglichen, vermittelt, übermittelt, transferiert, transkribiert, übertragen wird, sind für meine Praxis zu global. Erst wo es konkret um die Prozesse künstlerischer Produktion geht, spitze ich die Ohren. Dass man im Tanztheater nicht schriftlich von einer Sprache, einer Literatur in die andere übersetzt, sondern Außersprachliches mithilfe von Formen gesprochener und gestischer Verständigung in außersprachlichen Ausdruck, ist anders und trotzdem irgendwie nah. Und es lädt ein, die eigene Arbeit zu reflektieren. Wie gehen Pina Bausch und die Compagnie bei ihrer „Übersetzung“ vor? Wie kommen sie dahinter, was gesagt werden will? Aus welchen Quellen schöpfen sie? Wie finden sie zu ihrer Form? Was geht in die Entscheidung ein?
Wie mache ich es? Kann es für mich nützlich sein, nicht vorschnell in Sprache – Sätzen, stilistischen Möglichkeiten – zu denken, sondern tiefer zu schöpfen?
Der Zufall will, dass ich gerade an einem Text sitze, den ich als sehr herausfordernd empfinde, weil die Autorin etwas zu greifen sucht, das für sie nicht fassbar ist und an das sie sich nur heranschreiben kann. Es steht nicht da, aber durchdringt den Text. Was ich im Deutschen hinschreibe, muss das Viele, was zwischen den Zeilen schwingt, aber nicht ganz in Worte gefasst ist, mit transportieren. Ich möchte, dass möglichst wenig auf der Strecke bleibt. Wie tief muss ich schöpfen, um das, was der Text umtanzt, meinerseits hervorzuholen und zu reproduzieren? Das frage ich mich täglich. Natürlich allein. Und es ist inspirierend zu lesen, wie Pina Bausch Themen, die für sie existenziell waren, zusammen mit ihrer Compagnie zu Stücken entwickelt und geformt hat.
Gabriele Klein, die den Prozess viele Jahre lang genauestens unter die Lupe genommen hat, bietet eine phantastische Fülle an Informationen, sie arbeitet die charakteristischen Aspekte des künstlerischen Schaffens heraus und bettet die Stücke in ihren jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und politischen Zeitkontext ein. Über die Akteure erfährt man das, was Klein für ihre Arbeit in der Compagnie als wichtig empfindet, und der Arbeitsprozess für die Entwicklung der Stücke wird akribisch geschildert. Mehr und mehr kommt dabei zum Vorschein, was Pina Bausch und ihre Tänzer bewegt hat und wie es zu Tanz geworden ist. „Das Ahnen übersetzen“ heißt eine Zwischenüberschrift im Kapitel „Compagnie“. Durch die Arbeit wird ein Gespür dafür entwickelt, an das zu Ahnende, den Kern des zu Ertanzenden, heranzukommen und das tänzerische Können entsprechend einzusetzen.
Ein Zitat von Pina Bausch dazu spricht mich für meine Praxis direkt an, für die vielen Fälle, in denen vorgefertigte Lösungen zu kurz greifen und ich mich beim Suchen von Formulierungen am Rand meiner Fähigkeiten bewege. Sie schreibt:
Das Tanzen muss einen anderen Grund haben als bloße Technik und Routine. Die Technik ist wichtig, aber sie ist nur eine Grundlage. Bestimmte Dinge kann man mit Worten sagen und andere mit Bewegungen. […] Es geht darum, eine Sprache zu finden – mit Worten, mit Bildern, Bewegungen, Stimmungen –, die etwas von dem ahnbar macht, was immer schon da ist. […] Es ist ein ganz präzises Wissen, das wir alle haben, und der Tanz, die Musik usw. sind eine genaue Sprache, mit der man dieses Wissen ahnbar machen kann.
Für diesen Findungsprozess hat Pina Bausch eine besondere Methode des Fragens angewandt – zum ersten Mal systematisch angewandt 1978 bei der Arbeit am Macbeth-Stück „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“, das sie auf Einladung von Peter Zadek am Bochumer Schauspielhaus entwickelte. Noch einmal Bausch:
Die Fragen sind dazu da, sich ganz vorsichtig an ein Thema heranzutasten. Das ist eine ganz offene Arbeitsweise und doch eine ganz genaue. Denn ich weiß immer ganz genau, was ich suche, aber ich weiß es mit meinem Gefühl und nicht mit meinem Kopf. Deshalb kann man auch nie ganz direkt fragen. Das wäre zu plump, und die Antworten wären zu banal. Eher ist es so, dass ich, was ich suche, mit den Worten in Ruhe lassen und doch mit viel Geduld zum Vorschein bringen muss.
Was ich suche, mit den Worten in Ruhe lassen und doch mit Geduld zum Vorschein bringen: Für die Arbeit an meinem oben erwähnten Text müsste der Satz so weitergehen „… um wirklich erst, wenn es zum Vorschein gebracht ist, Worte zu wählen“.
Durch die Fragen an das Ensemble entstand zunächst einmal eine Materialsammlung, aus der sich dann nach und nach die Choreografie entwickelte, durch stetiges Ausprobieren, mit vielen Umwegen: „Man macht einfach ganz viele Sachen und ganz furchtbar viel Unsinn. Man lacht eine Menge. […] Aber dahinter steht doch immer der Ernst: Was möchte ich eigentlich? Was möchte ich wirklich sagen? Jetzt, in dieser Zeit, in der wir leben.“
Dieses letzte Zitat könnte auch im Bericht über eine gelungene Werkstatt zum Literaturübersetzen stehen. Wie viel offener man von Lachen gelockert ernste Dinge angehen kann, wissen wir alle. Und scheinbar Abwegiges erweitert das Assoziationsvermögen. Zulassen, ausprobieren, hinterfragen, ans Unbekannte herantasten: Mir gefällt an der Fragemethode das besondere Spiel von Distanz und Nähe, von Fremdheit und Aneignung, die Art, wie Bewusstsein geweckt und die Stimmigkeit der Antworten bis in die Fingerspitzen hinein erspürt wird. Diese Genauigkeit auch für das Übersetzen von Sprache in Sprache einzusetzen wäre kein schlechtes Ziel.
Gabriele Klein: Pina Bausch und das Tanztheater. Die Kunst des Übersetzens
Transcript 2019 ⋅ 448 Seiten ⋅ 34,99 Euro
www.transcript-verlag.de/978–3‑8376–4928‑4/pina-bausch-und-das-tanztheater/