Der Boxer ist nach Morphin (Rowohlt, 2014) und Drach (Rowohlt, 2016) bereits der dritte Roman Szczepan Twardochs, den Olaf Kühl ins Deutsche übertragen hat. Autor und Übersetzer versetzen den Leser in das Warschau der Zwischenkriegszeit und zeichnen das Gangsterleben jüdischer Polen im wirtschaftlich und ethnisch turbulenten Stadtleben nach. Die Schilderungen sind detailreich; Personen, Gegenstände, Gerüche werden genau beschrieben. Die Erzählung ist stringent und logisch nachvollziehbar, wenn auch kompliziert gestrickt und immer wieder überraschend. Nicht immer ist klar, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion verläuft, wo Fakten und persönliche Erinnerungen verschmelzen.
Die Geschichte beginnt im Boxring. Jakub Shapiro, der in einem jüdischen Klub boxt, kämpft gegen einen Polen der „Legia“. Die Gangster der Unterwelt sehen zu. Unter den Zuschauern befindet sich auch der zu diesem Zeitpunkt jugendliche Erzähler Mojżesz Bernstein, dessen Vater kurz zuvor von dem attraktiven Boxer Shapiro, Handlanger Jan Kaplicas, des selbsternannten Paten Warschaus, verschleppt und getötet worden war. Mojżesz wird in die brutale Welt hineingezogen. Shapiro nimmt ihn auf und bringt ihm das Boxen bei, und Mojżesz assistiert Kaplica bei Machtkämpfen gegen die Faschisten. Vierzig Jahre später ist er als ehemaliger Soldat auf der Flucht vor dem Holocaust in Tel Aviv gelandet und blickt zurück.
Der Erzähler schildert das Leben als Mitglied einer ethnischen Minderheit in Zeiten des zunehmenden Antisemitismus. Der junge Bernstein sieht Shapiro als einen Kämpfer, der Warschau zwar retten, aber auch beherrschen will. Und doch romantisiert Twardoch das Gangsterleben keinesfalls. Shapiro und seine jüdischen Kameraden überlegen, nach Palästina auszuwandern, oder zu bleiben, zu kämpfen. Die Gewalttaten, sowohl physische als auch psychische, übertreffen sich in ihrer Brutalität und Grausamkeit. Und über ihnen schwimmt ein Pottwal, mit brennenden Augen, der den Erzähler durch Warschau begleitet und dessen Blick er spürt, selbst wenn er ihn gerade nicht sieht. (Im Epigraph zitiert Twardoch Mellville’s Moby Dick: „Wer ist denn kein Sklave“).
Da die Handlung rückblickend erzählt wird und der Erzähler gerne Details preisgibt, die ihm erst später in seinem Leben bewusst werden, wird dem Leser das Gefühl vermittelt, er wisse manchmal mehr als die Handlungspersonen selbst, und verstehe jetzt schon, was die Figuren erst später verstehen werden:
Ziembiński erwidert, er kämpft gut, ein hervorragender Boxer, jetzt weiß ich das, damals wusste ich es wohl nicht, ich glaube, ich kannte mich nicht aus im Boxen, ich guckte hin und wusste nicht, was ich sah, jetzt aber rufe ich mir meinen Blick auf sie von damals in Erinnerung und es scheint mir ein verständiger Blick zu sein, ein analytischer Blick, der alles an ihnen wahrnimmt, was der geübte Blick, vertraut mit dem, was er sieht, an ihnen wahrnehmen kann. Vielleicht ist es mein heutiger Blick, nicht der von damals.
Zugleich stellt sich die Frage, wie verlässlich dieser Erzähler ist. Im Laufe der Lektüre verschwimmt die Grenze zwischen Realität und verzerrter Erinnerung. Auch der Identität des Erzählers ist man sich als Leser irgendwann nicht mehr so ganz sicher. Ganz zu Beginn des Buches stellt er sich vor: „Ich heiße Mojżesz Bernstein, bin siebzehn Jahre alt und existiere nicht.“ Etwas später überlegt er: „Mag sein, dass das alles auch gar nicht mir passiert ist; vielleicht hat Shapiro mir diese Geschichte erzählt? Unsere Leben fließen in eins zusammen.“
Für die deutsche Übersetzung des Romans wurde Olaf Kühl am 23. Juni 2018 im Rahmen des 15. Wolfenbütteler Gesprächs, der Jahrestagung des Verbandes der Literaturübersetzer (VdÜ), der Helmut‑M.-Braem-Übersetzerpreis verliehen. Zugleich würdigt die Jury mit dem Preis Kühls übersetzerisches Gesamtwerk aus dem Ukrainischen, Russischen und Polnischen.
Die Jury des Helmut‑M.-Braem-Übersetzerpreises begründete ihre Entscheidung für Olaf Kühl damit, dass es ihm mit Bravour gelinge, „für die ebenso wuchtig wie facettenreich beschriebene Warschauer Unterwelt der 1930er Jahre im Deutschen angemessene Worte zu finden.“ Seine Übersetzung des Boxers „folgt einer klugen Poetik der ökonomisch knappen Verwendung von Bildern und Metaphern. Eine variantenreiche Syntax, die wie selbstverständlich alle Mittel des Deutschen ausschöpft, vermag den Leser über 450 Seiten hinweg zu fesseln: Ob es die Körperlichkeit eines Boxkampfes ist, die Stimmung eines Stadtteils, der Ton eines Dialogs – immer gelingt es Kühl, fein austarierend zwischen Hoch- und Umgangssprache, einen spannungsreichen Text zu formulieren.“
Szczepan Twardoch und Olaf Kühl sind bereits ein ausgezeichnetes Team. Für den Roman Drach wurden sie mit dem Brücke Preis Berlin geehrt, einem Preis, den sich Autor und Übersetzer teilen. In Wolfenbüttel gehörte der Ruhm Olaf Kühl allein. Die Auszeichnung wurde ihm von Helga Pfetsch, Präsidentin des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e.V., im Kreise seiner Übersetzerkolleginnen und Übersetzerkollegen verliehen und Kühls Arbeit in hohen Tönen gelobt.
Der Boxer erinnert sehr oft an amerikanische Gangsterfilme. Das nicht nur, weil diese die Mainstream-Vorstellung des Gangsterlebens stark prägen oder wegen der oberflächlich konstruierten Frauenfiguren, sondern auch auf sprachlicher Ebene. Twardochs Erzählstil ist filmisch: inhaltsreiche Dialoge, detaillierte Beschreibungen und keine unnötigen Dekorationen der Sprache. Twardoch kommt direkt zum Punkt. Der Spannungsbogen wird vor allem von dieser actionreichen Erzählart getragen.
Olaf Kühl gelingt es, gerade in Dialogen passende Sprachregister für die jeweilige Person und Situation zu treffen. Wenn nicht gesprochen wird, wird geboxt und getötet. Solche Handlung erfordert einen Wortschatz, den nicht alle Übersetzer ihr Eigen nennen können. Kühls Sprachschatz, vor allem was Gewaltausdrücke und Schimpfwörter anbelangt, ist beeindruckend. (Auch etwas beängstigend, wie Hauke Hückstädt, Leiter des Frankfurter Literaturhauses, in der Laudatio der Preisverleihung meint: „Woher auch immer er [diese Schimpfwörter] hat – aus dem Duden erscheinen sie jedenfalls nicht.“)
Neben vielschichtiger vulgärer Ausdrucksformen hat die deutsche Sprache die schöne Eigenschaft, schier seitenlange Sätze zuzulassen. Doch sie zu schreiben, das muss ein Autor oder Übersetzer erstmal schaffen. Olaf Kühl schreckt nicht davor zurück und konstruiert ganze Absätze ohne Punkt:
Um den Ring waren zwei Warschaus versammelt, die in zwei Sprachen redeten, in ihren eigenen Welten lebten, unterschiedliche Zeitungen lasen und bestenfalls Gleichgültigkeit füreinander hatten, schlimmstenfalls Hass, normalerweise aber einfach distanzierte Abneigung, als wohnten sie nicht Straße and Straße, sondern getrennt durch einen Ozean; und ich war ein magerer Jüngling mit blasser Haut, geboren irgendwo dort, ich weiß nicht mehr, vermutlich vor siebzehn Jahren, sagen wir also 1920, und ich hatte den Vornamen Mojżesz bekommen, den Nachnamen Bernstein wie üblich von meinem Vater geerbt, ihn trug auch meine Mutter Miriam, alle mosaischen Glaubens, und ich war geboren als Bürger der kürzlich wiederentstandenen Republik Polen und saß als ein – verglichen mit den Polen – etwas geringerer Bürger dieser Republik im Zuschauersaal des städtischen Kinos, das früher einmal das Theater der Neuigkeiten war, bis das Bogusławski-Theater in das Gebäude an der Ecke Długa-/Hipotecznastraße zog, und am Ende kamen Kino und Boxen.
Absätze voller Relativsätze und der sparsame Umgang mit dekorativen Stilmitteln haben den Effekt, die Sprache zu verdichten und zu intensivieren. Wer diesen Schreibstil nicht allzu oft liest, braucht möglicherweise ein wenig Zeit, um sich in Twardochs und Kühls Sprache zurechtzufinden. Manche Formulierungen sind ungewöhnlich und Abschnitte lassen sich nicht leicht überfliegen. Die Sprache zwingt einen, genau zu lesen, und manche Sätze wollen zum besseren Verständnis langsam, oder gar öfter als einmal gelesen werden. Langsames Lesen einer schnellen, spannenden Erzählung – das muss in sich kein Widerspruch sein!
Im Boxer wird viel geredet und das meist auf Polnisch, was in der Übersetzung natürlich ins Deutsche übertragen wurde. Vereinzelt sprechen die Figuren Hebräisch und Russisch, häufiger auch Jiddisch. Für diese Abschnitte werden Fußnoten eingefügt. Ohne das polnische Original zu kennen, nehme ich an, dass die jiddischen Passagen im Original ebenfalls in Fußnoten übersetzt sind. Interessant ist besonders, dass Jiddisch für den deutschen Leser bis zu einem gewissen Grad auch ohne Übersetzung verständlich ist, was für einen polnischen Leser ohne Deutschkenntnisse vermutlich nicht der Fall ist.
„Lomer antlofn“, bat meine Mutter, „lomer antlofn zinerscht zi ma schwesto ka Lodsch in schpejto kann Eretz Jisruel ode kann Amerike. Lomer antlofn, Nojem, wal nsch ka schach of de welt wet inds kene fatajdign farn kas finim puritz.“*
*Lass uns weglaufen, Naum. Wir laufen erst zu meiner Schwester nach Lodsch und dann nach Eretz Israel oder Amerika. Lass uns weglaufen, Naum, denn vor dem Zorn dieses Puritz schützt uns keine menschliche und keine göttliche Kraft.
Twardochs Roman Król (deutsch eigentlich „König“) ist ein Thriller, ein brutales Werk, um das Leser, die sich angewöhnt haben, gewalttätige Szenen zu überfliegen, eher einen Bogen machen sollten – es blieben nicht allzu viele Szenen übrig. Doch Olaf Kühl zeigt in seiner Übersetzung gekonnt, wie das Leben einiger Juden im Warschau der Zwischenkriegszeit auf Deutsch klingen würde.
Szczepan Twardoch/Olaf Kühl: Der Boxer (im polnischen Original: Król)
Rowohlt 2018 ⋅ 463 Seiten ⋅ 23 Euro