Ich werfe mich z.B. mit dem Gedicht von Aronson aufs Bett und stöhne: „Es geht nicht. Es geht überhaupt nicht“. Und auf einmal dreht es sich und dreht es sich. Du musst irgendetwas machen, was dich hinter deine eigene funktionierende Person bringt. Auf einmal kommt da viel mehr als du geahnt hast. Gut ist auch Zorn, gut ist auch eine totale tumbe Vergessenheit, Verdrossenheit. Das sind alles Jenseits-Zustände, die nicht dieses propere Können haben müssen, das aber DANN kommt. Und nachher ist es wie durch ein Wunder.
Das sagt Elke Erb in einem auch sonst sehr spannenden Gespräch mit Karol Sauerland. Der russische Dichter Leonid Aronson (1939–1970) ist tatsächlich eine Herausforderung: Seine Texte sind voller Wörter wie „schön“, „lieben“ „Qual“, „Trauer“, „weinen“, glücklich“, also Elemente, die eher an Kitsch als an moderne Poesie denken lassen, sind aber kühn und eigenartig und bewusst provokativ. Was macht man als Übersetzer? Gibt es feste Rezepte? Natürlich nicht. Das ist jedesmal ein Abenteuer. Einmal sprachen Elke Erb, Oleg Jurjew und ich über die Probleme der Übersetzung. Ich bewundere in diesem Gespräch die Lösung für einen Ausdruck bei Aronson: Da steht einfach дева молодая (wörtlich „junge Jungfrau“). Was macht man damit? Was eine Sprache duldet, funktioniert in der anderen nicht unbedingt. Elke Erbs Lösung: Jungfräuliches Weib. So eine Leichtigkeit ist meistens das Resultat einer großen Anstrengung, auch der Verzweiflung. Man muss sehr hartnäckig sein, um auf eine Lösung zu warten und sich nicht mit einem Kompromiss zufriedenzugeben.
Über ihre Begegnung mit Aronsons Gedichten sagte Elke im selben Gespräch: „Ich verstand sie nicht völlig, was das Russische betrifft, aber sie wirkten sofort auf mich, womit? Intuitiv? Unterschwellig?“ Als Autor kann man den Verstand abschalten. Als Übersetzer? Niemals wird so gründlich gelesen wie beim Übersetzen. Lesen kann man ein Gedicht intuitiv. Aber intuitiv übersetzen? Kann man übersetzen, wenn nicht alle Zusammenhänge nachvollziehbar sind? Andererseits: Sind jemals alle Zusammenhänge in einem Gedicht nachvollziehbar? Gibt es ein ernstzunehmendes Gedicht, das einer Analyse völlig zugänglich ist? Bestimmt nicht.
Es gibt verschiedene übersetzerische Regeln, Tricks und Verfahren. Das Handwerk ist genauso notwendig wie die Zeit, die man investiert, und das Wunder, von dem Elke Erb im zitierten Gespräch erzählt.
Zu allen theoretischen Fragen der Übertragung eines Gedichtes gehört unbedingt diese: was wir als Ergebnis haben wollen. Ein Gedicht? Eine Vorstellung von diesem Gedicht? Einen Kommentar zum Gedicht? Eine korrekte Befolgung des Reimschemas? Ich denke, es kann unterschiedliche Antworten geben, und für verschiedene Zwecke braucht man verschiedene Lösungen. Aber wenn man Gedichte übersetzt und selber Dichter ist, denke ich, ist die Priorität: ein Gedicht als Ergebnis. Als Oleg Jurjew und ich mit unseren Übersetzer-Kollegen diese Problematik besprachen, fragte er einmal: „Was wollen wir erreichen, wenn wir einen lebendigen Löwen übersetzen? Das Phänomen ‚Löwe‘ oder das Phänomen ‚Leben‘? Wollen wir lieber einen lebendigen Hund präsentieren oder einen toten Löwen?“ Elke Erbs Übersetzungen geben das Phänomen „Leben“ wieder. Jedes Gedicht in ihrer Übersetzung ist in erster Linie ein Gedicht, erst dann hat es andere Funktionen: Wiedergabe des Inhaltes, der formalen Struktur oder der literaturgeschichtlichen Position.
Elke Erb und ich haben viele Texte zusammen übersetzt, und dabei hatte ich oft die Gelegenheit, zu beobachten, wie sie arbeitet: Sie gibt nie auf, solange die einzig mögliche Lösung nicht gefunden ist. Oft sagte sie, nachdem sie eine Textstelle, über die wir uns tagelang ausgetauscht hatten, endlich gezwungen hatte, so zu sein, wie sie es haben wollte: „Man muss sich das merken. Man will immer von uns, dass wir erklären, wie wir arbeiten. Aber man vergisst dann die ganze Qual. Es bleibt nur die Lösung.“
Das stimmt. Auch jetzt habe ich ihre Übersetzung eines unübersetzbaren Gedichtes vor mir und überlege mir, wie ich das Wunder erkläre.
***
Nach Oleg Jurjews Tod sagte Elke Erb, sie wolle seine Gedichte übersetzen. Das war ihr spontan geäußertes Bedürfnis nach einem würdigen Abschied von einem Freund, das war ihre Art, einen Trauerkranz zu schicken. Wir haben einige Gedichte aus dem letzten, posthum erschienenen Buch ausgewählt. Darunter Sabalodskijs Ballade, einen eigentlich unübersetzbaren Text. Und ja, das Wunder ist wieder geschehen.
Das Gedicht im russischen Original und in Elke Erbs Übersetzung
Ich versuche, einige Schwierigkeiten zu zeigen, die meines Erachtens von Elke Erb mit Bravour gelöst wurden. Wichtig ist: Auch auf Russisch ist das Gedicht nicht ohne weiteres „verständlich“. Um Gedichte lesen zu können, braucht man keine Kommentare. Aber es gibt Leser, mich zum Beispiel, die Kommentare lieben. Vielleicht kann man sie mit Restaurantbesuchern vergleichen, die gerne wissen würden, wie ein Gericht zubereitet wird. Und vielleicht ist es, wenn es um hohe Kochkunst geht, auch unmöglich, alles zu begreifen, was ein Koch geleistet hat. Ich hoffe, dass der folgende Versuch einer Analyse einen Blick in Elke Erbs übersetzerische Küche ermöglicht. Er basiert auf dem Kommentar, den der Petersburger Lyriker Valery Schubinsky und ich für eine kommentierte Ausgabe von Oleg Jurjews Gedichten verfasst haben.
Die Schwierigkeiten beginnen schon beim Titel: Sabalodskijs Ballade. Nikolai Sabolozki (1903–1958), wie man seinen Namen auf Deutsch meist schreibt, war ein bedeutender Dichter, der im Kreis von Daniil Charms angefangen hat. Seine eigenartigen, seltsamen Gedichte passten gut in die Ästhetik des Absurden hinein, in der die „Oberiuten“ gearbeitet haben. Er war der einzige Dichter aus diesem Freundeskreis, der die Jahre des stalinistischen Terrors und des Zweiten Weltkriegs überlebte. Seine späten Gedichte sind anders, in der von sowjetischen Schriftstellern verlangten Einfachheit gehalten.
Der Name in der Überschrift ist wohlgemerkt auch im russischen Original nicht korrekt geschrieben, sondern lautschriftlich, was seltsam und befremdlich wirkt. Falls ein deutscher Leser den Namen Sabolozki kennt, wird ihm gleich ein Zeichen gegeben, dass das Gedicht mit verschiedenen Schichten der Realitätswahrnehmung spielt. Das Wort „Ballade“ taucht auf, weil es ein Gedicht von Sabolozki gibt, das Schukowskis Ballade heißt und Anspielungen auf das Werk von Wassili Schukowski (1783–1852) enthält, über den Oleg Jurjew einmal in seiner Kolumne im Tagesspiegel schrieb: „Er gilt als der Begründer der russischen Romantik und als Lehrer Puschkins, was in der russischen Zivilisation ungefähr der Rolle der Gottesmutter entspricht.“
In Sabalodskijs Ballade wird sowohl mit Sabolozkis als auch mit Schukowskis Metaphorik gearbeitet. Strophe 1 hebt mit einer Nachtlandschaft an, die in ihrer Seltsamkeit an Sabolozki erinnert, aber in ihrer Ländlichkeit ziemlich zeitlos anmutet:
1.
речка — рейчатый топчан
лес — копейчатый колчан
церковь — луковки д‑луковки да-репчатыя́
а над нею по ночам
óблака стальной кочан
сени тём над берегом д‑решетчатыя́1.
der Fluß – eine Holzbrettpritsche
der Wald – ein Köcher aus Lanzen
die Kirche – Zwiebeltürmchen
und nachts über sie
der Wolke stählerner Krautkopf
und über dem Ufer Dielen aus Dunkelheiten vergittert
… eine trügerische Ruhe vor dem Sturm der Strophe
1а.
ни бог ни царь ни вол ни волк
ни коц ни поц нам не подмога
чадит в талерке ярый воск
вдыхает месяц однорого
невинна как стакан вина
вздыхает девушка одна1a.
nicht Gott nicht Zar nicht Ochs nicht Wolf
nicht Kotz nicht Potz sind uns Hilfe
im Lämpchen qualmt glühendes Wachs
einhörnig säuft der Mond
ein Mädchen seufzt allein
unschuldig wie ein Glas Wein
Am Anfang steht ein Zitat aus der Internationalen, das gleich bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird: „nicht Gott nicht Zar nicht Ochs nicht Wolf / nicht Kotz nicht Potz sind uns Hilfe”. Entsprechend ist es richtig, dass dieses Zitat auch auf Deutsch nicht gleich ins Auge springt. Elke Erb baut in ihrer Übersetzung einen ebenso großen Abstand zum deutschen Text der Internationalen auf wie Oleg Jurjews Gedicht zur russischen Version. Zur Erinnerung die Stelle aus der Internationalen: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, / kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“ (Übers. von Emil Luckhardt (1880–1914)). Was in beiden Fällen für alle normalen Leser verloren geht: Kotz hieß der Übersetzer, der das Kampflied ins Russische übertragen hat. Braucht man dieses Wissen als Leser? Eigentlich nicht. Die Verse eines Gedichts funktionieren auf einer anderen Ebene als der des rationalen Verständnisses. Was macht man als Übersetzer? Am besten sorgt man einfach dafür, dass die Verse ebenso funktionieren. Und das ist genau das, was Elke Erb immer macht. Gleich nach dem Internationale-Zitat ändert sich der Ton abrupt und geht ins Märchenhafte über. Im Hintergrund sind Schukowskis märchenhafte Balladen zu hören.
In den nächsten Strophen werden die Bilder, die in 1 und 1a angedeutet werden, weiter entwickelt, zusammengefügt, wieder auseinander gezogen. Elke Erb ist nach ihrem üblichen Prinzip einfach dem Text gefolgt. Aber das ist eben das, was sie als Übersetzerin ausmacht: Dieses „einfach“ wird von der dichterischen Intuition unterstützt – und von viel Arbeit.
Dass das Gedicht – und das ist auch eine Hommage an Sabolozki – in einer Traumlogik des Absurden gehalten ist, hebt die Tatsache nicht auf, dass seine reiche Bildlichkeit und die Dichte seiner Anspielungen, die übereinander geschichtet werden und ineinandergreifen, von einer sehr klaren, aber für den Leser unsichtbaren Logik vom ersten Vers bis zum letzten geführt werden. Die Übersetzung behält diese Dichte und diesen Reichtum bei, auch diese Logik. Dabei ist es keine „erklärende“ Übersetzung, was auch ein mögliches Verfahren ist, bei dem aber das Phänomen „Löwe“ und nicht das Phänomen „Leben“ übermittelt wird.
Zwischen einem Gedicht, wie es im Kopf seines Autors entsteht, und diesem Gedicht, wie es diesen Kopf verlässt, bleibt immer eine Kluft. Sie sind nie identisch. Zwischen dem Original und der Übersetzung gibt es einen ebensolchen Raum. Alles Wissen, das der Übersetzer über ein Gedicht hat, bleibt in diesem Raum. Hier noch einige Beispiele, die zeigen, was in diesem Raum geblieben ist:
2.
вол(к((хв) за рекою бодро ржал
казак еврею подражал
а по бережку д‑ехали да-казаченьки
не царь не бог ну хоть герой
висит надувшись над горой
в носу железные козячинки2.
Ochs-Wolf-Zauberer wieherte munter
der Kosak ahmte den Juden nach
und das Ufer entlang fuhren, ja fuhren Kosakchen
nicht Zar nicht Gott zur Not ein Held
hängst aufgeblasen überm Berg
in der Nase eiserne Popel
Für „Ochs-Wolf-Zauberer wieherte” stehen auf Russisch drei Wörter ineinander verschachtelt: вол(к (хв)): also вол (Ochs), волк (Wolf) und волхв (Zauberer). Eine Möglichkeit wäre gewesen, nach drei deutschen Wörtern zu suchen, die genauso ähnlich sind und genauso gut miteinander verflochten werden können. Das hätte das Spielerische unterstrichen, aber die absurd anmutende Verwandlung, die der am Ende erscheinende Zauberer unterstützt, wäre verloren gegangen. Jede Übersetzung ist eine ständig zu treffende Entscheidung: Was opfern? Das ist eine der Regeln, die ich bei Elke Erb gelernt habe: Manchmal ist die bescheidenste Lösung die eleganteste.
„der Kosak ahmte den Juden nach” ist ein Zitat aus einem Scherzgedicht von Ossip Mandelstam (1891–1938) über Pawel Wassiljew (1909–1937), einen Dichter aus Sibirien, mit dem Mandelstam in den 1930er Jahren befreundet war, dessen Gedichte er mochte und von dem manche behaupteten, er würde Mandelstams Stil nachahmen: „Das Pferd miaute, der Kater wieherte – / Der Kosak ahmte den Juden nach.“ Diese Anspielung erklärt übrigens das Wort „wieherte“ am Anfang der Strophe. Zu diesem Tiergarten gesellen sich wieder die Fabelwesen aus der Internationalen: „nicht Zar nicht Gott zur Not ein Held”, die hier den Platz der Wolke aus der ersten Strophe einnehmen.
2а.
а ты не плачь о дева-свет
и не пугайся снами
мы принесем тебе конфет
и чаю с сухарями
а как набуешь башмачок
враз просветлеет басма щек2a.
du aber weine nicht, Jungfer-Licht
und fürchte dich nicht zu träumen
wir bringen dir auch Bonbons
und Tee mit Zwieback
und ziehst du das Schuhwerk an
wird hell dir das Linnen der Wangen
„du aber weine nicht, Jungfer-Licht / und fürchte dich nicht zu träumen” ist wieder eine Anspielung auf Märchen, Balladen und den Romantiker Schukowski und erinnert uns damit wieder an Sabolozki, aber auch an andere Kindergedichte und an Puschkin, der seinerseits mit Schukowskis Motiven spielt. In erster Linie handelt es sich um die von Schukowski übersetzte Ballade Lenore von Gottfried August Bürger und zwei Variationen dieser Ballade, die Schukowski geschrieben hat. Im Originalgedicht und der einen Variation (Ljudmila) wird ein Mädchen vom toten Bräutigam ins Reich der Toten entführt, in der anderen Variation (Swetlana) entpuppt sich das lediglich als böser Traum. Auf beide Variationen bezieht sich Puschkin in Eugen Onegin, wenn er von Tatjanas Traum erzählt.
3.
забегáл из-за болот
забалодский-забалот
и он все щурится и все он щерится
на подводное щурьё
на небесное чирьё
сам как пухлый гриб-печерица3.
hinter den Sümpfen hervor kam Sabalodskij gelaufen
und die Augen zusammenkneifend die Zähne bleckend
gegen dieses Unterwasser-Pack
diese Himmelspickel
und selbst ist er ein praller Egerling
An dieser Stelle kann ich mir sehr gut Elke Erb vorstellen, die, wie sie im oben zitierten Gespräch beschreibt, „sich aufs Bett wirft und stöhnt: ‚Es geht nicht. Es geht überhaupt nicht‘“, aber doch weitermacht. Sabolozki wird zu einem der sich immer verwandelnden Wesen, Wolf aus den Sümpfen, Fisch unter Wasser und am Ende gar ein Pilz.
3a.
и липы на тверской и лупы на мясницкой
и трудовой трамвай стекающий в депо…
есть девушка одна и как бы мне присниться ей
есть денежка москва и я шагаю по
не знай не знай сих страшных снов
нас умоляет иванов3a.
die Linden in der Twerskaja, der Mjasnizkaja Linsenlupen
die arbeitsame Tram, rinnend in ihr Depot
da gibts ein Mädel, wie könnt ich erreichen, daß sie von mir träumt
da gibts eine Moskau-Münze, ich schreite über sie hin
kenn nicht, kenn solche Alpträume nicht
fleht lwanow uns an
Bei „die Linden in der Twerskaja, der Mjasnizkaja Linsenlupen” ist es wieder Mandelstam, den das russische Ohr als rhythmisches Zitat wahrnimmt, was ich in der Übersetzung als eine rhythmische Anspannung wahrnehme, die, wenn nicht bewusst, dann unbewusst auf ein Zitat hindeutet. Ansonsten entspannt sich das Gedicht hier, bekommt einen zarten träumerischen Tonfall. Aber nur für kurze Zeit. Dann werden Schukowski und Sabolozki wieder zusammengeführt, werden immer unheimlicher: „kenn nicht, kenn solche Alpträume nicht” ist ein Vers aus einer Ballade Schukowskis, wo alles Schreckliche sich als bloßer Traum erweist. Aber in diesem Gedicht ist der Schrecken real: „fleht lwanow uns an”. Sabolozkis berühmtes Gedicht von 1928 heißt Die Iwanows, und diese Anspielung verspricht nichts Gutes.
4.
среди горы неровныя
на длинной высоте
невинныя нескромныя
есть девушки не те
их пальчики д‑бескровныя
засунуты в пальте4.
zwischen den Bergen und Bergchen
auf ihrem langen Kamm
gibt es unschuldige unbescheidene
Mädchen, doch nicht die rechten
ihre blutlosen Fingerlein
stecken in Paletots
In den letzten beiden Strophen wird die Strophenpaarstruktur umgekehrt: Anders als in den ersten drei Teilen kommen zuerst Märchen, Balladen und Mädchen – und dann die absurden und surrealen Elemente sowjetischer Realität, mit Nikolai Bucharin, dem einflussreichen Politiker, der viele Dichter protegierte, darunter Mandelstam, Sabolozki und Pawel Wassiljew. Bucharin selbst wurde 1937 verhaftet und 1938 als Trotzkist verurteilt und hingerichtet. Mandelstam starb 1938 im Lager; Wassiljew wurde 1937 erschossen; Sabolozki war 1938–1944 im Lager.
4a.
и ленин на воде и сталин в птичьем гаме
бухарин засыпающий голавль…
куда летишь яфет не думая о хаме
куда плывешь казак куда бежишь корабль
не спи вставай девица-свет
ах ничего на свете нет
что б совладало с нами4a.
Lenin auf dem Wasser Stalin im Vogellärm
Bucharin – dösender Döbel …
wo fliegst du hin, Jafet, Hams nicht gedenkend
wo fährst du hin, Kosak, wohin, Schiff, eilst du da
schlaf nicht steh auf Jungfer-Licht
ach es gibt nichts auf der Welt
das über uns Herr werden könnte.
Am Ende mischt sich im Gedicht alles noch einmal, die biblischen Jafet und Ham kommen auch dazu (Sim fehlt). Die allerletzten Verse lauten: „ach es gibt nichts auf der Welt / das über uns Herr werden könnte.” Wer weiß, wie viel Ironie, wie viel Ernst in diesen Versen steckt? Wer sind „wir“? Menschen? Dichter? Liebende? Weinende? Lachende? Die Bösen? Die Guten?
Ich bewundere Elke Erb dafür, dass sie all die Ambivalenz, die in diesem Text atmet, beibehalten konnte. In der Tat ein Wunder: „Und nachher ist es wie durch ein Wunder.“
Wie übersetzt man das Unübersetzbare? Man tut es einfach. Aber das ist natürlich leicht gesagt. Denn Wörter so im Satz stehen zu lassen, dass jedes seinen einzig passenden Platz einnimmt, ist eine große Kunst, die aus dem Zusammenwirken von Können, Willen und Inspiration besteht. Übersetzer behaupten oft und zu Recht, dass, wie wichtig auch die Kenntnisse der Ausgangssprache sind, das Beherrschen der Zielsprache wichtiger ist. Denn „Gut ist auch Zorn, gut ist auch eine totale tumbe Vergessenheit, Verdrossenheit. Das sind alles Jenseits-Zustände, die nicht dieses propere Können haben müssen, das aber DANN kommt.“ All das ist das Ringen mit der eigenen Sprache. Es gibt nicht viele Dichter, glaube ich, die eine so enge, so vertraute Beziehung zur eigenen Sprache haben wie Elke Erb. Deshalb ist sie auch eine Übersetzerin, von der jeder Autor nur träumen kann. Ich weiß noch, wie Oleg Jurjew reagierte, als wir die erste Seite von Elke Erbs Übersetzung seiner Prosa gelesen hatten. Er sagte, dass sie nicht die Wörter übersetzt, sondern das, wofür alles geschrieben wurde, dass sie weiß, woher die Wörter kommen und wozu sie gut sind.
Elke Erb, geb. 1938, ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Dichterinnen und Übersetzerinnen (u. a. von Marina Zwetajewa, Oleg Jurjew und Olga Martynova) und Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Sie erhielt 2019 das Bundesverdienstkreuz und wurde 2020 mit dem Georg-Büchner-Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Oleg Jurjew (1959–2018), geb. in Leningrad, lebte seit 1991 in Frankfurt am Main. Der deutsch-russische Übersetzer und Autor schrieb Romane (u. a. „Spaziergänge unter dem Hohlmond“, „Der neue Golem oder Der Krieg der Kinder und Greise“ und „Die russische Fracht“), Lyrik, Dramen und Essays. Von 2006 bis 2013 hatte er im Berliner Tagesspiegel seine eigene Kolumne „Jurjews Klassiker“.
Olga Martynova, geb. 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew nach Deutschland. Sie ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und wurde unter anderem mit dem Roswitha-Preis (2011), dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und dem Berliner Literaturpreis (2015) ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: „Der Engelherd“ (Roman, 2016) und „Über die Dummheit der Stunde“ (Essays, 2018).