
Plötzlich Lockdown
Es ist ein paar Minuten nach 7 Uhr morgens. Mein Mann und ich stehen an einer menschenleeren Straße in Berlin. Auf der anderen Seite beginnt der Park, einige joggen, sonst ist niemand zu sehen. Noch nie war die Stadt so lange so leer. Es ist März, seit Kurzem erst ist klar geworden, dass das neuartige Corona-Virus sich zur globalen Pandemie entwickelt. Noch wissen wir wenig über die Krankheit und den Erreger, aber so wie ich verfolgen Tausende Tag für Tag Christian Drosten, den Chefvirologen und Experten für Corona-Viren an der Charité, der in seinem NDR-Podcast täglich den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Virus, dessen Übertragung und den zu ergreifenden Maßnahmen verständlich zusammenfasst.
Wie die meisten Übersetzerinnen arbeite ich – wenn ich übersetze – selbstständig und zu Hause. Die allgemeine Verschiebung der Arbeitswelt in die eigenen vier Wände merke ich also nur daran, dass sich auch mein anderer Job in die Heimarbeit verlagert. Beim Spaziergang in der leeren Stadt schleichen sich Fragmente von Rilkes Herbsttag in mein Bewusstsein: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“, und ich bin dankbar. Dankbar dafür, ein Dach über dem Kopf zu haben, und dankbar für den Menschen, mit dem ich dieses Dach teile; dankbar, dass wir nicht Hals über Kopf die Stadt verlassen oder wie viele andere aus dem Ausland rückgeführt werden müssen; dankbar, dass die Supermarktregale immer wieder aufgefüllt werden, und dankbar für ein geregeltes Einkommen, für Stabilität, für Gesundheit.
Noch sind die Ängste diffus, die Risiken der Infektion kaum bekannt. Niemand weiß, wie lange die Situation anhalten wird. Wie in der Schule lernen wir täglich neue Vokabeln: „Infektionsgeschehen“, „Übertragungsketten“, „Viruslast“, „systemrelevant“, „kritische Infrastruktur“, „Superspreading-Events“ … Vermutlich fällt das uns Spracharbeitern besonders auf, da wir jeden Tag mit Texten in verschiedenen Sprachen auf Tuchfühlung gehen.
Wir wissen noch nicht, wie lange welche Einschränkungen in Kraft bleiben, ob man nun Masken tragen soll oder nicht (man soll!), und welche Branchen in welcher Form und welchem Ausmaß durch die Situation beeinträchtigt werden.
Die eigenen Privilegien
Einige Besonderheiten unseres Jobs kommen Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzern in der Krise zugute: Wir arbeiten zu Hause an meist umfangreichen Projekten, häufig über mehrere Monate. Wer also gerade ein oder mehrere Übersetzungen begonnen hat, wird erst einmal kaum Veränderungen spüren. Im Unterschied zu den ebenfalls hart betroffenen Autorinnen und Autoren machen Lesungshonorare bei den wenigsten von uns den Großteil der Einkünfte aus. Grundsätzlich sind die Arbeitsbedingungen aber prekär. Als Selbstständige mit niedrigen Seitenhonoraren sind wir abhängig von regelmäßigen Aufträgen durch Verlage und auch vom Buchmarkt – mit etwas verzögerter Wirkung. Denn wenn Übersetzer und Übersetzerinnen am Gewinn aus Buchverkäufen beteiligt werden, dann meistens erst ab dem tausendsten oder fünftausendsten verkauften Exemplar – und solche Zahlen erreicht kaum eine Publikation. Häufiger kommt es vor, dass das nächste Buch eines Autors, dessen erste Übersetzung sich gut verkauft hat, dann als Folgeauftrag auch übersetzt wird.
In den ersten Tagen und Wochen wird also meine Halbtagsstelle auf Heimarbeit umgestellt. Es fällt mir zu Hause noch schwer, mich zu konzentrieren – zum Glück ist das Literaturhaus, wo ich arbeite, geschlossen, es stehen unkomplizierte Aufgaben an, und auf dem Übersetzerinnenschreibtisch im Arbeitszimmer liegen keine dringenden Aufträge. Irgendwie habe ich Zeit, aber so recht will sich keine Muße einstellen.
Das Übersetzungsprojekt „Francisco de Goya – Träume und Albträume – Briefe“, an dem ich bis vor Kurzem gearbeitet habe, ist praktisch abgeschlossen. Es wurde von verschiedenen Stiftungen finanziert und die Honorare sind bereits ausbezahlt. Die Übersetzungen sind fertig, die meisten Lektorate mit Verleger und Herausgebern erledigt, das Buch ist gesetzt und jetzt geht es nur noch um den letzten Feinschliff.
Andere Projekte werden gestrichen oder in eine unbekannte Zukunft verschoben. Selbstverständlich ohne Vorschuss. Im März glauben wir noch, die Leipziger Buchmesse, eines der beiden wichtigsten Ereignisse der Literaturbranche, werde stattfinden. Erst nach und nach dämmert es, dass sich auch für uns vieles radikal verändern wird. Aber nicht nur die Messe fällt aus, auch außerhalb davon geplante Lesungen und Buchvorstellungen werden abgesagt. Gewissermaßen leben wir eine Weile im Irrealis – Veranstaltungen hätten stattfinden sollen, tun es aber nicht. Vor allem diejenigen Übersetzerinnen und Übersetzer, die zusätzlich anderen Nicht-Übersetzungstätigkeiten wie Sprachunterricht, Dolmetscherei, Workshopleitung etc. nachgehen, um die Übersetzungshonorare aufzustocken, trifft die Absagewelle hart.
Mich interessiert, wie es anderen ergeht. Mittels eines Fragebogens höre ich mich ein bisschen im Kreis befreundeter Kolleginnen und Kollegen um. Heraus kommt ein heterogenes Bild, bei dem sich ein paar Tendenzen abzeichnen. Auf europäischer Ebene bemüht sich die Interessenvertretung der Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer CEATL um einen möglichst repräsentativen Überblick. Bei Redaktionsschluss lagen leider noch keine Ergebnisse vor.
Rettungspakete und Corona-Hilfen
Die Hilfspakete, die ab März deutschlandweit geschnürt werden, vernachlässigen Einzelselbstständige und Kulturschaffende zunächst komplett, erst mit einiger Verspätung kommen einige Bundesländer doch noch darauf, Soforthilfefonds einzurichten. Fast täglich werden neue, allerdings unübersichtliche Hilfsangebote gemeldet, die Fristen und Einsatzbeschränkungen für die verschiedenen Töpfe sind sehr unterschiedlich. Wo keine Soforthilfefonds aufgelegt werden oder diese erschöpft sind, bleibt Übersetzerinnen und Übersetzern aufgrund der freiberuflichen Arbeit allerdings nur Hartz IV, wenn sie durch Corona in Not geraten. Hier und da wird der Zugang zur Grundsicherung vereinfacht, es müssen nicht die gesamten Vermögensverhältnisse offengelegt werden, aber auch das ist nicht flächendeckend gegeben. Einige konnten Gelder beantragen, werden die Unterstützung aber anteilig oder vollständig zurückzahlen, wie es das pünktlich nach Überweisung der Hilfe nachgesendete Schreiben des Berliner Senats verlangt, da sie doch nicht gebraucht wurde. In anderen Ländern sieht es mit Förderung und Auffangpaketen anders aus. Also schlechter. Dass Selbstständige in Deutschland die erhaltenen Hilfen meistens nicht zurückzahlen müssen, ist eher die Ausnahme. In Spanien beispielsweise, wo auch das Virus ziemlich übel gewütet hat, ist praktisch jede und jeder auf sich gestellt. In Mexiko gab es für Selbstständige die Möglichkeit, ihre eigenen staatlichen Rentenkonten anzuzapfen oder geförderte Kredite zu guten Konditionen aufzunehmen.
Ab ins Neuland: Zoom-Boom der Online-Formate
Ebenso wie der politische Kampf in Brasilien verlagern sich zahlreiche Lesungen und Festivals ins Netz. Auch komplett neue Formate entstehen. Literaturpreise werden online und in anderen Medien vergeben, darunter einige der wichtigsten Preise für Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer: der Preis der Leipziger Buchmesse, der Internationale Literaturpreis Berlin, der Helmut‑M.-Braem-Preis, der diesmal in „kleinstem Kreis“ verliehen wurde.
Zahlreiche Veranstaltungen zum Welttag des Buches am 23. April, der eigentlich mit Lesungen, Festivals und Live-Aktionen begangen werden sollte, werden ebenfalls ins Netz verschoben, auch unter Beteiligung von Übersetzerinnen und Übersetzern. So greift das Münchner Übersetzer-Forum auf seinem neuen Instagram-Kanal das Motto #behindeverybook auf und zeigt Übersetzerinnen und Übersetzer mit den von ihnen übersetzten Büchern.
Die NZZ gibt einen sicher nicht vollständigen, aber doch ganz guten Überblick über die größten digitalen Literaturveranstaltungen, die während der Pandemie entstanden. Ich persönlich habe das von Donat Blum, Kathrin Bach und Melanie Katz kuratierte und organisierte Online-Literaturfestival „Viral“ sehr genossen. Schön zu beobachten war, wie sich alle Beteiligten mit der Zeit immer mehr mit dem anderen Medium anfreundeten und immer bessere Modi des Interagierens fanden.
Noch immer ist die Literatur-Wahrsage-Show der Drag-Queen Audrey Naline (alias Alexander Lehnert) meist sonntags auf Instagram ein Wochenhighlight, wenn sie denn stattfindet. Auch wenn es nicht explizit ums Übersetzen geht, zeigt das Format, wie der Übergang ins Digitale auch aussehen kann.
So schalten wir uns regelmäßig in die Wohn- oder Arbeitszimmer verschiedenster Literaturmenschen und merken vielleicht, dass die Heimarbeit gar keine so schlechte Alternative sein muss. Vermutlich wird es in Zukunft insgesamt mehr digitale oder Mischformate geben – auch um der CO2-Bilanz willen eine gute Strategie.
„A room of one’s own“ – Warum muss das Private immer so politisch sein?!
Für diejenigen, die den Haushalt mit Kindern teilen, kommt eines der dicken Enden im Zeitraum zwischen dem 13. und dem 17. März: mit Schließung der Schulen und Umstellung auf Heimunterricht. Um die exponentielle Verbreitung des Virus zu verhindern und Übertragungsketten zu durchbrechen, werden Schulen und Kindergärten geschlossen bzw. auf Heimunterricht umgestellt. Für „systemrelevante Berufe“ wird Notbetreuung eingerichtet. Die Heimbeschulung ist je nach Lehrkraft unterschiedlich gestaltet – beim einen gibt es regen Austausch per E‑Mail oder sogar Videokonferenzen unter Kindern und Lehrkräften, bei den anderen beschränkt sich das schulische Angebot auf einen Stapel Arbeitsblätter, die abzuarbeiten sind.
Kolleginnen und Kollegen bestätigen, dass die Situation mit Kindern im Haushalt eine ganz andere ist als meine, dass prekäre Arbeitsverhältnisse noch viel prekärer werden. Hatten Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer mit Kindern es vorher schon schwer, den heimischen Schreibtisch gegen Störungen zu verteidigen und die Arbeit in die Zeiträumen zu verlegen, wenn die Kinder in Schule oder Kita sind, wird es jetzt für manche richtig eng. Wer schon vorher mit den Normseitenhonoraren, die 2017/18 im Durchschnitt bei 18,72 € lagen (die Empfehlung der Branchenverbände fängt bei 20€ an), nur sehr knapp die Miete bezahlten konnte, kommt jetzt in echte Nöte. Kurz, alles, was vorher schon krass war, wird jetzt richtig krass.
Wo soll das alles enden?
Für mich werden erst jetzt die Auswirkungen der Pandemie auf meine Übersetzungstätigkeit deutlich. Denn die Goya-Briefe, die ich übersetzt habe, sollte eigentlich im Rahmen der großen Goya-Schau in Basel, die im Mai 2020 eröffnen sollte, ergänzend zum Ausstellungskatalog erscheinen. Nach jetzigem Stand wird die Ausstellung auf Oktober 2021 bis Januar 2022 verschoben. Und so geht es vielen mit ihren Projekten. Die Veranstaltungen, in deren Rahmen sie lanciert werden sollen, fallen weg oder werden verschoben. Auflagen werden kleiner und dadurch fallen Tantiemen weg. Buchverkäufe sinken wiederum durch ausgefallene Veranstaltungen. Die Einnahmen für Herausgeber und Übersetzerinnen durch die Verwertungsgesellschaft Wort, die analog zur GEMA jährlich Tantiemen für Texte ausschüttet, werden weniger. Und unabhängige Verlage kämpfen weiter ums Überleben, da Mischkalkulationen nicht mehr aufgehen. Noch lange werden wir – mit der gesamten Literaturbranche – die Folgen der Pandemie spüren. Einige unabhängige Verlage werden das Ganze sicher nicht überleben und viele größere Häuser reduzieren ihre Programme radikal. Die Frankfurter Buchmesse im Oktober soll zwar stattfinden, aber in völlig neuer, verkleinerter Form. Die für Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer wichtigen Gastlandauftritte wurden allesamt um ein Jahr verschoben.
Wie viele andere Branchen, werden auch Übersetzerinnen und Übersetzer im Literaturbetrieb besonders hart getroffen, deren Existenz schon vorher prekär war. Selbstständigkeit mit niedrigen Seitenhonoraren, Kinder im Haushalt, Wegfall von Lesungen und anderen Veranstaltungen, verschobene und gestrichene Bücher und in der Folge der Ausfall von Tantiemen sind die Faktoren, die uns besonders zu schaffen machen. Der Flickenteppich an Förderungen bot zwar einigen ein vorübergehendes Sicherheitsnetz, doch griffen sie Maßnahmen nicht überall.
Einige Hilfen konnten nur für Betriebskosten aufgewendet werden, in Bundesländern wie Niedersachsen waren dies die einzigen. Dort, wo es Unterstützung gab, die auch für den Lebensunterhalt verwendet werden durfte, wurden diejenigen, die sie beantragt hatten, postwendend und unter Androhung von Strafen aufgefordert, die Hilfen bei Nichtbedarf umgehend zurückzuzahlen. Aber immerhin: Es gab und gibt Unterstützung. Ganz im Gegensatz zu anderen Ländern.
Tatsächlich hat sich bei mir seit ungefähr Mitte Juni die Auftragslage wieder auf ein Niveau zurechtgeruckelt, das mit dem vor Corona vergleichbar ist. Was wir gelernt haben: Literatur findet auch in einer Pandemie ihren Weg zu den Menschen – und sei es auf dem Lastenrad des Buchhändlers, über den Gartenzaun der Verlegerin oder als Online-Lesung. Doch sicherlich wird die Krise auch für uns nicht ohne langfristige Folgen blieben.
Seit dem 23. Juli gibt es ein umfassendes, „Neustart Kultur“ betiteltes Rettungspaket des Bundes für den gesamten Kulturbereich von Kinos über Museen bis hin zu Theatern und Literaturhäusern, die nicht überwiegend öffentlich finanziert sind. Die Hilfen von insgesamt 250 Millionen Euro können von Institutionen beantragt werden, um die allmähliche Wiederaufnahme des Kulturbetriebs unter den neuen Bedingungen zu unterstützen und die Mehrkosten bzw. Einnahmeausfälle abzufedern.
Zusätzlich gibt es 50 Millionen Euro für die Bundeskulturfonds, darunter auch der Deutsche Übersetzerfonds, der die Hilfe direkt an Übersetzer und Übersetzerinnen , indem das bestehende Stipendienprogramm umfänglich erweitert wird. Für Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer ein Segen, der die Krise hoffentlich nachhaltig abfedert. Und ein Zeichen der Wertschätzung von Kultur und Literatur. Denn Literatur und Kunst allgemein – das sollte spätestens im Lockdown klar geworden sein – ist ein grundlegendes Bedürfnis von uns Menschen.
Auch wenn die Pandemie für viele üble Konsequenzen mit sich gebracht hat und dies noch lange tun wird, zeigen sich doch einige Ansätze, die auch zukünftig weiterverfolgt werden sollten: Online-Formate, kleinere Verlagsprogramme, flächendeckende und nachhaltige Förderung. Durch die plötzlich notwendige digitale Vernetzung wurden neue Allianzen, neue Formen der Solidarität und der Zusammenarbeit möglich. Missstände wie die prekäre Arbeitsweise von Auftrag zu Auftrag mit zu niedrigen Honoraren oder die Problematik der Kinderbetreuung wurden offenbar und öffentlich, die zuvor nur denen bekannt waren, die darunter zu leiden hatten. Bleibt zu hoffen, dass diese Stimmen auch künftig gehört werden.
Auch wenn die Pandemie längst nicht vorbei ist und die Infektionszahlen in manchen Ländern erschreckende Dimensionen annehmen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir Menschen anpassungsfähige Wesen und in der Lage sind, Krisen zu überstehen – manchmal gehen wir sogar gestärkt daraus hervor. Initiativen wie Neustart Kultur und die neuen Förderungen des Übersetzerfonds machen Hoffnung. Ob das allerdings für die Einzelnen oder gar für unseren Berufsstand als Ganzen über diese Krise hinaus das Überleben sichern kann, muss sich – wie so vieles – noch zeigen.