Anfang Oktober wurde der Literaturnobelpreis an die in Deutschland wenig bekannte Dichterin Louise Glück vergeben – eine umstrittene Entscheidung. Tobias Lehmkuhl bezeichnete ihre Gedichte als „Kitsch“ und die Autorin als „konservativ“. Sie, Frau Draesner, meldeten sich daraufhin als ihre Übersetzerin zu Wort. Haben Sie den Eindruck, dass Glücks Dichtung hierzulande missverstanden wird?
Ich habe eher den Eindruck, dass gerade eine interessante Diskussion eröffnet wird. Es geht nicht nur um Glücks Lyrik, sondern um die Frage, wie Gefühl dargestellt wird und wo unsere Kitschgrenze liegt. Die Empfindung von etwas als pathetisch oder kitschig ist keine Naturgegebenheit, sondern das Ergebnis eines geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses. In anderen Teilen der Welt, beispielsweise Osteuropa, gelten andere Empfindlichkeitsgrenzen als in den westlichen Ländern. Nicht jedem ist die xte postironische Schleife zugänglich – oder etwas wert. Nach dem pathetisch-ideologischen Missbrauch der deutschen Sprache durch die Nationalsozialisten war und ist es richtig, aufmerksam auf jeden billigen Gefühlsmissbrauch sprachlicher Art zu achten. Zugleich leben diskursive Gesellschaften davon, stets neu über diese Grenzen zu verhandeln, weil man auch etwas abschneidet, wenn man Begriffe wie „Gott“ oder „Heimat“ aus dem Diskurs nimmt. Ich habe nicht auf die Kritik geantwortet, um Glück zu rechtfertigen, sondern weil ich als Schreibende ständig mit der Darstellung von Gefühlen zu tun habe und nach einem sprachlichen Ausdruck suche, der es meinem Publikum erlaubt, sich zu öffnen und diese Gefühle anzunehmen. Die Begegnung mit in diesem Sinn fremden Texten finde ich dabei hilfreich.
Ist diese Ironie, die Sie gerade erwähnten, verbunden mit einer männlichen Idee des Dichterdaseins? Sie schreiben ja, dass die weibliche Lyrik oft unter Kitschverdacht steht.
Traditionell ist die Frauenlyrik stets schnell unter Kitschverdacht gestellt worden. Ich denke schon, dass eine bestimmte Form von „postmoderner-fünfundzwanzigster Stufenironie“ etwas eher Männliches ist. Ich möchte nicht sagen, dass Frauen sie nicht beherrschten – intellektuell tun sie das natürlich –, aber als Lebenshaltung oder als Haltung gegenüber Texten? Wir sollten die Frage nach Pathos oder Kitsch aber nicht auf eine Genderfrage reduzieren. Es handelt sich um ein vielschichtiges kulturelles Phänomen, verbunden mit unserem kollektiven Gedächtnis, über das nachzudenken sich lohnt.
Wird Dichtung von Frauen noch immer weniger ernst genommen?
Nein, das würde ich so nicht mehr sagen. Aber es gibt noch immer Schieflagen in der Rezeption. Die Zahlen belegen das: Wie viele Frauen sind in Akademien vertreten, welche Position bekleiden sie, wie sind Preise verteilt? Der Nobelpreis ist Teil einer traurigen Statistik, was das angeht, ebenso der Büchner-Preis. Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern, das sich in unserer Gesellschaft weiterhin findet, bildet sich in der Literatur und ihrem „Betrieb“ ab. Als ich in den 90er Jahren anfing, ernsthaft zu schreiben, war es für mich schmerzlich fühlbar, welch riesige Lücken in der deutschsprachigen Lyriktradition klaffen, was weibliche Autorschaft betrifft. Soeben ist die klug gemachte, erhellende Anthologie Frauen | Lyrik im Reclam Verlag erschienen, die diese Traditionslinie endlich relativ umfassend zeigt. So etwas fehlte mir damals. Für das Schreiben wie auch für das Übersetzen ist es wichtig, dass man auf Tonalität zurückgreifen kann. Ich spüre meine eigene patriarchale Prägung bis heute – neue weibliche Stimmen scheinen mir oft „fremder“ als neue männliche. Zugleich liegt darin ein großes Potential, und die Zeiten sind heute günstiger als vor 20 Jahren, dass es beachtet wird, verbunden mit dem Versuch, die Binarität der Geschlechtszuordnungen überhaupt zu überwinden. Als ich 2001 meinen Roman Mitgift zu diesem Thema veröffentlichte, wollte niemand davon hören. Das hat sich geändert.
Über den Kitschverdacht schreiben Sie weiter: „Mein deutsches Ich kann diese Vorwürfe nachvollziehen. Mein englisches Ich wundert sich.“ Können Glücks Gedichte auf Deutsch funktionieren?
Man wird fremdeln. In Wilde Iris etwa finden sich zahlreiche Morgen- und Abendgebete, die auch so benannt sind. Liest man dann weiter, entdeckt man mit der Zeit, dass hier Zweiergespräche in einer Dreierkonstellation geführt werden, nämlich Pflanzen, Gott und Menschen. Die Gedichte sind nie einfach „konfessionell“, also ein nur persönliches Sprechen. Sie benutzen diese Art, intim oder von innen heraus zu sprechen, um sie zu hinterfragen. Ich finde das Thema, wie erfahrene individuelle und kollektive Gewalt ausgedrückt werden kann, spannend. Glück arbeitet hier mit Zyklen, mit „prismatischen“ Gedichten, die immer neue Perspektiven aufwerfen. Das lässt sich sehr gut übertragen und nachvollziehen.
Es ist nun über zehn Jahre her, dass Sie Glück übersetzt haben. Wie groß ist die Versuchung, die eigenen Übersetzungen noch einmal zu überarbeiten?
Ich weiß nicht, ob ich von Versuchung sprechen würde. Übersetzung ist ein kontinuierlicher Prozess. Ein Interpretationsgespräch. Es käme mir unnatürlich vor, ja dubios, nach 15 Jahren nicht andere, neue Aspekte in Glücks Werk zu entdecken. Ich überarbeite die Übersetzungen. Das letzte halbe Jahr habe ich mich, einfach aus Freude, noch mal intensiv mit amerikanischer Lyrik beschäftigt. Das schärft den Blick. Vielleicht wird es jetzt an ein paar Stellen noch kitschiger, vor allem diabolischer – der Gott der Unterwelt kommt bei Glück ja durchaus vor.
Viele Gedichte von Louise Glück sind noch unübersetzt. Da kann der deutsche Markt noch viel erschließen.
Ich glaube nicht, dass der Markt Platz bietet für zwölf einzelne Gedichtbände von Louise Glück. Und im Oktober 2021 kommt der nächste Nobelpreis für Literatur. In Deutschland ist seit Jahren zu Recht die Rede davon, wie viele starke und ungewöhnliche Lyrikstimmen wir derzeit haben. Das setzt sich allerdings nur sehr begrenzt in den Buchmarkt und Erträge aus diesem Markt um. Man liest gern mal online ein Gedicht oder hört dem/der Dichter*in zu, aber dafür bezahlen? Hinzukommt, dass übersetzte Bücher teuer sind, und übersetzte Lyrikbände, wenn man an die investierte Arbeit denkt, erst recht.
Sie verstehen sich in erster Linie als Schriftstellerin. Wie definieren Sie Ihre Rolle als Übersetzerin?
Ich übersetze immer wieder, und es ist mir wichtig, das zu tun. Ich fände es allerdings anmaßend zu sagen: „Ich bin Übersetzerin“. Ich genieße den Luxus, nur zu übersetzen, was mich interessiert, weil es eine bestimmte Herausforderung für die Schriftstellerin in mir ist. Übersetzerin muss in meinem Fall also eher klein geschrieben werden. Dabei übersetze ich gern und mit Freude, weil ich mit Hilfe des Sprachenverkehrs, der dabei entsteht, das Deutsche neu sehe und auf andere sprachliche Fragen stoße. Das Übersetzen ist für mich eine Art Schärfung meines deutschen Instrumentariums.
Sie verwenden das Wort „übersetzen“ oft in verschiedenen Kontexten. Was – unabhängig von dem technischen Aspekt – verstehen Sie unter Übersetzen?
Schon beim eigenen Schreiben habe ich häufig das Gefühl, etwas zu übersetzen. Beim Schreiben übertrage ich etwas, das nichtsprachlich oder vorsprachlich ist, in eine sprachliche Form. Man kennt das als Leserin, dass es manchmal Stellen in Gedichten oder Prosatexten gibt, bei denen man denkt: Ja, so ist es – ohne dass man es selbst so hätte ausdrücken können. An solchen Stellen ist es dem Schreibenden gelungen, emotionale und geistige Zustände in Sprache zu übersetzen. Diese Art von Wirklichkeitsübersetzen erlebe ich nur im eigenen, originären Schreiben. Das erstmalige Entstehen einer Figur, eines Raumes, einer Atmosphäre etc. Bei Übersetzungen ist man vergleichsweise entlastet. Kann sich ganz auf die Sprache konzentrieren. Meine Übersetzungen von Shakespeare-Sonetten stehen zwischen diesen beiden Formen. Ich spiele damit, dass diese Texte, in denen es immer wieder um Reproduktion geht, fünfhundert Jahre alt sind, und verschiebe sie mit Hilfe eines eigens erfundenen Algorithmus ins Heute. Diesen Prozess habe ich „Radikalübersetzungen“ genannt, von radix – Wurzel, weil ich auf die Wortwurzeln zurückging, andere Abzweigungen wählte und zugleich inhaltliche Verschiebungen zu modernem Medien- und Technikgebrauch vornahm.
Ist es einfacher, eine „Radikalübersetzung“ zu machen, wenn man weiß, dass man mit einem Text arbeitet, der schon oft übersetzt wurde?
Ich hätte das nicht gemacht, wenn es nicht Shakespeare gewesen wäre. Von Shakespeares Sonetten gibt es über zweihundert treue Übersetzungen ins Deutsche, da braucht es nicht die zweihundertfünfundzwanzigste – das interessiert mich als Schriftstellerin auch nicht. Meine Shakespearegedichte sind Teil meines eigenen dichterischen Werkes. Sie nehmen den Originaltext zum Anlass für eine eigene Erfindung, die den ersten Text gezielt überschreibt. In Übersetzungen wie etwa von Gertrude Stein, H.D. oder Louise Glück nehme ich mich viel weiter zurück. Ich arbeite in einer Art Echo-Kammer. Das Echo fällt, je nach Werk, unterschiedlich aus. Wer eine Gertrude Stein ohne Reime, Wortspiele und Homophonien übersetzt, hat von vornherein verloren. Bei meinen Shakespeareübertragungen hingegen muss man schon einen Tag wandern, um viele Bergnasen herum, bis man das Echo einfängt. Dann entsteht aber auch etwas Eigenes.
Ist das Übersetzen eine weniger einsame Tätigkeit als das Schreiben? Sie treten dabei ja mit anderen Autoren in Interaktion.
Da bin ich mir nicht sicher. Ich finde Schreiben nicht „einsam“. Es ist eher ein ziemlich gefüllter Raum. Zudem ist mindestens die Hälfte der Autor*innen, die ich übersetzt habe, schon tot. Meine Arbeit ist ein Dialog mit dem Text. Der Unterschied zum eigenen Schreiben besteht eher darin, dass ich mich nicht um den Stoff kümmern muss, sondern mich ganz auf die Sprache konzentrieren kann. Das finde ich entspannend. Louise Glück hat so schön komponierte Gedichtbände – großartig. Wenn ich selbst Lyrik schreibe, ergibt sich die Form immer erst beim Schreiben. Hier ist die Form schon einmal gefunden, und ich kann mich zurücklehnen und erstmal nur Leserin sein und in den Fußspuren nachgehen. Die sind breit, und mein Abdruck muss ein anderer werden, dennoch sind sie da. Anders als beim eigenen Schreiben muss ich nie Angst haben, das Ganze zu verlieren.
Ihr neuestes Buch erzählt die Geschichte des Dada-Künstlers und Dichters Kurt Schwitters, dessen Werke zur Zeit des Nationalsozialismus als „entartet“ galten. Ende der 1930er Jahre flüchtete er erst nach Norwegen, später nach England. Sie haben den Roman zunächst auf Englisch geschrieben und sich dann selbst übersetzt. Warum?
Normalerweise würde ich kein eigenes Werk übersetzen, aber Schwitters war eine polyglotte Gestalt. Im englischen Roman erzähle ich seine Exil-Geschichte und zeige einen Mann, der verzweifelt versucht, Engländer zu werden. Der Roman ist voller Wortspiele, weil Schwitters auf Englisch immer wieder Fehler macht. Diese Stellen funktionieren nicht im deutschen Text, deshalb war schnell klar, dass der deutsche Roman anders aussehen würde. Zudem sind Teile des deutschen Romans, die mir erst beim Übersetzen durch die erneute Beschäftigung mit dem Stoff deutlich wurden, wiederum in den englischen Text eingeflossen. Das Übersetzen war also eine Mischung aus dem, was man klassischerweise unter Übersetzen versteht, und originärem neuen Schreiben. Schwitters Identitäten in den beiden Sprachversionen sind wie zwei Puzzlestückchen – wenn man die zusammenfügt, erkennt man das Ganze. Es gibt daher auch kein Original. Man kann nicht sagen, dass der eine Roman vor dem anderen da war, weil sie mehrfach über die Sprachgrenze hinweg miteinander verwoben wurden. Erst in ihrer Unterschiedlichkeit, mit einem je anderen Anfang und Ende, ergeben sie die gesamte Geschichte des Mannes, der Kurt Schwitters und Körrt Switters war.
In dem Roman geht es auch um Sprachverlust. Schwitters sitzt in England fest und kann gar nichts auf Deutsch schreiben.
Er verliert im Exil seine literarische Sprache. Was Engländer komisch finden und was Kurt Schwitters komisch fand, passte nicht zusammen. Ihm blieb die bildende Kunst. Er wollte auch gar nicht mehr Deutsch sprechen. Wie so viele Exilanten hatte er sehr ambivalente Gefühle gegenüber Deutschland. Dass man dann auch der Sprache gegenüber, die die Sprache der Täter war, massive Vorbehalte entwickelt, ist nachvollziehbar.
Welche Überreste lassen sich von ihm in England noch finden?
Kurt Schwitters ist im angloamerikanischen Bereich berühmt als bildender Künstler. Man kennt und schätzt ihn als wesentlichen Vordenker der Pop Art. Die Tate in London besitzt zahlreiche seiner späten Skulpturen, Collagen und Briefe, zentrale Elemente seines englischen Lebens. In Newcastle steht außerdem sein letzter Merzbau, an dem er bis zu seinem Tod arbeitete und der trotz der grimmen Lebensbedingungen eine unglaubliche Kraft und Heiterkeit ausstrahlt. Schwitters hat seine Erlebnisse und die Landschaft des Lake Districts, wo er lebte, in die Linien, Farben und Formen seines Kunstwerks übersetzt. Ich übersetze in Worte, was man gegenüber seinem Kunstwerk sieht und fühlt.
Derzeit sind Sie vor allem als Übersetzerin der Nobelpreisträgerin in aller Munde und weniger als Schriftstellerin. Stört Sie das?
Nein, im Gegenteil. Ich sehe es als Möglichkeit, als Botschafterin der Lyrik und des Übersetzens aufzutreten. Übersetzer*innen wie Schriftsteller*innen arbeiten im Bergwerk der Sprachen, und ich habe oft die Übersetzer*innen meiner Texte für ihre Lesekompetenz, Genauigkeit und Geduld bewundert. Die Auseinandersetzung mit einem Text nicht nur auf inhaltlicher, sondern auf sprachlicher Ebene sowie die Lust an sprachlicher Erfindung verbinden uns.
Ulrike Draesner: Schwitters
Penguin 2020 ⋅ 480 Seiten ⋅ 25 Euro
www.randomhouse.de/Buch/Schwitters/Ulrike-Draesner/Penguin/e564136.rhd