Paul Celan ist als Dichter bekannt – deutlich produktiver war er jedoch als Übersetzer. Die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit verdankt ihm unter anderem die Entdeckung Ossip Mandelstams, die bis heute einzige vollständige Übersetzung von Paul Valérys Langgedicht „La jeune parque“ und die Übertragung von Gedichten André du Bouchets. Wikipedia listet ingesamt mehr von ihm übersetzte Autoren als eigene Werke auf.
Trotz dieses ungeheuren Outputs ist Celans Übersetzertätigkeit der posthumen, germanistisch geprägten Literaturgeschichte kaum mehr als Randnotizen wert gewesen. Dies ist nicht nur deshalb verwunderlich, weil Celans gesamte Biografie vielsprachig ist wie nur wenige (geboren im polyglotten Czernowitz, kaum je in einem deutschsprachigen Land gelebt, gestorben in der Seine), es ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil Celan selbst, an prominentester Stelle zumal, von der Kunst der Posie als einer dialogischen gesprochen hat („das Gedicht will zu einem Andern“), und es ist nicht nur deshalb fatal, weil Celans eigene Übersetzertätigkeit bereits 1998, gewissermaßen als größte aller bisherigen Randnotizen in einer Ausstellung des Marbacher Literaturarchivs unter dem Titel „Fremde Nähe“ akribisch aufgearbeitet wurde.
Nein, den aktuellen Biografien, in denen beispielsweise auf Celan und sein Verhältnis zu „den Deutschen“ Bezug genommen oder er als „jüdischer Dichter deutscher Sprache“ bezeichnet wird, fehlt auch eine weitere wichtige Perspektive: Schließlich hat Celans eigene Lyrik trotz ihrer sprachlichen Hermetik und ihres bisweilen befremdlichen Umgangs mit dem Vokabular des Deutschen eine beeindruckende Karriere rund um den Globus hingelegt, allen voran die weltberühmte Todesfuge (die bezeichnenderweise zuerst in der rumänischen Übersetzung von Petre Solomon, unter dem Titel „Tangoul morții“, erschienen ist). Übersetzerinnen und Übersetzer haben insofern einen gewichtigen Anteil am literarischen Wirken Paul Celans gehabt, und sie haben seine Dichtung tiefer und gründlicher durchdrungen als kaum jemand sonst, wovon unter anderem der ausgezeichnete, Celan gewidmete Band 53/54 der Zeitschrift Text + Kritik zeugt.
Kurz: Das doppelte Celan-Jubiläum 2020 – hundertster Geburtstag und fünfzigster Todestag – bietet den idealen Absprungspunkt, um Dichtung und Sprache Paul Celans völlig neu in den Blick zu nehmen. Beziehungsweise: böte. Hätte geboten.
Bei Durchsicht der für 2020 angekündigten Celan-Titel stach zwischen den offenbar unvermeidlichen Celan-Biografien (wie oft muss der Autor, mit Barthes gesprochen, eigentlich noch sterben, damit dieses öde, antiquierte Genre endlich aus den Verlagsprogrammen verschwindet!?) zu Beginn des Jahres zunächst ein Band mit dem Titel Todesfuge. Biographie eines Gedichts hervor, verfasst vom Literaturwissenschaftler und Ex-Suhrkamp-Geschäftsführer Thomas Sparr.
Aha, dachte man sich da als neugieriger Leser, ein Gedicht wird biographiert, immerhin eine Innovation, aus kundiger Hand dazu. Die Todesfuge hat ja wahrlich eine bewegte über siebzigjährige Geschichte, und diese als „Biographie eines Gedichts“ nachzuerzählen könnte unverhoffte Perspektiven auf den Text eröffnen. Wie klang der rumänische Ur-Celan? Wie und dank welcher Übersetzerinnen bzw. Übersetzer diffundierte der Text, der in Deutschland zunächst gar nicht so einschlug, wie man mit dem Wissen um seinen späteren Erfolg vermuten könnte, ins Ausland? Welchen Transformationen unterlag das Gedicht in den zahllosen Fassungen, die Menschen rund um die Welt von ihm schufen? Wer rückte wo und wann welche (Be-)Deutungsschichten in den Blickpunkt und warum?
Antworten auf all diese Fragen liefert das Buch von Thomas Sparr dann leider doch nicht. Er behauptet zwar in seinem Nachwort:
Die Rezeption der „Todesfuge“ in anderen Sprachen und Kulturen ist essentiell für ihr Verständnis.
Die fast 300 Seiten, die man an diesem Punkt gelesen hat, tragen zu diesem Verständnis allerdings kaum bei. Sparrs Buch ist nicht mehr als eine neumodisch nach Orten und Jahren gegliederte, aber letztlich doch ziemlich konventionell-lineare „Biographie eines Menschen“, nämlich Paul Celans, was allein schon dadurch ersichtlich wird, dass er den 50 Jahren, die seit Celans Tod vergangen sind, gerade einmal zwei kurze Kapitel von zusammen gerade einmal 14 Seiten widmet. Thomas Sparr interessiert sich sichtlich mehr für Celans Lebensgeschichte und literarhistorischen Gossip als für eine tatsächlich vom Text und seiner eigenen Geschichte her gedachte „Biografie eines Gedichts“ (deren Reiz ja gerade darin läge, dass sie sich unabhängig von der Biografie von dessen Verfasser entwickelte).
Womöglich ist Sparr auch sein eigenes Verfahren zu Kopf gestiegen, die Todesfuge als Zeitdokument in den historischen Kontext zu stellen. Seine Lieblingsgegner sind die Kritiker der 50er Jahre, die den historischen Gehalt dieses Gedichts verkannten und es rein werkimmanent aburteilen zu können glaubten. Der Mut, dem entgegenzuhalten und gleichzeitig eine „werkimmanente“ Literatur-Geschichte abseits der biografischen Pfade zu schreiben, hat ihm offenbar gefehlt.
Wer es ganz und gar werkimmanent haben möchte, der kann zu dem von Michael Eskin ebenfalls im Frühjahr herausgegebenen Gesprächsband Schwerer werden. Leichter sein – Gespräche um Paul Celan greifen. Eskin nähert sich Celan gewissermaßen von der anderen Seite. Wo Sparr im Jahr 1920 bei Celans Geburt anhebt, fängt Eskin in seinen vier Zwiegesprächen mit Ulrike Draesner, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Durs Grünbein gewissermaßen im Jahr 2020 an zu bohren.
Alle fünf Beteiligten dieses Gesprächsprojektes sind mehrsprachige Wortkünstler, alle fünf sind mehr oder weniger regelmäßig als Übersetzerin oder Übersetzer tätig und weisen im Anhang atemberaubende Bio-Bibliografien aus, Eskin selbst sowie Aris Fioretos sind sogar im Ausland wohnhaft – und doch fehlt den vier Wortwechseln bis auf wenige Ausnahmen ein überraschender Außenblick. Sie bleiben enttäuschend blass.
Literarische Oberflächlichkeit, wie im Falle Sparrs, kann man Eskin und seinen Gästen nicht vorwerfen. Im Gegenteil: Hier wird zitiert, analysiert und assoziiert, was das Zeug hält, hier wird eine quasi-enzyklopädische Kenntnis des Werkes und Paul Celans sowie aller Beteiligten schon schlechthin vorausgesetzt.
Das Problem ist vielmehr, dass Paul Celan und seine Gedichte vor lauter Bedeutungshuberei unter die Räder gerät, was nicht den vier Befragten, wohl aber dem Herausgeber und Fragensteller Michael Eskin zuzuschreiben ist. Zum einen hat sich Eskin entschieden, eine Autorin und drei Autoren für seine Gespräche auszuwählen, deren Werk zwar irgendwie mit Celan verbunden ist (wenngleich Eskin sie bisweilen erst davon überzeugen muss), von denen aber keiner jene wortgetreuen, existenziellen Erfahrungen mit Celans kryptischen Texten gemacht hat, von denen wohl jeder seiner zahlreichen Übersetzerinnen oder Übersetzer in den verschiedensten Sprachräumen zu berichten gewusst hätte.
Eskins zweites Versäumnis wiegt schwerer: Hätte er sich nicht interessantere Fragen einfallen lassen können? Gab es wirklich keine Alternative dazu, einem brillanten Geist wie Durs Grünbein in einem über 40 Druckseiten langen Interview ausschließlich Durs-Grünbein-Fragen à la „Wie sieht Durs Grünbein die Welt“ zu stellen? Natürlich, an der Oberfläche geht es um Celan, aber eigentlich will Eskin nicht mehr als seine eigene Belesenheit zur Schau stellen, indem er das Werk seiner Interviewten nach Celan-Bezügen durchforstet und diese dann damit konfrontiert.
Diese Fragestrategie ist nicht nur deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie eine Gesprächsatmosphäre erzeugt, die an ein Field-Reporter-Interview in der „Mixed Zone“ eines Fußballstadions erinnert, in der sich ausgelaugte Fußballprofis fragen lassen dürfen, wie es ihnen nach dem Spiel „geht“. Sie ermöglicht auch, wie das Post-Match-Interview, vor lauter Nabelschau nur selten interessante Gespräche. Auf einer einsamen Insel wollte man, um ein Gleichnis der Dramatikerin Rebekka Kricheldorf aufzugreifen, jedenfalls tausendmal lieber mit einem Celan-Übersetzer festsitzen als mit einem dieser Selbstgesprächspartner.
Enttäuscht und kaum klüger als zuvor legen wir armen Toren also zwei weitere Celan-Bücher beiseite und freuen uns, dass in einem kleinen Karlsruher Regionalverlag dann später im Jahr doch noch ein Buch erschienen ist, das unser Übersetzerherz hüpfen lässt. Dieses Buch hat mit den beiden anderen kaum mehr als den Celan-Bezug gemein, überhaupt tobt es sich formal in einer eigenen Liga aus.
Der unter Pseudonym schreibende, emeritierte Hochschulprofessor B.S. Orthau nähert sich in seinem, nun ja, Drama (er nennt es „Montage fiktiver Texte“, was auch immer das sein soll) Fraktur. Celan, Rimbaud u.a. Celans Übersetzung von Arthur Rimbauds Bateau ivre von 1957, über einen äußerst verqueren Umweg. Er lässt in der Form eines Theaterstücks, Drehbuchs oder Hörspiels eine Gruppe von Literaturwissenschaftlern im Verbund mit einer Psychologin auftreten, die im Rahmen eines universitären Projektes Celans Rimbaud-Übersetzung unter die Lupe nehmen. Wir sind bei Gruppensitzungen dabei, bekommen aber auch die Semesterplanungen drumherum mit, lesen die E‑Mails der Mitglieder, hören ihre privaten Gespräche zu Hause.
Dieser Kunstgriff erzeugt ein gewöhnungsbedürftiges Leseerlebnis, zumal der Autor Gefallen daran findet, umgangssprachlich zu schreiben, was den intellektuellen Debatten eine eigenwillige Note verleiht:
Nehmen wir dann Que j’aille à la mer! parallel, äh, analog, dann ist das eindeutig. Also ist das erstmal Quatsch, was Kloepfer da zur Basis seiner „Theorie“ machen will, und später stellt er dann, völlig unbeeindruckt von dem, was er zuvor gemeint hat, relativ vordergründig Parallelen her zwischen der Schilderung einer Vision bei Plutarch in De genio Socratis und dem Bateau ivre.
Lässt man sich auf Orthau und seinen stellenweise ziemlich zotigen Humor ein, dann bietet Fraktur allerdings das aufregendste Leseerlebnis dieses Celan-Jahres. Die Forschungsgruppe, die er zur Hauptfigur seines Textes macht, fühlt Celan nämlich wirklich auf den Zahn. Penibler noch als die gesammelte Literaturkritik, penibler ohnehin als Eskin & Co., penibler als wir in der TraLaLit-Redaktion nehmen sie Rimbauds Bateau ivre und Celans Trunkenes Schiff auseinander, klopfen Wort um Wort nach Bedeutungsschichten ab und setzen alles wieder so zusammen, dass man hernach tatsächlich das Gefühl hat, Celan und Rimbaud näher gekommen zu sein.
Die Lektüre von Orthaus eigensinnigem Werk, das auf keiner Seite irgendjemandem irgendetwas beweisen will, aber auf jeder Seite mehr Witz, Esprit versprüht als Sparrs und Eskins Kopfgeburten zusammen und damit tatsächlich zum Selberlesen anregt, ist damit tatsächlich eine Genugtuung in diesem sonst eher enttäuschenden Celan-Jahr 2020.
All jenen, die sich für die globale und polyglotte Dimension von Paul Celans Schaffen interessieren, bleibt glücklicherweise die ältere, eingangs verlinkte Literatur – und das geduldige Warten auf den Fortschritt des Denkens, der bis zum nächsten Jubiläumsjahr hoffentlich neue Einsichten und Perspektiven auf einen der wichtigsten Dichter des vergangenen Jahrhunderts gebiert.
Thomas Sparr: Todesfuge – Biographie eines Gedichts
DVA 2020 ⋅ 336 Seiten ⋅ 22 Euro
randomhouse.de/Buch/Todesfuge-Biographie-eines-Gedichts/Thomas-Sparr/DVA-Sachbuch/e518387.rhd
Michael Eskin: Schwerer werden. Leichter sein.
Wallstein 2020 ⋅ 176 Seiten ⋅ 22 Euro
wallstein-verlag.de/9783835336315-michael-eskin-schwerer-werden-leichter-sein.html
B.S. Orthau: Fraktur. Celan, Rimbaud u.a.
Lindemanns 2020 ⋅ 440 Seiten ⋅ 25 Euro
infoverlag.de/programm/literatur-belletristik/480/fraktur.-celan-rimbaud‑u.a.