Über­set­zung des Monats: Was man sät

Der niederländische Roman „De avond is ongemak“ und seine englische Übersetzung wurden im Rahmen des International Booker Prize bereits ausgiebig gefeiert. Auch die deutsche Übersetzung von Helga van Beuningen hat Rampenlicht verdient. Von

Wäh­rend die jun­ge Jas in Was man sät unge­bremst in eine vom Tod bestimm­te Welt schlit­tert, erschließt die Über­set­ze­rin Hel­ga van Beu­nin­gen den Lesern und Lese­rin­nen ein­drucks­voll ihre poe­ti­sche Gedankenwelt.
Über­set­zung des Monats Oktober
Titel

Was man sät

Autor*in

Marie­ke Lucas Rijneveld

Über­setzt von

Hel­ga van Beuningen

Ori­gi­nal­spra­che

Nie­der­län­disch

Ori­gi­nal­ti­tel

De avond is ongemak

Link zur Verlagsseite

www.suhrkamp.de/buecher/was_man_saet-marieke_lucas_rijneveld_42897

„Ich bin so stolz wie eine Kuh mit sie­ben Eutern.“ Mit die­sen Wor­ten reagier­te Marie­ke Lucas Rijn­eveld, als Ende August ver­kün­det wur­de, dass der Roman De avond is onge­mak und Miche­le Hut­chisons eng­li­sche Über­set­zung The Dis­com­fort of Evening mit dem Inter­na­tio­nal Boo­ker Pri­ze aus­ge­zeich­net wor­den sind. Rijn­eveld iden­ti­fi­ziert sich als nicht­bi­när und ist mit 29 Jah­ren die jüngs­te Per­son und zugleich die ers­te aus den Nie­der­lan­den, die die­sen pres­ti­ge­träch­ti­gen Preis in Emp­fang neh­men darf. Und nicht nur in Eng­land ist De avond is onge­mak ein rie­si­ger Erfolg. Nur weni­ge Tage nach der Bekannt­ma­chung ist auch die New York Times voll des Lobes. Doch auch die deut­sche Über­set­zung Was man sät von Hel­ga van Beu­nin­gen muss sich nicht hin­ter dem Ori­gi­nal ver­ste­cken. Die direk­te, inten­si­ve und ganz eige­ne Spra­che Rijn­evelds wur­de mit Bra­vour ins Deut­sche übertragen.

Marie­ke Lucas Rijn­eveld (1991) wuchs in Nord-Bra­bant auf einem Bau­ern­hof in einer streng refor­mier­ten Fami­lie auf und zog mit 19 Jah­ren zum Stu­di­um nach Utrecht. Der Debüt­ro­man De avond is onge­mak (wört­lich über­setzt „Der Abend ist Unbe­ha­gen“) ist 2018 erschie­nen, das Poe­sie­de­büt Kalfs­vlies erschien bereits 2015, 2019 folg­te der zwei­te Gedicht­band Fan­toom­mer­rie. Bei­de Bän­de sind äußerst lesens­wert. Rijn­eveld gilt neben Lize Spit, Breg­je Hof­stede, Niña Wei­jers und ande­ren jun­gen Autorin­nen (Spit und Wei­jers wur­den übri­gens eben­falls von van Beu­nin­gen über­setzt) als eine der wich­tigs­ten, nach dem jüngs­ten Boo­ker Pri­ze Erfolg höchst­wahr­schein­lich sogar als die wich­tigs­te neue Stim­me der nie­der­län­di­schen Literatur.

Was man sät han­delt von der jun­gen Jas, die zusam­men mit zwei älte­ren Brü­dern und einer jün­ge­ren Schwes­ter in einer streng cal­vi­nis­tisch-ortho­do­xen Bau­ern­fa­mi­lie mit Milch­kuh­be­trieb auf­wächst. Zwei Tage vor Weih­nach­ten geht der ältes­te Bru­der Mat­thies Schlitt­schuh­lau­fen, bricht im Eis ein und ertrinkt. Der Christ­baum, jeg­li­cher Weih­nachts­schmuck und alle für das Weih­nachts­fest vor­ge­se­he­nen Spei­sen wer­den aus dem Haus geschafft, statt­des­sen liegt der tote Jun­ge auf­ge­bahrt im Wohn­zim­mer. Die Eltern ver­ges­sen in ihrer Trau­er, dass sie noch drei leben­di­ge Kin­der haben, die Lie­be und Auf­merk­sam­keit brau­chen, zie­hen sich immer wei­ter zurück, ent­fer­nen sich auch von­ein­an­der und ver­bie­ten, über Mat­thies zu spre­chen. Statt­des­sen gel­ten unaus­ge­spro­che­ne Regeln: Nie­mand darf auf Mat­thies Stuhl sit­zen und sei­ne Jacke bleibt für immer unan­ge­rührt an der Gar­de­ro­be hängen.

Der Roman besteht aus drei Tei­len, im ers­ten ist Jas zehn Jah­re alt, danach folgt ein Sprung und Mat­thies ist schon seit ein­ein­halb Jah­ren tot. Jas und ihre Gedan­ken­welt zie­hen den Leser auf den drei­hun­dert Sei­ten in eine Welt der Trau­er, der Ver­nach­läs­si­gung, der erwa­chen­den Sexua­li­tät, der Tier­quä­le­rei und der Aussichtslosigkeit.

Die Lek­tü­re von Was man sät geht unter die Haut. Die Aus­sichts­lo­sig­keit und den all­ge­gen­wär­ti­gen Tod ver­mit­telt Rijn­eveld ein­dring­lich über eine dras­ti­sche, direk­te Spra­che. Stel­len­wei­se ist sie fast bru­tal, und trotz­dem wird über die Spra­che gera­de auch die Schön­heit die­ses Tex­tes ver­mit­telt: über die Fri­sche der Wort­wahl und die Neu­ar­tig­keit der Bil­der, Meta­phern und Ver­glei­che, die per­fekt in die klei­ne Bau­ern­hof­welt der cal­vi­nis­tisch-ortho­do­xen Fami­lie inte­griert wer­den. Grau­sam­keit und Schön­heit gehen bei Was man sät Hand in Hand. Und das gelingt auch Hel­ga van Beu­nin­gen in der deut­schen Über­set­zung. Ich habe den Roman das ers­te Mal kurz nach dem Erschei­nen auf Nie­der­län­disch gele­sen und fand das Buch schon damals beein­dru­ckend und auf eine gewis­se Wei­se auch scho­ckie­rend, ohne dass klas­si­sche Schock­ele­men­te ver­wen­det wer­den. Die deut­sche Lek­tü­re hat mich jedoch noch stär­ker berührt und für ein unglaub­lich inti­mes und nahe gehen­des Lese­er­leb­nis gesorgt, was in ers­ter Linie Hel­ga van Beu­nin­gens stim­mungs­vol­ler Über­tra­gung ins Deut­sche geschul­det ist.

Schon die Reak­tio­nen von Jas und ihrem Bru­der Obbe auf die Nach­richt über den Tod ihres Bru­ders ver­an­schau­li­chen die Beson­der­heit des Zusam­men­spiels von inhalt­li­cher Grau­sam­keit und sprach­li­cher Kreativität.

Ze had niet begr­epen wat er zojuist was gezegd, en ik bedacht dat ik ook kon doen alsof mijn oren in de knoop zaten, een knoop, die je er niet meer uit kreeg.
Sie hat­te nicht ver­stan­den, was gera­de gesagt wor­den war, und ich über­leg­te mir, dass ich auch so tun könn­te, als wären mei­ne Ohren zuge­kno­tet, mit einem Kno­ten, den man nicht mehr aufbekam.

Die kind­li­che Per­spek­ti­ve in Rijn­evelds Roman wird von Hel­ga van Beu­nin­gen bes­tens auf­ge­grif­fen. Der Tod, mit dem zehn­jäh­ri­ge Kin­der meist nur im Zusam­men­hang mit Groß­el­tern oder Haus­tie­ren in Berüh­rung kom­men, ist von Anfang an all­ge­gen­wär­tig. Jas beob­ach­tet, wie ihr Vater ihr Lieb­lings­ka­nin­chen mäs­tet, und befürch­tet, dass es zum Weih­nachts­fest geschlach­tet wird. Sie bit­tet Gott dar­um, ihr Kanin­chen am Leben zu las­sen, und statt­des­sen ihren Bru­der zu sich zu neh­men. Als die­ser dann wirk­lich stirbt, bre­chen Trau­er, Ohn­macht und Schuld über sie her­ein. Jas zieht ihre Jacke (das nie­der­län­di­sche Wort „jas“ bedeu­tet übri­gens auch „Jacke“) nicht mehr aus, als Schutz vor dem Tod. Sie ent­wi­ckelt eine rie­si­ge Angst vor Viren und vorm Ster­ben, sie bangt um ihre Eltern, ihre Geschwis­ter und um sich selbst. Neben dem stän­di­gen Jacket­ra­gen denkt sie sich immer mehr kurio­se Maß­nah­men aus:

Ik houd ook steeds vaker mijn adem in om geen ziek­te­kie­men bin­nen te kri­j­gen, of om dich­ter bij Mat­thies te komen. Het duurt niet lang voor­dat ik dan door mijn benen zak en alles om mij heen ver­vaagt tot een sneeuwlandschap.
Ich hal­te auch immer öfter den Atem an, um kei­ne Krank­heits­kei­me ein­zu­at­men oder um Mat­thies näher zu kom­men. Es dau­ert nicht lan­ge, bis ich dann umkip­pe und alles um mich her­um zu einer Schnee­land­schaft verschwimmt.

Die Eltern reagie­ren auf den Tod ihres ältes­ten Soh­nes, indem sie sich zurück­zie­hen. Sie beschul­di­gen sich gegen­sei­tig, die Mut­ter hört nach und nach auf zu essen, bei­de Eltern berüh­ren ihre leben­den Kin­der nicht mehr, neh­men sie nicht in den Arm, son­dern trak­tie­ren sie mit Bibel­zi­ta­ten und Psal­men, die sich durch das gan­ze Buch zie­hen. Die unglaub­lich ange­spann­te Atmo­sphä­re führt bei Jas wäh­rend der Mahl­zei­ten immer wie­der zu ver­stö­ren­den Fan­ta­sien, die im Deut­schen eben­so dras­tisch ver­mit­telt wer­den wie im nie­der­län­di­schen Original:

Oma glim­lach­te naar me. Ik wil­de dat ze stop­te met glim­la­chen, dat vader met een vork over haar gezicht ging en alles door elka­ar hus­sel­de zoals hij had geda­an bij zijn pannenkoek.
Oma lächel­te mir zu. Ich woll­te, dass sie mit die­sem Lächeln auf­hör­te, dass Vater mit einer Gabel über ihr Gesicht fuhr und alles durch­ein­an­der­matsch­te, wie er es bei sei­nen Pfann­ku­chen getan hatte.

Im Deut­schen ist das Wort „mat­schen“ natür­lich wun­der­bar laut­ma­le­risch und ergänzt die Direkt­heit und Bru­ta­li­tät des Bil­des per­fekt. Das nie­der­län­di­sche „hus­se­len“ wirkt in die­sem Fall sogar weni­ger hart als die deut­sche Über­set­zung. Die­se Sze­ne ist längst nicht die ein­zi­ge, in der das Essen bedrü­cken­de oder gar gewalt­tä­ti­ge Bil­der in der jun­gen Prot­ago­nis­tin her­vor­ruft. Ein von der Mut­ter mit Sül­ze beleg­tes But­ter­brot erin­nert Jas an einen über­fah­re­nen Igel, „den ich ges­tern auf dem Weg von der Schu­le nach Hau­se auf der Pol­der­stra­ße gese­hen habe. Es war ein trau­ri­ger Anblick: die­ses am Asphalt kle­ben­de Leben mit den Ein­ge­wei­den, die ein Stück wei­ter am Stra­ßen­rand lagen, die Augen ausgepickt…“.

Neben ver­stö­ren­den Essens­ana­lo­gien wer­den die Lese­rin­nen und Leser auch mit ver­schie­de­nen Begrif­fen aus dem Fäkal­be­reich und unter­schied­li­chen Kör­per­aus­schei­dun­gen kon­fron­tiert. Die Marsch­rou­te des Romans – die Direkt­heit, das Aus­spre­chen der unge­schön­ten Rea­li­tät – wird schon zu Beginn verdeutlicht.

Als ik nu in mijn neus ga peu­te­ren komt mijn snot er zwart uit, dat veeg ik dan af aan mijn broek, ik durf het niet op te eten uit angst dat ik er ziek van word en tot stof zal wederkeren.
Wenn ich jetzt in der Nase boh­re, kommt der Rotz schwarz her­aus, den wische ich dann an mei­ner Hose ab, traue mich nicht, ihn zu essen, aus Angst, krank zu wer­den und zum Staub zurückzukehren.

Schnod­der wird an Tisch­de­cken geschmiert, Rotz am Ärmel abge­wischt, Sei­fe ins Puploch gesteckt, Kuh­sper­ma getrun­ken, das Scheiß­loch zusam­men­ge­knif­fen. Beim Lesen ver­zieht man dann doch hin und wie­der das Gesicht vor Ekel, aber mal ehr­lich: Kin­der, und der Mensch gene­rell, machen ekli­ge Sachen. Rotz und Schnod­der gehö­ren zum All­tag. Es ist, wie es ist, war­um also soll­te man ein Blatt vor den Mund neh­men, wenn man einer Zehn­jäh­ri­gen bzw. spä­ter Zwölf­jäh­ri­gen das Wort erteilt? Und ja, die deut­sche Spra­che gibt das pro­blem­los her (Rotz! Schnod­der!) und van Beu­nin­gen hat das pas­sen­de Voka­bu­lar gewählt.

Doch weg vom Ekel und hin zur Schön­heit. Jas ist ein Mäd­chen mit einer blü­hen­den Fan­ta­sie, sie beob­ach­tet ihre Umwelt sehr genau und erschafft sich in ihrem Kopf eine eige­ne Welt. Das bemerkt auch ihre Leh­re­rin: „Ich nicke und den­ke an die Leh­re­rin, die gesagt hat, dass ich mit mei­nem Ein­füh­lungs­ver­mö­gen und mei­ner gren­zen­lo­sen Fan­ta­sie weit kom­men könn­te, dass ich auf Dau­er aber auch Wör­ter dafür fin­den müs­se, weil sonst alles und jeder in mir ste­cken bleibt.“ Glück­li­cher­wei­se hat Rijn­eveld die Wör­ter für Jas’ Fan­ta­sien und Gefüh­le gefun­den, und glück­li­cher­wei­se lässt van Beu­nin­gen auch die deutsch­spra­chi­gen Lese­rin­nen und Leser dar­an teilhaben.

Für die Reak­tio­nen ihrer Mit­men­schen fin­det Jas oft anschau­li­che Ver­glei­che. Die von Rijn­eveld gewähl­ten Bil­der sind unver­braucht und aus­sa­ge­kräf­tig. Sie funk­tio­nie­ren auch in der Über­set­zung bes­tens. Als der Vater tür­knal­lend aus dem Haus rennt, kom­men­tiert Jas das folgendermaßen:

Boos­heid heeft schar­nie­ren die nodig geo­lied moe­ten worden.
Die Schar­nie­re sei­ner Auf­ge­bracht­heit müss­ten drin­gend geölt werden.

Van Beu­nin­gen schreibt die Auf­ge­bracht­heit dem Vater zu, die nie­der­län­di­sche For­mu­lie­rung ist ohne Pos­ses­siv­pro­no­men etwas all­ge­mei­ner gehal­ten, die deut­sche Ver­si­on ist jedoch noch deut­li­cher, da sie den Zusam­men­hang zwi­schen der vom Vater getä­tig­ten Hand­lung, dem Tür­knal­len, und dem Bild herstellt.

Voor het eerst merk ik dat ik ook mijn spie­ren aan­ge­span­nen heb en dat ik het liefst vaders kop als een kroont­je­s­pen in de inkt zou wil­len duwen om er ver­vol­gens een leli­jke zin mee te schrijven […].
Zum ers­ten Mal mer­ke ich, dass ich mei­ne Mus­keln eben­falls ange­spannt habe und Vaters Kopf am liebs­ten wie eine Stahl­fe­der in die Tin­te tau­chen und dann einen häss­li­chen Satz damit schrei­ben würde […].

Und auch die­ses Bild ist anders­ar­tig und doch unglaub­lich klar. Bild­lich kann man sich vor­stel­len, wie der Kopf des Vaters in Tin­te getunkt wird. Bes­tens spie­gelt die­ses Bild auch die kind­li­che Welt von Jas wider, für die es etwas Böses ist, einen häss­li­chen Satz zu schrei­ben. Viel­leicht wür­de sie dafür ja sogar eines der von den Eltern ver­bo­te­nen „Rot­werd­wör­ter“ benutzen.

Moe­der lacht. Het is niet haar nor­ma­le lach, het is de lach als ze iets juist níét grap­pig vindt. Het is ver­war­rend, maar vol­was­se­nen zijn vaker ver­war­rend, omdat hun hoof­den als een Tetris-spel­let­je wer­ken en al hun zor­gen op de juis­te plek moe­ten inpar­ke­ren. Als het er te veel zijn, sta­pe­len ze zich op en loopt alles vast. Game over.
Mut­ter lacht. Es ist nicht ihr nor­ma­les Lachen, son­dern das Lachen, wenn sie etwas nicht lus­tig fin­det. Das ist ver­wir­rend, aber Erwach­se­ne sind ja öfter ver­wir­rend, weil ihre Köp­fe wie ein Tetris-Spiel funk­tio­nie­ren und alle ihre Sor­gen an die rich­ti­ge Stel­le schie­ben müs­sen. Wenn es zu vie­le sind, tür­men sie sich auf, und nichts geht mehr. Game over.

Die­ses Tetris-Bild ist nicht nur krea­tiv, son­dern greift dar­über hin­aus den Zeit­geist des Romans auf, denn die Geschich­te spielt in den Neun­zi­gern, als Tetris von fast allen Kin­dern auf dem Game Boy gespielt wur­de. Jas’  Gedan­ken sind schon in jun­gen Jah­ren kom­plex, und die­se kom­ple­xen Gedan­ken­gän­ge wer­den von Rijn­eveld sorg­fäl­tig in fan­ta­sie­vol­le und nach­voll­zieh­ba­re Bil­der über­tra­gen. Manch­mal wird es sogar nahe­zu phi­lo­so­phisch, zum Bei­spiel, wenn Jas sich fragt, ob Krö­ten auch Trä­nen pro­du­zie­ren können:

Wat ik me nu afv­raag, vri­en­den, kun­nen jul­lie pad­den eigen­li­jk hui­len of gaan jul­lie juist zwem­men als jul­lie ver­drie­tig zijn? Wij heb­ben tra­nen in ons maar jul­lie zoe­ken ze mis­schien wel bui­ten jul­lie zelf, om erin weg te zinken.
Was ich mich jetzt fra­ge, Freun­de, könnt ihr Krö­ten eigent­lich heu­len oder geht ihr ein­fach schwim­men, wenn ihr trau­rig seid? Wir haben Trä­nen in uns, aber ihr sucht sie viel­leicht außer­halb von euch, um dar­in zu versinken.

Die­se kind­lich fan­ta­sie­vol­len Bil­der wer­den manch­mal von nahe­zu erwach­se­nen Weis­hei­ten abge­löst, die Jas von sich gibt. Doch die­ser Spa­gat gelingt Rijn­eveld spie­lend, denn was bleibt von einer Kind­heit über­haupt noch übrig, wenn der Bru­der stirbt und statt­des­sen der Tod ein­zieht, die Eltern ihre Kin­der ver­nach­läs­si­gen, der Bru­der sadis­ti­sche Züge ent­wi­ckelt und gleich­zei­tig die eige­ne Sexua­li­tät erwacht? Wer sich in solch einem Sze­na­rio an der Schwel­le zum Erwach­sen­wer­den befin­det, kann durch­aus rei­fe Gedan­ken haben. Als der Vater aber­mals ankün­digt, zu ver­schwin­den, kon­sta­tiert Jas abge­klärt: „Vie­le wol­len flüch­ten, doch wer wirk­lich flüch­tet, kün­digt es sel­ten an, er geht ein­fach.“ Nach dem Tod ihres Bru­ders, als vie­le Besu­cher dem auf­ge­bahr­ten Mat­thies die letz­te Ehre erwei­sen wol­len, beschreibt Jas das fol­gen­der­ma­ßen: „Von jetzt an wür­de sich jeder Besu­cher die Füße län­ger abtre­ten, als nötig war. Der Tod erfor­der­te in ers­ter Linie eine Ver­la­ge­rung, das Hin­aus­zö­gern des Schmer­zes.“ Kurz fragt man sich, ob hier über­haupt noch die Ich-Erzäh­le­rin, das zehn­jäh­ri­ge Mäd­chen, spricht, oder eine über­ge­ord­ne­te Erzäh­ler­stim­me. Doch letzt­end­lich pas­sen die­se Gedan­ken zur nach­denk­li­chen Jas, die von den äuße­ren Umstän­den aus ihrer Kind­heit her­aus­ge­zwun­gen wird.

Die deut­sche Über­set­zung trans­por­tiert all die auf die Leser ein­stür­zen­den Gefüh­le und ist genau­so kom­pro­miss­los wie das nie­der­län­di­sche Ori­gi­nal. Rijn­eveld hat einen muti­gen, star­ken Text geschrie­ben, des­sen deut­sche Über­tra­gung unter die Haut geht und nahe­zu kör­per­li­che Reak­tio­nen her­vor­ruft. Doch man soll­te sich nicht von der Direkt­heit und Kon­kret­heit die­ses Romans abschre­cken las­sen, denn es wim­melt dar­in nur so von sprach­li­cher Fri­sche und plas­ti­schen Bil­dern: „Ich habe ver­ges­sen, ein Esels­ohr in die Sei­te zu machen, auf der ich war. Gäbe es nur jeman­den, der das bei mir macht, damit ich weiß, wo ich bin und von wo aus ich mei­ne Geschich­te wei­ter­le­ben muss.“ Das eige­ne Exem­plar von Was man sät wird nach der Lek­tü­re mit Sicher­heit eine Men­ge Esels­oh­ren haben.

Drei Fra­gen an Hel­ga van Beuningen

Gab es eine Inspi­ra­ti­ons­quel­le für die direk­te, erbar­mungs­lo­se aber oft auch jugend­li­che Spra­che der Protagonistin?
Nein, eine Inspi­ra­ti­ons­quel­le für die jugend­li­che Spra­che der Prot­ago­nis­tin gab es nicht, jeden­falls nicht bewusst, etwa in dem Sinn, dass ich ähn­lich gestimm­te Bücher gele­sen hät­te. Ich habe viel­mehr in mich hin­ein­ge­horcht und geschaut, was als Echo auf die Spra­che des Ori­gi­nals aus mir her­aus­kam. Ein eher intui­ti­ver Pro­zess also. Der Über­set­zer als eine Art Reso­nanz­bo­den und Klang­kör­per. Rijn­evelds Spra­che war so stark, so über­zeu­gend, dass sich wäh­rend des Über­set­zens eigent­lich sehr schnell ein für mich stim­mi­ger Ton fand, „mein“ Ton.

Neben den kind­li­chen Gedan­ken­gän­gen von Jas schim­mert immer wie­der auch eine gewis­se Weis­heit durch. Hat­ten Sie das Gefühl, dass es neben Jas eine wei­te­re Erzäh­ler­stim­me gibt, oder kol­li­diert das Kind­li­che Ihrer Mei­nung nach sogar mit die­ser „Weis­heit“?
Die­ser „wei­se“ Aspekt der ansons­ten über­wie­gend kind­li­chen Stim­me hat mich anfangs etwas irri­tiert, muss ich zuge­ben. Nach und nach gewann er aber für mich an Authen­ti­zi­tät. Es gibt ja Kin­der und Jugend­li­che, die etwas durch­aus Wei­ses haben, und Jas, die so vie­len Zwän­gen aus­ge­setzt ist, die so viel Schwe­res durch­macht und damit völ­lig allein gelas­sen wird, ent­wi­ckelt die­se beson­de­re Hell­sich­tig­keit oder „Weis­heit“ und ver­kör­pert sie für mein Emp­fin­den auch sprach­lich sehr glaubhaft.

Beim Über­set­zen setzt man sich unglaub­lich inten­siv mit einem Text aus­ein­an­der. Was man sät ist ein sehr emo­tio­na­ler, nie­der­schmet­tern­der Roman. Ist es Ihnen schwer­ge­fal­len, den Text immer wie­der zu lesen und zu bearbeiten?
Fröh­li­cher wird man bestimmt nicht beim Über­set­zen eines sol­chen Buches. Aber ich war, wenn man so will, schon ein wenig in die­ser Rich­tung „abge­här­tet“, weil ich unge­fähr ein­ein­halb Jah­re zuvor Und es schmilzt von Lize Spit über­setzt hat­te. Ihr Roman schil­dert eine ganz ähn­li­che Fami­li­en­kon­stel­la­ti­on, mit min­des­tens eben­so hoch­emo­tio­na­len, stark belas­ten­den The­men. Natür­lich kann man sich dage­gen nie wirk­lich inner­lich abhär­ten, aber die Aus­ein­an­der­set­zung mit Spits Roman hat mich doch auf die Arbeit an Rijn­evelds Werk vor­be­rei­tet und eingestimmt.

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