
Kanada ist Ehrengast der virtuellen Frankfurter Buchmesse 2020 (und kommt physisch vielleicht 2021 wieder). Eine gute Gelegenheit, um den Blick weg von den zahlreichen englischen und französischsprachigen Übersetzungen, auf Bücher, die (zumindest teilweise) in Sprachen von First Nations erschienen sind, zu lenken. Was zunächst etwas nach literarischer Nische klingt, ist nicht nur für Freund_innen des #diversenkinderbuches ein spannendes und zentrales Thema.
Seit 2012 bin ich Mitbetreiberin des Kinderbuchblogs buuu.ch, der sich voll und ganz progressiver Kinderliteratur widmet. Dort bespreche ich nicht nur Novitäten, Geheimtipps und Klassiker, die Aufmerksamkeit verdienen, sondern beschäftige mich darüber hinaus auch mit den dazugehörigen Diskursen. Der meistgelesene Artikel auf unserem Blog trägt den Titel „Bei den Indianern“, „Fliegender Stern“, „Yakari“ und Co.: Warum wir keine „Indianer“bücher lesen. Er besagt: Der Begriff „Indianer“ ist in erster Linie ein europäisches Fantasiekonstrukt und im deutschsprachigen Raum vor allem durch Romane, Bücher und Comics, die von weißen Europäer_innen verfasst wurden, geprägt. Er ist historisch inkorrekt und knüpft an biologistische Rassevorstellungen an. Darüber hinaus blendet der Begriff aus, dass es sich bei den Ersteinwohner_innen Amerikas um viele, sehr heterogene Bevölkerungsgruppen handelt(e). Die damals wie heute existierende kulturelle, geschichtliche und sprachliche Vielfalt wird durch diesen Begriff unsichtbar gemacht – mit allen damit verbundenen gesellschaftlichen Konsequenzen.
Dasselbe passiert bei einer bildlichen Zusammenfassung, also einer stereotypen Abbildung eines „Indianers“, wie sie in Kinderbüchern üblicherweise zu finden ist. Diese wäre nur passend, wenn man eine westliche Projektionsfläche darstellen wollte, die es in dieser Form nie gegeben hat, die aber mit rassistischen und exotisierenden Elementen durchsetzt ist (und im schlimmsten Fall auch noch Völkermorde verharmlost). Diese Abbildungen haben somit in (progressiven) Kinderbüchern schlicht keinen Platz. Oder, wie es Twitter-User xnxnxmA kurz und bündig zusammenfasst:
Immer wieder fragen buuu.ch-Leser_innen nach Alternativen, wie sie sich gemeinsam mit ihren Kindern mit der Geschichte Nordamerikas und seinen Ersteinwohner_innen auseinandersetzen können. Dafür kommen meiner Meinung nach nur Bücher aus der Perspektive von Angehörigen einer der zahlreichen First Nations in Frage. Im Idealfall sollten sie auch von diesen geschrieben, also #ownvoices, sein. Auf Englisch kursieren einige Listen mit empfehlenswerten Büchern (u. a. #IndigenousReads by Indigenous Writers: A Children’s Reading List). Auf Deutsch gibt es erst seit kurzer Zeit eine Handvoll Bücher, die diese Kriterien erfüllen. Auch wenn die Originalausgaben allesamt zumindest teilweise in einer Kolonialsprache (also auf Englisch oder Französisch) erschienen sind und somit auch interessierte Außenstehende ansprechen, ist die Repräsentation der indigenen Sprachen eine wichtige Motivation für die Autor_innen. Dieser Aspekt ist nicht nur aus translationswissenschaftlicher Perspektive höchst spannend, sondern auch im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit Kinderliteratur und der immer noch weit verbreiteten Darstellung von „Indianern“.

Zwei Bücher, auf die ich vor einiger Zeit aufmerksam geworden bin, sind niwîcihâw / ᓂᐄᐧᒋᐦᐋᐤ / Helfen und nipêhon / ᓂᐯᐦᐅᐣ / Warten. Beide Werke wurden von der kanadischen Künstlerin Caitlin Dale Nicholson illustriert und sind im Susanna Rieder Verlag erschienen. Der Text, zweimal in Cree-Sprache – sowohl in faszinierenden Cree-Silben als auch in lateinischer Schrift – und einmal in der deutschen Übersetzung (von Susanna und Johannes Rieder), stammt von Leona Morin-Neilson, einer Pflanzenheilkundlerin und Cree-Lehrerin, die die Malerin auch zu diesem Buch inspirierte. Die Bücher fangen durch die gelungene Komposition aus wenigen Worten und ausdrucksstarken Bildern wunderbar und unaufgeregt besondere Alltagsszenen ein. Sie schaffen es, trotz aller Simplizität, einen Einblick in das heutige Leben einer First Nations-Familie, fernab von Klischees und Stereotypen, zu geben.
Dass mit Als wir allein waren von David A. Robertson (übersetzt von Christiane Kayser) ein weiteres bemerkenswertes Buch auf Deutsch erschienen ist, hängt mit dem diesjährigen Buchmesse-Gastland Kanada zusammen. Hier ist das Canada Council for the Arts gezielt an den Verlag herangetreten. Der Little Tiger Verlag vertreibt vor allem Janosch-Merchandise-Artikel, hat aber in den letzten Jahren auch immer wieder Kinderbücher mit First Nations-Bezug veröffentlicht. Dieses hier ist ein wahrer Schatz. Die Geschichte, verfasst von Robertson und illustriert von Julie Flett, beide mit Cree-Background, zeigt auf, dass auch heikle Themen (im konkreten Fall die Traumatisierung einer Residential School-Überlebenden) kindgerecht dargestellt werden können. So schreibt Robertson im Nachwort:
Es scheint schwierig zu sein, mit Kindern über so etwas Schreckliches zu sprechen, über ein System, das „den Indianer im Kind“ töten sollte. Aber es gibt behutsame Wege, um auch über die härtesten Themen zu sprechen.
Sprache spielt, ebenso wie die Familie, eine große Rolle für die Identität der porträtierten Großmutter. Beides wollte das System der Residental School beseitigen. So nannte man die überwiegend kirchlichen Internate in Kanada, in denen Kinder von Ersteinwohner_innen noch bis in die späten 90er-Jahre untergebracht wurden. Das Ziel war, sie strukturell unter dem Deckmantel eines „Zivilisierungsauftrags“ von ihren Eltern fernzuhalten, sie daran zu hindern, ihre Erstsprache zu sprechen und als weitere Folge ihre gesamte Kultur zu eliminieren.

Robertson hat gewissermaßen seine eigene Geschichte aufgeschrieben. Er ist Enkelkind einer Überlebenden, die als Kind ihre eigene Sprache nicht sprechen durfte. Auch sein Vater wurde in der Schule davon abgehalten, auf Cree zu kommunizieren. Einige Worte, die er nicht sagen durfte, hat Robertson in Als wir allein waren eingearbeitet. Bevor er das Buch schrieb, begann er erst einmal selbst, aktiv die Wörter und Phrasen, die ausgelöscht werden sollten, zu verwenden. Es war ihm nicht nur ein Anliegen, ein Kinderbuch über die kolonialistische Praxis von Umerziehungsprogrammen zu schreiben, sondern zugleich auch seine Ahnensprache wiederzubeleben.
Im Schwesterverlag Merlin ist übrigens zur selben Zeit mit Als wir allein waren die an Jugendliche gerichtete Cole Harper-Trilogie desselben Autors (übersetzt von Michael Raab) erschienen. Sie spielt in der Jetztzeit in der Wounded Sky First Nation und gibt einen realistischen Einblick in das gegenwärtige Leben in einem kanadischen Reservat. Auch hier baut Robertson immer wieder Phrasen auf Cree ein. Die Lektüre ist lehrreich und höchst spannend – und das nicht nur, weil Cole Harper ein wahrhaftiger Superheld ist (leider wird er im übersetzten Klappentext als erster „indianischer“ Superheld bezeichnet, das Original kommt ohne diese Bezeichnung aus).

Ein in diesem Kontext unbedingt erwähnenswertes Buch ist auch Die Würdigung des Bisons. Eine Legende der Plains Cree aus dem MONS Verlag, das gleichzeitig eine Überlieferung, eine generationenübergreifende Großeltern-Kind-Geschichte (wie die vorab erwähnten Titel auch) und ein Sachbuch ist. In dieser erstmals aufgezeichneten Legende wird die Bedeutung des Bisons für das Überleben der Plains Cree erzählt.
Das Konservieren von Geschichte(n), Kultur und Sprache spielt eine große Rolle für alle Beteiligten an diesem Buch: Die Kinderbuchautorin Judith Silverthorne hat die Geschichte basierend auf den Erzählungen des Wächters der Weisheit, Heilers und Angehörigen der Cree, Ray Lavallee, aufgeschrieben, illustriert wurde sie von Mike Keepness, der im Reservat der First Nation Pasqua aufwuchs. Der ursprünglich auf Englisch geschriebene und dann ins Französische übersetzte Text wurde von einer Gruppe Linguisten, die Cree sowohl lehren als auch bewahren wollen, nämlich Jean Okimāsis, Randy Morin und Arok Wolvengrey, rückübersetzt. Die deutschsprachige Ausgabe enthält die Übersetzung von Wolfgang Barth und den Cree-Text (in lateinischer Schrift).
Extrem bedeutsam sind solche Bücher für die Angehörigen der Volksgruppen selbst. Kinderbücher sind ein niederschwelliger Anlass, um die jüngere Generation mit ihrer Ahnensprache zu konfrontieren – und sie so schließlich wiederzubeleben und aufleben lassen zu können. Sie sind ein elementarer Beitrag zur kulturellen Selbstermächtigung. Genauso wichtig sind die Publikationen aber auch für interessierte Außenstehende. Es gibt in Europa großes Interesse am Thema First Nations, und alle hier vorgestellten Bücher ermöglichen einen diesbezüglich dringend erforderlichen Perspektivenwechsel. Weg von Klischees, Stereotypen, Rassismus und Geschichten ÜBER die Nachfahren von Erstbewohner_innen Kanadas, und hin zu authentischen Einblicken in die tatsächliche Lebenswelt und auch in die (auferstandenen) Sprachwelten von real existierenden Individuen.
Wenn ich das Angebot an empfehlenswerten Büchern mit dem von vor wenigen Jahren vergleiche, hat sich durchaus einiges getan. Das Canada Council for the Arts hat unter anderem im Rahmen der Buchmesse eine Bewegung bewirkt, und dies gibt Hoffnung, dass das Interesse am Thema First Nations und das Bewusstsein für die Problematik nachhaltig ist und es endlich zu einem Umdenken in der Mainstream-Kinderbuchwelt kommt.