Wann sollte ein Werk neu übersetzt werden? Bei Die Chroniken des Aufziehvogels von Haruki Murakami, vor kurzem in einer Neuübersetzung von Ursula Gräfe erschienen, wird die Beantwortung dieser Frage durch zwei Umstände erleichtert. Erstens wurde der 1998 hierzulande unter dem Titel Mister Aufziehvogel veröffentlichte Roman in seiner Erstübersetzung durch Giovanni und Ditte Bandini aus dem Englischen ins Deutsche übertragen – eine Praxis, die leider bis heute für japanische Literatur nicht unüblich ist.
Zweitens wurde die englischsprachige Fassung von Jay Rubin, auf der die vorige Übersetzung basiert, auf Forderung des amerikanischen Knopf Verlags erheblich gekürzt. Man fürchtete, der 1000 Seiten lange Roman eines damals international noch kaum bekannten japanischen Schriftstellers würde sich nicht verkaufen. Im Jahr 2020 hat jedoch kein Verleger mehr ernsthafte Bedenken, dass ein Roman von Murakami keinen Absatz finden könnte. So wirbt der DuMont Verlag nun mit Ursula Gräfes 300 Seiten längeren Neuübersetzung, dank der deutsche LeserInnen erstmals, und noch vor der anglophonen Leserschaft, die Geschichte von Toru Okada in ungekürzter Form erleben können.
Toru Okada, um die 30, ehemaliger Angestellter einer Anwaltskanzlei, jetzt arbeitslos, verbringt den Großteil seiner Zeit mit Lesen und Musikhören. Wir befinden uns irgendwann in der Mitte der 90er Jahre in einem Wohnviertel des Setagaya-Bezirks im Südwesten von Tokyo. Noch plagt keine Pandemie den globalen Alltag, doch Toru wäre emotional sicherlich bestens auf längere Selbstisolierung eingestellt. Seine Ehefrau Kumiko, die ihn in seiner Entscheidung zu kündigen unterstützt hat, bittet Toru derweil ihren entlaufenen Kater zu suchen. Nach und nach treten kuriose Gestalten in sein Leben: das Medium Malta Kano, das bei der Suche nach dem Kater helfen soll, ihre Schwester Kreta Kano, eine „Prostituierte des Bewusstseins“, ein ehemaliger Leutnant des japanischen Kaiserreichs, und May Kasahara, ein 16-jähriges Nachbarmädchen, dass sich statt zur Schule zu gehen lieber Gedanken über den Tod macht. Als Kumiko verschwindet, beginnt für Toru eine Phase der Selbstreflexion, die ihn, wortwörtlich, tief auf den Grund eines Brunnens führt und sogar bis in die japanische Kriegsvergangenheit.
Die Chroniken des Aufziehvogels ist in gewisser Weise Murakamis bedeutendstes Werk, da es ihm Anerkennung in den literarischen Kreisen Japans einbrachte, die Murakami eher feindlich gesinnt waren. Gleichzeitig verhalf es ihm zum Durchbruch in den USA und Europa. Das mag auch der Grund für die vollständige Neuübersetzung aus dem Japanischen sein. Lohnt sich diese oder können LeserInnnen auch weiterhin zur Erstübersetzung greifen?
Einer der hartnäckigsten Mythen um das Schriftstellertum von Haruki Murakami ist, dass er seine Romane erst auf Englisch schreibe und dann ins Japanische rückübertrage. Tatsächlich hat er dies nur für den Anfang seines Debütromans Wenn der Wind singt (1979) getan. Dadurch war er gezwungen mit eingeschränktem Vokabular neue Ausdrucksmöglichkeiten abseits seiner Muttersprache zu finden. Dieser entschlackte Stil, bestehend aus kurzen Sätzen und meist schlichter Wortwahl, ist sicherlich ein Grund für das immersive Leseerlebnis, das Murakami bei LeserInnen auf der ganzen Welt zu einem Favoriten machte. Wenn Iris Radisch glaubt im Stil der südkoreanischen Autorin Han Kang „Murakamis Nüchternheit“ wiederzuerkennen, dann ist damit jener schlichte Schreibstil gemeint, der nahtlos ins Traumhaft-Surreale übergeht (was hierzulande mangels eines besseren Begriffs oft auch als magischer Realismus abgetan wird).
Wer Murakami auf Japanisch liest, benötigt in der Regel einige Seiten, um sich an dessen Schreibstil zu gewöhnen. Damit ist nicht gemeint, dass er sich komplizierter liest, als man es von Übersetzungen her erwarten würde. Vielmehr erinnern Murakamis simple Wortwahl, die nur selten von den Nuancen der japanischen Schrift Gebrauch macht, sowie dessen Tendenz Personalpronomen inflationär zu verwenden (was im Japanischen oft nicht notwendig ist) eher an japanische Übersetzungen aus dem Englischen. Murakami arbeitet übrigens selbst als Übersetzer englischsprachiger Literatur, Raymond Carver und Truman Capote zählen zu den zahlreichen US-amerikanischen Autoren, die er ins Japanische übertragen hat.
Doch wie der amerikanische Murakami-Übersetzer Jay Rubin in seiner Studie Haruki Murakami and the Music of Words anmerkt, wirke die Prosa des japanischen Schriftstellers auf muttersprachliche LeserInnen unverbraucht, mit einer „subtil amerikanischen Note“, anstatt hölzern und ungelenk. Dies begründet er unter anderem damit, dass man in Japan Direktübersetzungen gegenüber toleranter sei als in den USA. Folglich entschied Rubin sich bei seiner Übersetzung des Romans gegen das, was er als „traditional clunky translationese“ bezeichnet, und zugunsten einer amerikanischen Sprache, die sich so natürlich wie, wenn nicht sogar noch natürlicher als auf Japanisch liest. Auf Anordnung des Knopf Verlags kürzte er selbst den Roman auf 607 Seiten herunter und änderte die Reihenfolge einiger Kapitel. Rubins Übersetzung, die Murakami trotz der Kürzungen in seiner Essaysammlung Von Beruf Schriftsteller als gelungen lobt, erschien 1997 und sorgte für Murakamis Durchbruch in den USA und von dort aus in Europa.
Auf Rubins Übersetzung basierte der ein Jahr später von den Bandinis ins Deutsche übersetzte Mister Aufziehvogel. Ein Vergleich mit der neuen deutschen Fassungen kann daher nur unter Berücksichtigung dieser beiden Übersetzungsreihen erfolgen:
Murakami → Rubin (Wind-Up Bird Chronicle) → Bandini (Mister Aufziehvogel)
Murakami → Gräfe (Die Chroniken des Aufziehvogels)
Ursula Gräfes Übersetzung ist größtenteils handwerklich solide und zuverlässig. Leicht staubige Wortungetüme wie „UKW-Übertragung“, „Hohlblockmauer“ und „Goldrautenstengel“ aus der Übersetzung von Bandini, denen man heutzutage eher auf einem Helge Schneider-Konzert begegnet, sind nun Radio, Mauer und (zumindest) Goldrauten gewichen, was dem Lesefluss zugutekommt. Entschlackt kann man die Neuübersetzung aber leider nicht nennen, denn oft liest sie sich wie eine Wort-für-Wort-Übersetzung, aus der japanischsprachige LeserInnen den ursprünglichen Satz rekonstruieren können.
In der folgenden Szene tritt eine mysteriöse Frau vor unserem Protagonisten Toru Okada auf, die diesem zu Geld verhelfen will. Nachdem er eine ungeheure Summe nennt, denkt sie kurz still nach. Toru stellt sich im Folgenden vor, was in ihrem Kopf vorgehen mag:
女は僕の目から視線を逸らし、ひとしきり空を見上げていた。彼女は頭の中でその金額を計算しているように見えた。どこかからとりあえず何かをここに持ってきて、そのかわりに別の何かをここからどこかに移して、という風に。僕はそのあいだ女の化粧を眺めていた。
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
Sie wandte den Blick von meinen Augen ab und schaute in den Himmel, als würde sie die Summe im Kopf bedenken. Mal überlegen, ich könnte erst mal das von hier nehmen und dorthin überweisen und dann dafür … Auf die Art. Währenddessen sah ich mir ihr Make-up an.
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
Sie wandte die Augen von meinen ab und starrte blicklos in den Himmel, als stellte sie ein paar Kalkulationen an: Mal sehen, wenn ich das von da nehme und dies von hier dorthin verschiebe … Währenddessen betrachtete ich aufmerksam ihr Make-Up […]
Giovanni und Ditte Bandini, Mister Aufziehvogel
She took her eyes from mine and peered up at the sky as if calculating the amount: let’s see, if I take that from there, and move this from here … I studied her make-up all while […]
Jay Rubin, The Wind-Up Bird Chronicle
„Auf die Art“ sticht nach der Beschreibung des (vermuteten) inneren Monologs der Frau wie ein Fremdkörper ins Auge. Man könnte vermuten, dass dieses „Auf die Art“ Teil des imaginierten Gedankengangs sei („Auf die Art bekomme ich dann das Geld zusammen, etc.“). Dessen Ende wird aber durch das „…“ signalisiert. Kurz, das という風に/ „In der Art“, das im japanischen Satz den Gedankengang als bloße Vorstellung des Erzählers kennzeichnet, wird in der Übersetzung obsolet. Im Gegenteil, es verwirrt die LeserInnen im schlimmsten Fall, weshalb es in der amerikanischen und der vorigen deutschen Übersetzung gar nicht vorkommt. Das mag haarspalterisch klingen, ist auf 1000 Seiten ausgedehnt aber nicht unbeachtlich, da durch derartige Wortrettungen oftmals dem Rhythmus von Murakamis Prosa mehr geschadet als geholfen wird.
Die unterschiedliche Tonalität der aus dem amerikanischen übersetzten Fassung und der Neuübersetzung begründet Ursula Gräfe wie folgt in ihrem Übersetzungsjournal:
Es liegt in der Natur der Sache, dass die alte aus dem amerikanischen übersetzte Ausgabe Mister Aufziehvogel zahlreiche umgangssprachliche Wendungen enthält, die m. E. die Atmosphäre im Roman auf unnatürliche Weise „nach Westen“ verschieben. Der Eindruck, dass es sich hier um das Werk eines japanischen Autors handelt, wird verwischt.
Ferner berichtet Gräfe von der Schwierigkeit, einige Murakami-LeserInnen zu überzeugen, dass dieser auf Japanisch und nicht auf Englisch schreibe, ein Phänomen, das sie unter anderem an den „wunderbar lesbaren Übersetzungen der amerikanischen Kollegen“ festmacht. Unter der Überschrift „Stilistische Überlegungen“ argumentiert Gräfe, dass das Amerikanische bei Murakami vielmehr der Sprache der vorigen Übersetzungen geschuldet sei.
Die folgende Textstelle ist ein Beispiel, das Gräfe als „Verwestlichung“ hervorhebt. Sie handelt von der ersten Begegnung zwischen Toru und Kreta Kano, die, wie es scheint, auf hochhackigen Schuhen bis zu seinem Haus gegangen war.
そんなものを履いてよくここまで歩いてこられたものだと僕はすごく感心した。
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
Ich staunte, dass sie es darin überhaupt bis hierher geschafft hatte.
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
Ich hätte ihr beinahe dazu gratuliert, dass sie es auf den Dingern bis hierher geschafft hatte.
Giovannni und Ditte Bandini, Mister Aufziehvogel
I almost wanted to congratulate her on having made it this far on them.
Jay Rubin, The Wind-Up Bird Chronicle
Gräfe merkt an, dass „Dinger“ (gemeint sind Kreta Kanos Schuhe) und „gratulieren“ im Originaltext gar nicht vorkämen. Von „Dingern“ ist auch in Rubins Übersetzung nicht die Rede. Aber woher kommt das „gratulieren“ bzw. „congratulate“? Ein Blick in ein japanisches Wörterbuch – ich habe im Shin Meikai kokugo jiten nachgeschlagen, eine Google-Suche tut es aber auch – zeigt, dass das japanische Wort 関心 ein Gefühl der Überraschung beschreibt, gepaart mit dem Wunsch, die jeweilige Person für ihre Tat zu loben.
Ironischerweise ist Rubins Übersetzung damit korrekter und näher am japanischen Text als Gräfes „wörtliche“ Neuübersetzung. Ferner geht der etwas saloppe, „westliche“ Sprachgebrauch („Dingern“) allein auf die Bandini-Übersetzung zurück. Der Vorwurf, die vorige deutsche Übersetzung weiche vom Original ab, stimmt also durchaus. Doch verantwortlich ist dafür nicht Rubin, für den die Kritik zwar eigentlich gilt, dessen Übersetzung von Gräfe aber, zumindest in ihrem Übersetzungsjournal, nicht zu Rate gezogen wurde.
Ein zweites Beispiel macht nicht die Unterschiede zwischen Ost und West, sondern vielmehr zwischen zwei unterschiedlichen Übersetzungsansätzen besonders deutlich. Diese lassen sich grob wie folgt charakterisieren: Ist die Sprache der Übersetzung der Tonalität des Romans und der Stimme der Figur angemessen (Rubin)? Oder: Steht im Japanischen こんにちは, dann muss da im Deutschen „Guten Tag“ oder „Hallo“ stehen, alles andere würde den Text vom Original entfernen (Gräfe).
Es handelt sich um folgende Stelle, in der Toru erneut von einer mysteriösen Frau angerufen wird, die ihn in Telefonsex verwickeln will. Sie begrüßt ihn wie folgt:
「こんにちは、お久しぶりね」
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
„Hallo, lange nichts von dir gehört.“
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
„Na, Süßer, lange nicht miteinander geplaudert.“
Giovanni und Ditte Bandini, Mister Aufziehvogel
„Hi honey, it’s been a while.“
Jay Rubin, The Wind-Up Bird Chronicle
Die Begrüßung ist im Japanischen schlicht gehalten, einzig das ね am Satzende drückt eine gewisse Intimität aus, die in Japan Fremden gegenüber jedoch eine deutliche Grenzüberschreitung darstellt. Gräfe löst dies mit dem weniger formellen „Hallo“, während Rubin zum wesentlich intimeren „Honey“ greift, in der Bandini-Übersetzung „Na, Süßer“. Rubins Ansatz, die Intimität des Anrufs in der Übersetzung deutlich zu machen – es geht schließlich um Telefonsex – scheint für Gräfe eine gewagte Loslösung vom japanischen Text darzustellen, die diesen weniger „japanisch“ mache. Interessanterweise ist es auch in dieser Textstelle die Bandini-Übersetzung, die den Text mit „geplaudert“ unnötig umgangssprachlich verfremdet und am weitesten vom Japanischen entfernt.
In Gräfes Übersetzungsjournal klingt es so, als habe Rubin den Text illegitim verändert, ihn „verwestlicht“, um dem amerikanischen Publikum zu gefallen. Aus den vorigen Beispielen geht hervor, dass diese Kritik schwach begründet ist und sich zudem weitgehend als falsch erweist (wenngleich sie vielleicht auf Murakamis vorigen Übersetzer Alfred Birnbaum zutreffen mag, der 羊を巡る冒険 A Wild Cheep Chase ins Englische übertragen hat, aber das ist eine andere Geschichte).
Murakami Harukis Japan ist nicht das Kirschblüten-Geisha-Wunderland aus Reisebroschüren (und leider oftmals von Buchumschlägen übersetzter japanischer Literatur), das Hobby-Orientalisten so sehr schätzen. Toru Okada lebt in einer ereignislosen Vorstadtgegend, wo es außer Getränkehändlern, Waschsalons (und verlassenen Hintergrundstücken) nicht viel zu sehen gibt. Er trägt Sneaker, kocht Pasta und hört Jazz und klassische Musik. Bei Ausflügen ins Stadtzentrum besucht er des Öfteren Dunkin’ Donuts. Wenn also Murakami auf LeserInnnen in Deutschland oder den USA westlich wirkt, dann liegt es vielmehr daran, dass das Japan Nachkriegszeit wesentlicher internationaler ist, als viele es vermuten und wahrhaben wollen. Für LeserInnnen, die also zwischen der amerikanischen und der deutschen Neuübersetzung wählen können, stellt sich nicht die Frage, ob sie einen eher „amerikanischen“ Murakami oder einen eher „japanischen“ Murakami lesen wollen, sondern welchen Übersetzungsansatz sie bevorzugen.
Doch auch Gräfe hält sich in ihrer Neuübersetzung nicht immer strikt an den japanischen Wortlaut. Das zeigt sich in der oftmals unpassend blumigen Sprache, die manchmal sogar vermutlich unbeabsichtigt komisch erscheinen kann. So wackelt die Jacqueline Kennedy-Frisur von Kreta Kano, während diese unseren Protagonisten oral befriedigt, in Gräfes Übersetzung wie folgt: „Ihre hübsche Außenrolle wippte verführerisch.“ (カールした毛先が気持ち良さそうに揺れた) oder auch: „Ihre perfekte Frisur bebte“ ( 僕は彼女のきちんとセットされた髪が微かに揺れているのを見ていた). Natürlich zeugen derartige Beschreibungen auch im Japanischen von einer gewissen Komik, aber mehr aufgrund ihrer Absurdität und der lakonischen Haltung des Erzählers als durch ihre Albernheit.
Ein weiteres Beispiel hierfür findet sich in der Fortsetzung des besagten Anrufs der mysteriösen Frau:
むずかしいことを考えるのはやめて、からっぽになればいいのよ。温かい春の昼下がりに柔らかな泥の中にごろんと寝ころんでいるみたいに。
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
Hör auf, über so viele schwierige Dinge nachzugrübeln. Mach dich locker, lass los. So als würdest du dich an einem lauen Frühlingstag in butterweichem, warmem Schlamm aalen.
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
Also hören Sie auf, sich so viele Gedanken zu machen. Hören Sie auf, alles zu komplizieren. Machen Sie sich leer. Stellen Sie sich vor, Sie lägen an einem warmen Frühlingsnachmittag in schönem, weichen Schlamm.
Giovanni und Ditte Bandini, Mister Aufziehvogel
So stop thinking so much. Stop making everything so complicated. Empty yourself out. Pretend you‘re lying in some nice, soft mud on a warm spring afternoon.
Jay Rubin, The Wind-Up Bird Chronicle
Aus einem simplen weich/柔かな/ wird „butterweich“ und aus hinlegen/寝転んでいる/ „aalen“. Während Murakamis Stil sich im Japanischen gerade durch seine schlichte Wortwahl und einfachen Sätze auszeichnet, bekommt man das Gefühl, Gräfe wolle den Text künstlich aufpeppen, aus Angst LeserInnen könnten sich langweilen. Besonders fatal wirkt sich diese Tendenz auf Spannungspunkte der Handlung aus. So steigt Toru im Roman zahlreiche Male auf den Grund eines stillgelegten Brunnens in seiner Nachbarschaft, was ihm mehr als einmal fast zum Verhängnis wird.
僕は目を閉じて、迫りつつある死をできるだけ静かに穏やかに受け入れようとした。怯えることをやめようと努力した。少なくとも僕はいくつかのものをあとに残すことはできたはずだ。それはささやかな良いニュースだった。良いニュースはいつも小さな声で語られる。僕はその言葉を思い出して微笑もうとした。でもそんなにうまくいかなかった。「でも死ぬのはやはり怖い」と僕は小さな声でひとりごとを言った。
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
Ich schloss die Augen und versuchte meinem bevorstehenden Ableben so heiter und gelassen wie möglich entgegenzusehen. Ich bemühte mich, meine Angst zu überwinden. Zumindest würde etwas von mir bleiben. Zumindest eine winzige gute Neuigkeit. Gute Neuigkeiten tun sich meist leise kund. Bei der Erinnerung an Malta Kanos Worte versuchte ich zu lächeln. Aber es klappte nicht richtig. „Ich habe trotzdem Angst zu sterben“, flüsterte ich.
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
Ich schloss die Augen und versuchte meinen bevorstehenden Tod so gelassen wie möglich zu akzeptieren. Ich bemühte mich, meine Angst zu bezwingen. Wenigstens hinterließ ich ein paar Dinge. Das war nicht viel, aber doch ein Pluspunkt. Ich versuchte zu lächeln, ohne großen Erfolg. „Aber ich habe Angst zu sterben“, flüsterte ich vor mich hin.
Giovanni und Ditte Bandini, Mister Aufziehvogel
I closed my eyes and tried to accept my impending death as calmly as I could. I struggled to overcome my fear. At least I was able to leave a few things behind. That was the one small bit of good news. I tried to smile, without much success. „I am afraid to die, though,“ I whispered to myself.
Jay Rubin, The Wind-Up Bird Chronicle
Toru kündigt seinen Job, seine Ehefrau Kumiko verschwindet und er wird in allerlei zwielichtige, oft übernatürliche Ereignisse verwickelt. Oft scheint uns ein Schleier aus Apathie von dem zu trennen, was wirklich in Toru vor sich geht. Dass er aber versucht, seinem „bevorstehenden Ableben“ (warum nicht Tod?) „heiter und gelassen entgegenzusehen“ ergibt sich weder aus dem japanischen Satz (静かに穏やかに), noch aus den restlichen 1000 Seiten des Romans. Die in der Neuübersetzung eingeschobene Erinnerung an Malta Kano als Urheberin des Zitats fällt dagegen positiv auf, lag die entsprechende Szene schließlich knapp 400 Seiten zurück.
In einer weiteren Stelle gegen Ende des Romans wird entschieden, das Wort さよなら, das noch in einem vorigen Kapitel mit „Leb wohl“ übersetzt wurde, im Kapitel „Abschied“ (!), wo es zudem eindringlich mehrfach wiederholt wird, mit „auf Wiedersehen“ zu übersetzen. Es handelt sich hier um die exakt selbe Formulierung im Japanischen (さよなら、笠原メイ), die wiederholt wird. Natürlich ist diese übersetzerische Entscheidung vollkommen legitim, doch sie raubt dadurch diesem Moment jene bittersüße Schwere und lässt sie banal wirken. Oftmals scheint die Tonalität der Übersetzung eher willkürlich als einer vorher durchdachten Idee zu folgen, wie der Roman im Deutschen klingen solle.
Doch vielmehr als stilistische Feinheiten interessieren LeserInnen vermutlich die nun übersetzten gekürzten Stellen, die den LeserInnen bisher vorenthalten wurden. Die meisten dieser Kürzungen fanden zwischen dem zweiten und dritten Buch des Romans statt. Eine Entscheidung Rubins, die mir besonders suspekt vorkam, beinhaltet das Wegstreichen der Schwimmbad-Szene, welche den Höhepunkt des zweiten Buches darstellt. In dieser Szene erlebt Toru in einer Vision eine „Sonnenfinsternis“, an deren Ende er endlich begreift, wer die mysteriöse Frau war, die ihn am Anfang des Romans angerufen hatte. Die Antwort auf diese Frage werden aufmerksame LeserInnen erahnen, aber dass diese Schlüsselszene, in der wir schwarz auf weiß die Antwort erhalten, weggekürzt wurde, ist ein deutlicher Verlust. Zumal diese Szene inhaltlich wie stilistisch eine Kulmination der ersten zwei Bücher darstellt und eine der beeindruckendsten des Romans ist. Stattdessen lässt Rubin das zweite Buch mit Torus Gewaltausbruch gegen den ominösen Mann mit dem Gitarrenkoffer enden, wodurch der Übergang zwischen dem zweiten und dem finalen Teil des Romans einen deutlichen Stimmungswandel zum Original aufweist.
Die Szene, in der Toru mit zugekniffenen Augen in diese scheinbare Sonnenfinsternis blickt, liest sich in Gräfes Übersetzung wie folgt:
でもそれは形でありながら形ではなく、何かでありながら何でもない。その形をじっと見つめていると、僕は自分というものの存在にだんだん自信が持てなくなってくる。僕は何度か深呼吸をして心臓の鼓動を整えてから、手の指を重い水の中でゆっくりと動かし、暗闇の中にいる自分自身をもう一度確かめる。大丈夫、間違いない。間違いなく僕はここにいる。ここは区営プールでありながら井戸の底であり、僕は日蝕でありながら、日食でないものに目撃しているのだ。
村上春樹 『ねじまき鳥クロニクル』
Der Fleck war nicht ganz formlos, aber eine richtige Form hatte er auch nicht. Er war etwas, zugleich war er aber auch nichts. Vor lauter Starren verlor ich allmählich das Vertrauen in meine Existenz. Nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet und mein Herzschlag sich beruhigt hatte, bewegte ich langsam die Finger in dem schweren Wasser und vergewisserte mich meiner selbst. Kein Zweifel, es war alles in Ordnung. Es gab mich. Ich war hier. In der Dunkelheit. Ich war im städtischen Schwimmbad, aber es war ein Brunnen, und ich wurde Zeuge einer Sonnenfinsternis, die keine war.
Ursula Gräfe, Die Chroniken des Aufziehvogels
Brilliant vermischt sich hier Illusion und Wirklichkeit. Was hat es mit dem schwarzen Fleck auf sich, der die Sonne bedeckt? Befindet sich Toru im Schwimmbad, auf dem Grund des Brunnens oder hat sich sein Körper ganz aufgelöst? Wenn Toru bei Murakami 大丈夫、間違いない zu sich selbst sagt, dann ist das nur eine kurze, momentane Selbstvergewisserung: Keine Panik, ich existiere noch. „Es war alles in Ordnung“ (die wörtliche Übersetzung von 大丈夫) wiegt im Deutschen schwerer. Mit einem ereignislosen Nachmittag im Schwimmbad, der sich direkt vor den eigenen Augen in ein phantasmagorisches Schauspiel verwandelt, ist auch für unseren oft teilnahmslosen Erzähler schwerlich „alles in Ordnung“. Allgemeinplätze und banale Sprache trifft man bei Murakami nicht selten an, aber Sätze wie „Es gab mich. Ich war hier“ gehen an dieser Stelle auf das Konto der Übersetzerin. Der vierfache Parallelismus でありながら, der Sein und Nichtsein, Realität und Imagination miteinander verknüpft („Er war etwas, zugleich war er aber auch nichts“) wird in der letzten Instanz inkonsequent übersetzt: „Ich war im städtischen Schwimmbad, aber es war ein Brunnen“. Natürlich befindet sich Toru immer noch im Schwimmbad. Und gleichzeitig auf dem Grund des Brunnens. Was ist Wirklichkeit und was nicht? Wie die Antwort auch lauten möge, ein Schwimmbad ist auch bei Murakami kein Brunnen.
Andere Streichungen sind dagegen durchaus willkommen. So wurde unter anderem eine langatmige Anekdote aus Torus Arbeitsleben entfernt. Nicht aber von Rubin, sondern von Murakami selbst, und zwar für die Taschenbuchausgabe des Romans. Auch die Anspielung auf Toni Takitani, eine Figur aus einer Kurzgeschichte von Murakami, wurde in der Taschenbuchausgabe gestrichen, findet sich aber in der Ausgabe wieder, die dieser Neuübersetzung als Vorlage diente. Murakami-Fans dürfen sich also nicht nur über die ungekürzte, sondern über die ungekürzteste Version des Romans freuen. Im Guten wie im Schlechten.
Ungekürzt bedeutet nämlich nicht fehlerfrei. An zwei wichtigen Stellen im Roman taucht ein ominöser Folksänger mit Gitarrenkoffer auf. Bei seinem ersten Auftritt in Kapitel 7 des zweiten Teils trägt er ein „Brillengestell aus braunem Plastik“, bei seinem zweiten Auftritt später, eine schwarze. Jay Rubin, bemerkte diese Inkonsistenz und fragte Murakami, ob dies Absicht gewesen sei, was der Autor verneinte. Deshalb sind es „dark glasses“ in beiden Kapiteln der englischen Übersetzung. In Gräfes Übersetzung jedoch finden wir wieder beide Farben vor. Rubin bemerkte und behob noch weitere Konsistenz- und Inhaltsfehler im Original. So ist die Reihenfolge der Anfangskapitel in Buch 3 im Amerikanischen (und folglich bei Bandini) chronologisch geordnet, während sie bei Murakami und entsprechend bei Gräfe, vermutlich absichtlich, konfus gehalten ist. Dass dieser Eingriff nicht unkritisch ist, erkennt allerdings auch Rubin in Haruki Murakami and the Music of Words an: „I can be blamed for having rendered that section of the novel more conventional, but I‘m not convinced that that was a great artistic loss.“ (Ü: Man kann mir vorwerfen, diesen Teil des Romans konventioneller übertragen zu haben, aber ich finde nicht, dass es aus künstlerischer Sicht eine Einbuße ist.)
Diese Details dürften ErstleserInnen kaum auffallen. Jedoch zeigen sie, dass Fehler nicht immer auf das Konto der ÜbersetzerInnen gehen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie weit ein Übersetzer bei der „Ausbesserung“ des Textes gehen darf. Rubin hatte im Gegensatz zu vielen anderen Murakami-ÜbersetzerInnen das Privileg, Fragen direkt an den Autoren zu richten (was diesem laut einer Anekdote eine Tortur war). Er arbeitete fast fünf Jahre an seiner Übersetzung The Wind-up Bird Chronicle, mit der er begann, bevor die vollständige Ausgabe in Japan erschienen war. Auch das ein Luxus, den sich nicht viele ÜbersetzerInnen leisten können. Rubin, dessen ungekürzte Vollfassung 2026 der Lilly Library zugänglich gemacht werden soll, hält seine gekürzte Version bis heute für den besseren Roman.
Als The Wind-Up Bird Chronicle 1997 zum ersten Mal auf Englisch erschien, ließen sich die Reaktionen grob in zwei Lager unterteilen. Die negativen Kritiken, allen voran Michiko Kakutani mit ihrem berüchtigten Verriss in der New York Times, warf Murakami vor, sein Roman sei zu unfokussiert und dies wäre vor allem seiner Faulheit geschuldet, das Romanmanuskript nicht noch einmal überarbeitet zu haben:
Wind-Up Bird often seems so messy that its refusal of closure feels less like an artistic choice than simple laziness, a reluctance on the part of the author to run his manuscript through the typewriter (or computer) one last time.Ü: Wind-Up Bird wirkt oft so durcheinander, dass der Unwille zum Schluss zu kommen weniger wie eine künstlerische Entscheidung erscheint, sondern schlichte Faulheit, ein Widerwille des Autors, sein Manuskript ein letztes Mal durch die Schreibmaschine (oder den Computer) zu hämmern.
Murakamis Entdecker für den englischsprachigen Markt und ehemaliger Herausgeber Elmer Luke schließt sich dem an: Trotz der zahlreichen Kürzungen hätte er am liebsten noch mehr gekürzt sehen wollen („I would have cut more“). Eine kritische Perspektive scheint im deutschen Feuilleton kaum vertreten zu sein und findet sich eher auf Blogs und BookTube. Auf der anderen Seite stehen begeisterte LeserInnen, die den harschen Urteilen nicht zwangsweise widersprechen. Philip Weiss vom Observer bemerkte, dass Kakutanis Kritik berechtigt, ihm aber schlicht egal sei: „The only thing I can say about Ms. Kakutani’s criticisms is that they’re all true—and they don’t matter a whit.“ Bis heute bestimmen diese beiden Gruppen die Rezeption des Romans. Und das wird sich mit der Neuübersetzung kaum ändern. Was sich vermutlich ebenso wenig ändern wird, ist die zahnlose Literaturkritik hierzulande, die auch diese Übersetzung ohne Vorbehalte weiterempfehlen wird. Fans werden allein für die damals weggekürzten Stellen zugreifen.
Die Erstübersetzung von Giovanni und Ditte Bandini weicht stilistisch sehr vom Originaltext ab und kann nur LeserInnen empfehlen werden, die nicht auf die englische Fassung zugreifen können, sich aber an Gräfes Stil stören. Doch wer die Romane 1Q84 oder Die Ermordung des Commendatore in Gräfes Übersetzung genossen hat, wird sicher auch auf diesen 1005 Seiten gut unterhalten. LeserInnen, die ebenfalls auf Englisch lesen, haben die Wahl zwischen den meist soliden, ungekürzten Chroniken des Aufziehvogels und dem stilistisch überragenden, aber gekürzten Wind-Up Bird Chronicle.
Haruki Murakami/Ursula Gräfe: Die Chroniken des Aufziehvogels
DuMont 2020 ⋅ 1005 Seiten ⋅ 34 Euro
www.dumont-buchverlag.de/buch/murakami-chroniken-aufziehvogel-9783832181420/
Haruki Murakami/Jay Rubin/Giovanni Bandini/Ditte Bandini: Mister Aufziehvogel
btb Verlag 2007 ⋅ 766 Seiten ⋅ 14 Euro
www.randomhouse.de/Taschenbuch/Mister-Aufziehvogel/Haruki-Murakami/btb/e62759.rhd
Haruki Murakami/Jay Rubin: The Wind-Up Bird Chronicle
Vintage (Penguin) 1999 ⋅ 624 Seiten ⋅ 8,78 Euro
www.penguin.co.uk/books/109/1092813/the-wind-up-bird-chronicle/9780099562986.html