Gewalt säen, Gewalt ernten

Olaf Kühl verleiht Szczepan Twardochs Roman "Der Boxer" durch knifflig konstruierte Sätze eine brutale Direktheit. Eine Rezension des Werkes, für das er 2018 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis erhielt. Von

Boxer und die, die ihnen beim Boxen zusehen. Bild: Pixabay
Anm. d. Red.: Die­ser Bei­trag wur­de ohne Berück­sich­ti­gung des Ori­gi­nal­tex­tes ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.

Der Boxer ist nach Mor­phin (Rowohlt, 2014) und Drach (Rowohlt, 2016) bereits der drit­te Roman Szc­ze­pan Twar­dochs, den Olaf Kühl ins Deut­sche über­tra­gen hat. Autor und Über­set­zer ver­set­zen den Leser in das War­schau der Zwi­schen­kriegs­zeit und zeich­nen das Gangs­ter­le­ben jüdi­scher Polen im wirt­schaft­lich und eth­nisch tur­bu­len­ten Stadt­le­ben nach. Die Schil­de­run­gen sind detail­reich; Per­so­nen, Gegen­stän­de, Gerü­che wer­den genau beschrie­ben. Die Erzäh­lung ist strin­gent und logisch nach­voll­zieh­bar, wenn auch kom­pli­ziert gestrickt und immer wie­der über­ra­schend. Nicht immer ist klar, wo die Gren­ze zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on ver­läuft, wo Fak­ten und per­sön­li­che Erin­ne­run­gen verschmelzen.

Die Geschich­te beginnt im Box­ring. Jakub Sha­pi­ro, der in einem jüdi­schen Klub boxt, kämpft gegen einen Polen der „Legia“. Die Gangs­ter der Unter­welt sehen zu. Unter den Zuschau­ern befin­det sich auch der zu die­sem Zeit­punkt jugend­li­che Erzäh­ler Mojżesz Bern­stein, des­sen Vater kurz zuvor von dem attrak­ti­ven Boxer Sha­pi­ro, Hand­lan­ger Jan Kap­li­cas, des selbst­er­nann­ten Paten War­schaus, ver­schleppt und getö­tet wor­den war. Mojżesz wird in die bru­ta­le Welt hin­ein­ge­zo­gen. Sha­pi­ro nimmt ihn auf und bringt ihm das Boxen bei, und Mojżesz assis­tiert Kap­li­ca bei Macht­kämp­fen gegen die Faschis­ten. Vier­zig Jah­re spä­ter ist er als ehe­ma­li­ger Sol­dat auf der Flucht vor dem Holo­caust in Tel Aviv gelan­det und blickt zurück.

Der Erzäh­ler schil­dert das Leben als Mit­glied einer eth­ni­schen Min­der­heit in Zei­ten des zuneh­men­den Anti­se­mi­tis­mus. Der jun­ge Bern­stein sieht Sha­pi­ro als einen Kämp­fer, der War­schau zwar ret­ten, aber auch beherr­schen will. Und doch roman­ti­siert Twar­doch das Gangs­ter­le­ben kei­nes­falls. Sha­pi­ro und sei­ne jüdi­schen Kame­ra­den über­le­gen, nach Paläs­ti­na aus­zu­wan­dern, oder zu blei­ben, zu kämp­fen. Die Gewalt­ta­ten, sowohl phy­si­sche als auch psy­chi­sche, über­tref­fen sich in ihrer Bru­ta­li­tät und Grau­sam­keit. Und über ihnen schwimmt ein Pott­wal, mit bren­nen­den Augen, der den Erzäh­ler durch War­schau beglei­tet und des­sen Blick er spürt, selbst wenn er ihn gera­de nicht sieht. (Im Epi­graph zitiert Twar­doch Mellville’s Moby Dick: „Wer ist denn kein Sklave“).

Da die Hand­lung rück­bli­ckend erzählt wird und der Erzäh­ler ger­ne Details preis­gibt, die ihm erst spä­ter in sei­nem Leben bewusst wer­den, wird dem Leser das Gefühl ver­mit­telt, er wis­se manch­mal mehr als die Hand­lungs­per­so­nen selbst, und ver­ste­he jetzt schon, was die Figu­ren erst spä­ter ver­ste­hen werden:

Ziem­biń­ski erwi­dert, er kämpft gut, ein her­vor­ra­gen­der Boxer, jetzt weiß ich das, damals wuss­te ich es wohl nicht, ich glau­be, ich kann­te mich nicht aus im Boxen, ich guck­te hin und wuss­te nicht, was ich sah, jetzt aber rufe ich mir mei­nen Blick auf sie von damals in Erin­ne­rung und es scheint mir ein ver­stän­di­ger Blick zu sein, ein ana­ly­ti­scher Blick, der alles an ihnen wahr­nimmt, was der geüb­te Blick, ver­traut mit dem, was er sieht, an ihnen wahr­neh­men kann. Viel­leicht ist es mein heu­ti­ger Blick, nicht der von damals.

Zugleich stellt sich die Fra­ge, wie ver­läss­lich die­ser Erzäh­ler ist. Im Lau­fe der Lek­tü­re ver­schwimmt die Gren­ze zwi­schen Rea­li­tät und ver­zerr­ter Erin­ne­rung. Auch der Iden­ti­tät des Erzäh­lers ist man sich als Leser irgend­wann nicht mehr so ganz sicher. Ganz zu Beginn des Buches stellt er sich vor: „Ich hei­ße Mojżesz Bern­stein, bin sieb­zehn Jah­re alt und exis­tie­re nicht.“ Etwas spä­ter über­legt er: „Mag sein, dass das alles auch gar nicht mir pas­siert ist; viel­leicht hat Sha­pi­ro mir die­se Geschich­te erzählt? Unse­re Leben flie­ßen in eins zusammen.“

Für die deut­sche Über­set­zung des Romans wur­de Olaf Kühl am 23. Juni 2018 im Rah­men des 15. Wol­fen­büt­te­ler Gesprächs, der Jah­res­ta­gung des Ver­ban­des der Lite­ra­tur­über­set­zer (VdÜ), der Helmut‑M.-Braem-Übersetzerpreis ver­lie­hen. Zugleich wür­digt die Jury mit dem Preis Kühls über­set­ze­ri­sches Gesamt­werk aus dem Ukrai­ni­schen, Rus­si­schen und Polnischen.

Die Jury des Helmut‑M.-Braem-Übersetzerpreises begrün­de­te ihre Ent­schei­dung für Olaf Kühl damit, dass es ihm mit Bra­vour gelin­ge, „für die eben­so wuch­tig wie facet­ten­reich beschrie­be­ne War­schau­er Unter­welt der 1930er Jah­re im Deut­schen ange­mes­se­ne Wor­te zu fin­den.“ Sei­ne Über­set­zung des Boxers „folgt einer klu­gen Poe­tik der öko­no­misch knap­pen Ver­wen­dung von Bil­dern und Meta­phern. Eine vari­an­ten­rei­che Syn­tax, die wie selbst­ver­ständ­lich alle Mit­tel des Deut­schen aus­schöpft, ver­mag den Leser über 450 Sei­ten hin­weg zu fes­seln: Ob es die Kör­per­lich­keit eines Box­kamp­fes ist, die Stim­mung eines Stadt­teils, der Ton eines Dia­logs – immer gelingt es Kühl, fein aus­ta­rie­rend zwi­schen Hoch- und Umgangs­spra­che, einen span­nungs­rei­chen Text zu formulieren.“

Szc­ze­pan Twar­doch und Olaf Kühl sind bereits ein aus­ge­zeich­ne­tes Team. Für den Roman Drach wur­den sie mit dem Brü­cke Preis Ber­lin geehrt, einem Preis, den sich Autor und Über­set­zer tei­len. In Wol­fen­büt­tel gehör­te der Ruhm Olaf Kühl allein. Die Aus­zeich­nung wur­de ihm von Hel­ga Pfetsch, Prä­si­den­tin des Freun­des­krei­ses zur För­de­rung lite­ra­ri­scher und wis­sen­schaft­li­cher Über­set­zun­gen e.V., im Krei­se sei­ner Über­set­zer­kol­le­gin­nen und Über­set­zer­kol­le­gen ver­lie­hen und Kühls Arbeit in hohen Tönen gelobt.

Der Boxer erin­nert sehr oft an ame­ri­ka­ni­sche Gangs­ter­fil­me. Das nicht nur, weil die­se die Main­stream-Vor­stel­lung des Gangs­ter­le­bens stark prä­gen oder wegen der ober­fläch­lich kon­stru­ier­ten Frau­en­fi­gu­ren, son­dern auch auf sprach­li­cher Ebe­ne. Twar­dochs Erzähl­stil ist fil­misch: inhalts­rei­che Dia­lo­ge, detail­lier­te Beschrei­bun­gen und kei­ne unnö­ti­gen Deko­ra­tio­nen der Spra­che. Twar­doch kommt direkt zum Punkt. Der Span­nungs­bo­gen wird vor allem von die­ser action­rei­chen Erzähl­art getragen.

Olaf Kühl gelingt es, gera­de in Dia­lo­gen pas­sen­de Sprach­re­gis­ter für die jewei­li­ge Per­son und Situa­ti­on zu tref­fen. Wenn nicht gespro­chen wird, wird geboxt und getö­tet. Sol­che Hand­lung erfor­dert einen Wort­schatz, den nicht alle Über­set­zer ihr Eigen nen­nen kön­nen. Kühls Sprach­schatz, vor allem was Gewalt­aus­drü­cke und Schimpf­wör­ter anbe­langt, ist beein­dru­ckend. (Auch etwas beängs­ti­gend, wie Hau­ke Hück­städt, Lei­ter des Frank­fur­ter Lite­ra­tur­hau­ses, in der Lau­da­tio der Preis­ver­lei­hung meint: „Woher auch immer er [die­se Schimpf­wör­ter] hat – aus dem Duden erschei­nen sie jeden­falls nicht.“)

Neben viel­schich­ti­ger vul­gä­rer Aus­drucks­for­men hat die deut­sche Spra­che die schö­ne Eigen­schaft, schier sei­ten­lan­ge Sät­ze zuzu­las­sen. Doch sie zu schrei­ben, das muss ein Autor oder Über­set­zer erst­mal schaf­fen. Olaf Kühl schreckt nicht davor zurück und kon­stru­iert gan­ze Absät­ze ohne Punkt:

Um den Ring waren zwei War­schaus ver­sam­melt, die in zwei Spra­chen rede­ten, in ihren eige­nen Wel­ten leb­ten, unter­schied­li­che Zei­tun­gen lasen und bes­ten­falls Gleich­gül­tig­keit für­ein­an­der hat­ten, schlimms­ten­falls Hass, nor­ma­ler­wei­se aber ein­fach distan­zier­te Abnei­gung, als wohn­ten sie nicht Stra­ße and Stra­ße, son­dern getrennt durch einen Oze­an; und ich war ein mage­rer Jüng­ling mit blas­ser Haut, gebo­ren irgend­wo dort, ich weiß nicht mehr, ver­mut­lich vor sieb­zehn Jah­ren, sagen wir also 1920, und ich hat­te den Vor­na­men Mojżesz bekom­men, den Nach­na­men Bern­stein wie üblich von mei­nem Vater geerbt, ihn trug auch mei­ne Mut­ter Miri­am, alle mosai­schen Glau­bens, und ich war gebo­ren als Bür­ger der kürz­lich wie­der­ent­stan­de­nen Repu­blik Polen und saß als ein – ver­gli­chen mit den Polen – etwas gerin­ge­rer Bür­ger die­ser Repu­blik im Zuschau­er­saal des städ­ti­schen Kinos, das frü­her ein­mal das Thea­ter der Neu­ig­kei­ten war, bis das Bogus­ław­ski-Thea­ter in das Gebäu­de an der Ecke Dłu­ga-/Hi­p­otecz­na­stra­ße zog, und am Ende kamen Kino und Boxen.

Absät­ze vol­ler Rela­tiv­sät­ze und der spar­sa­me Umgang mit deko­ra­ti­ven Stil­mit­teln haben den Effekt, die Spra­che zu ver­dich­ten und zu inten­si­vie­ren. Wer die­sen Schreib­stil nicht all­zu oft liest, braucht mög­li­cher­wei­se ein wenig Zeit, um sich in Twar­dochs und Kühls Spra­che zurecht­zu­fin­den. Man­che For­mu­lie­run­gen sind unge­wöhn­lich und Abschnit­te las­sen sich nicht leicht über­flie­gen. Die Spra­che zwingt einen, genau zu lesen, und man­che Sät­ze wol­len zum bes­se­ren Ver­ständ­nis lang­sam, oder gar öfter als ein­mal gele­sen wer­den. Lang­sa­mes Lesen einer schnel­len, span­nen­den Erzäh­lung – das muss in sich kein Wider­spruch sein!

Im Boxer wird viel gere­det und das meist auf Pol­nisch, was in der Über­set­zung natür­lich ins Deut­sche über­tra­gen wur­de. Ver­ein­zelt spre­chen die Figu­ren Hebrä­isch und Rus­sisch, häu­fi­ger auch Jid­disch. Für die­se Abschnit­te wer­den Fuß­no­ten ein­ge­fügt. Ohne das pol­ni­sche Ori­gi­nal zu ken­nen, neh­me ich an, dass die jid­di­schen Pas­sa­gen im Ori­gi­nal eben­falls in Fuß­no­ten über­setzt sind. Inter­es­sant ist beson­ders, dass Jid­disch für den deut­schen Leser bis zu einem gewis­sen Grad auch ohne Über­set­zung ver­ständ­lich ist, was für einen pol­ni­schen Leser ohne Deutsch­kennt­nis­se ver­mut­lich nicht der Fall ist.

„Lomer ant­l­ofn“, bat mei­ne Mut­ter, „lomer ant­l­ofn zinerscht zi ma schwes­to ka Lodsch in schpej­to kann Eretz Jis­ruel ode kann Ame­ri­ke. Lomer ant­l­ofn, Nojem, wal nsch ka schach of de welt wet inds kene fataj­dign farn kas finim puritz.“*

*Lass uns weg­lau­fen, Naum. Wir lau­fen erst zu mei­ner Schwes­ter nach Lodsch und dann nach Eretz Isra­el oder Ame­ri­ka. Lass uns weg­lau­fen, Naum, denn vor dem Zorn die­ses Puritz schützt uns kei­ne mensch­li­che und kei­ne gött­li­che Kraft.

Twar­dochs Roman Król (deutsch eigent­lich „König“) ist ein Thril­ler, ein bru­ta­les Werk, um das Leser, die sich ange­wöhnt haben, gewalt­tä­ti­ge Sze­nen zu über­flie­gen, eher einen Bogen machen soll­ten – es blie­ben nicht all­zu vie­le Sze­nen übrig. Doch Olaf Kühl zeigt in sei­ner Über­set­zung gekonnt, wie das Leben eini­ger Juden im War­schau der Zwi­schen­kriegs­zeit auf Deutsch klin­gen würde.

Szc­ze­pan Twardoch/Olaf Kühl: Der Boxer (im pol­ni­schen Ori­gi­nal: Król)

Rowohlt 2018 ⋅ 463 Sei­ten ⋅ 23 Euro

www.rowohlt.de/hardcover/szczepan-twardoch-der-boxer.html

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