The English original of this essay is available here.
Am Anfang meiner Leidenschaft für Alexander Puschkins hinreißenden, hervorragenden, herrlichen, hypnotisierenden Versroman Eugen Onegin (oder Eugene Onegin auf Englisch, oder Евгений Онегин auf Russisch) stand die holde Kunst der Übersetzung – der Lyrikübersetzung, um genau zu sein. Ich kannte das Werk zunächst nur auf Englisch, doch schon damals war ich so hingerissen, dass ich mich später sogar selbst an einer Übersetzung versuchte, auch wenn ich anfangs kaum ein Wort Russisch sprach. Es ist eine kuriose Geschichte, die vielleicht einige interessieren könnte, und die ich darum hier erzählen will.
In den frühen Neunzigerjahren hatte ich noch keinen blassen Schimmer davon, dass die Russen Eugen Onegin fast einhellig für den Gipfel ihrer reichen Literaturlandschaft halten, aber ungeachtet dieser Bildungslücke hatte ich in meinen Bücherregalen zwei englische Versübersetzungen des Werks stehen. Eines Tages machte ich meiner Frau Carol, die leider 1993 verstorben ist, den Vorschlag, sie gemeinsam parallel zu lesen. Ich stellte es mir so vor, dass erst sie die eine Onegin-Strophe vorlas (das sind 14 Zeilen mit einem besonderen, immer gleichen Metrum und Rhythmus), dann ich dieselbe Strophe in einer anderen englischen Übersetzung, und dann jeder nochmal, sodass wir jede Strophe zweimal hörten, bevor wir zur nächsten übergingen. So begannen meine Erkundungen der berauschenden Welt des Eugen Onegin.
Im Jahr 1996 – inzwischen hatte ich erfahren, welch große Bedeutung Eugen Onegin für die russische Kultur hat – schrieb ich einen kurzen Artikel für die New York Times Book Review, in dem ich vier englische Übersetzungen des Romans miteinander verglich. Natürlich hatte ich eine Lieblingsfassung, aber alle vier gefielen mir und ich lobte sie dementsprechend. Die älteste der vier Übersetzungen war im Jahr 1937 erschienen, der Übersetzer war ein Schriftsteller namens Oliver Elton. Ich fand Eltons Onegin-Version nicht schlecht, aber sie hatte auch nichts Perlendes oder gar Knisterndes.
Die nächste englische Fassung des Eugen Onegin erschien im Jahr 1963. Ihr Urheber war der bekannte deutsche Schriftsteller und Übersetzer Walter Arndt, der aus dem Deutschen und Russischen ins Englische übersetzte. Sein Englisch war sehr gut, aber man merkt seinen Übersetzungen den deutschen Akzent an, dessen er selbst sich offenbar nie bewusst war. So unterschwellig dieser Akzent auch sein mag, er beeinträchtigt die Lesbarkeit seines Textes. Man muss allerdings auch bedenken, dass seine Übersetzung von Eugen Onegin zum damaligen Zeitpunkt die erste Neuübersetzung seit fünfundzwanzig Jahren war. Arndt erhielt dafür den Bollingen Award, einen renommierten Übersetzerpreis der Princeton University.
1964 kam dann das dreisprachige Enfant terrible Vladimir Nabokov mit einer katastrophalen Wort-für-Wort-Übersetzung an, ohne Anmut, ohne Rhythmus, ohne Metrum. Nabokov aber – wenn es je einen Verfechter des Perversen gab, dann ihn – schmähte sein eigenes Werk, ihm war es „noch nicht hässlich genug“ und ließ höhnisch wissen, wie sehr er sich darauf freue, es noch weiter zu entstellen. Und so blutrünstig er sich auch über EO hermachte (noch immer nicht blutrünstig genug, seiner Meinung nach!), er erhielt ungeheuer viel Aufmerksamkeit, schließlich war er seit Lolita welt-berüchtigt. Überraschend viele intelligente Leute ließen sich erst von seinen Wortwolken das Hirn vernebeln und dann im Sog seines Unsinns mitreißen. Zu Nabokovs groteskem Projekt nur so viel: Für mich hat es seine Übersetzung nicht verdient, auf demselben Regalbrett zu stehen wie die Übersetzungen, die ich bewundere (und in meinem Arbeitszimmer wird man sie dort auch wirklich nicht finden).
Dreizehn Jahre später, im Jahr 1977, erschien eine Übersetzung von Sir Charles Johnston, einem hoch angesehenen britischen Diplomaten. Ich würde Johnstons Übersetzung ungefähr auf dem Niveau von Arndt einstufen – annehmbar, ziemlich gut sogar, aber in vieler Hinsicht fehlerhaft. Sie klingt rhythmisch ungleichmäßig, die grammatischen Konstruktionen sind oft verquast und unverständlich, die Verse klingen merkwürdig und etwas holprig. Dennoch war es Johnstons Übersetzung, die mich zum ersten Mal mit Eugen Onegin in Berührung brachte. Um genauer zu sein war Johnstons Übersetzung eine der zwei, die ich mit Carol laut las, kurz bevor sie verstarb.
Die andere Übersetzung, die wir zusammen lasen, war von James Falen, einem Russischprofessor an der University of Tennessee. Seine Übersetzung wurde 1990 von der University of Southern Illinois Press veröffentlicht, einem relativ unbekannten Verlag, und es war reines Glück, dass sie mir in einer meiner Lieblingsbuchhandlungen in die Hände fiel. Ich kaufte die Übersetzung und dachte, „Ach, das kann ja nichts sein … So ein amerikanischer Professor, der irgendwo hinter den Appalachen sitzt, wird es doch nicht mit einem kultivierten und weltgewandten britischen Diplomaten aufnehmen können!?“ Wie man sieht, war ich voller Vorurteile, die mir heute die Schamesröte ins Gesicht treiben. Aber das war wirklich meine spontane Reaktion. Ich sollte wohl erwähnen, dass ich Eugen Onegin zu dem Zeitpunkt noch nicht verfallen war – tatsächlich hatte ich bis dato nur die ersten paar Verse von Johnstons Übersetzung gelesen, und die hatten mich definitiv nicht vom Hocker gerissen – aber ich war von Lyrikübersetzungen im Allgemeinen fasziniert, also kaufte ich mir Falens Übersetzung einfach mal. Was für ein Glück, dass ich immerhin dazu nicht zu verbohrt war!
Einige Jahre verbrachten die Übersetzungen von Johnston und Falen Rücken an Rücken in meinem Regal und staubten vor sich hin. Eines Tages aber – wer weiß, warum? – fragte ich Carol: „Sag mal, wollen wir nicht mal versuchen, die beiden Übersetzungen zu zweit zu lesen?“ Zu meiner Freude war auch sie Feuer und Flamme und siehe da, schon nach ein paar Seiten hatten wir uns beide in Falens Übersetzung verliebt! Sie war so wunderbar gleichmäßig, klar, eingängig, poetisch, berührend und wunderschön – in einem Wort, berauschend. So viel zum Thema „irgendwo hinter den Appalachen“!
Das waren also die vier Übersetzungen, die ich 1996 in meinem Artikel in der New York Times verglich – Eltons, Arndts, Johnstons und Falens. Kurze Zeit später veröffentlichte ich eine erweiterte Fassung dieses Artikels als ein Kapitel meines Buches Le Ton beau de Marot: In Praise of the Music of Language, das sich vor allem mit dem Übersetzen und der Suche nach Schönheit beschäftigt. Das darauf folgende Kapitel beschäftigte sich mit Nabokovs Blutbad. Aber in diesem letzteren Kapitel zitierte ich auch eine Strophe – nur eine! – aus der Feder einer viel älteren Übersetzerin namens Babette Deutsch. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt nur diese eine Strophe von ihr, über die ich in einem obskuren Buch von einem russischen Physiker gestolpert war, aber mir war sofort klar, dass es sich bei ihrer Übersetzung um ein magisch funkelndes Juwel handelte.
Einige Monate später erbte zufällig ein Freund eines Freundes eines Freundes in Ohio eine Reihe gebrauchter Bücher, darunter aus Zufall auch eine ungelesene Erstausgabe von Babette Deutschs gesamter Übersetzung. Da er meinen New-York-Times-Artikel gesehen hatte, beschloss er, mir das Buch zu schicken. Dafür werde ich ihm auf ewig dankbar sein. Schnell stellte ich fest, dass Babette Deutsch (die übrigens viele Bücher veröffentlicht hat, darunter auch einen pikaresken Roman über das Leben des französischen Dichters François Villon) eine begnadete Sprachkünstlerin war, und hielt ihre Onegin-Übersetzung für ein vollendetes Juwel (oder etwa ein „falendetes Juwel“)? Wenn man mich festnageln wollte, würde ich Falens Übersetzung etwas über die von Deutsch stellen, aber man muss auch bedenken, dass seine Übersetzung aus dem Jahr 1990 und ihre aus dem Jahr 1936 datiert. Ich weiß nicht, ob Falen Deutschs Übersetzung vorlag, ich würde sagen, nein.
Was veranlasste Jim Falen dann, EO zu übersetzen? Nun, seine Frau Eve schenkte ihm 1977 eine Ausgabe von Charles Johnstons brandneuer Übersetzung, da sie wusste, wie sehr Jim das russische Original liebte. Jim las die Übersetzung, reagierte aber vor allem enttäuscht. Die Übersetzung machte ihn verrückt, er spürte ihre Defizite an jeder Stelle, so wie es nur jemand vermag, der sowohl die Schönheit des Originals versteht als auch die poetischen Möglichkeiten des Englischen erkennt.
Und so begann Jim bald – zu seiner eigenen Überraschung und ausgelöst von seiner Enttäuschung über Johnstons Übersetzung – an seiner eigenen englischen Übersetzung von Eugen Onegin zu arbeiten. Er hatte sich nie träumen lassen, dass er sich diesen literarischen Gipfel einmal vornehmen würde, und er brauchte auch über zehn Jahre. Aber schließlich brachte er diese wunderbare, geradezu schockierend schöne Übersetzung heraus.
Im Herbst 1997 besuchte ich Stanford und aus irgendeinem Grund hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, Jims Übersetzung öffentlich vorzulesen. Man benötigt um die vier Stunden, um das ganze Buch mit seinen 380 Strophen zu jeweils 14 Versen laut vorzutragen, also haben wir zwei Abendveranstaltungen daraus gemacht. Diese wunderschöne Koproduktion von Puschkin und Falen in Stanford mit einem kleinen, aber begeisterungsfähigen Publikum zu teilen, versetzte mich in einen unbeschreiblichen Rausch. Durch Falens Übersetzung war ich Puschkin so nahe gekommen, und durch das Vorlesen konnte ich dieses Gefühl mit dutzenden anderen teilen. Ein magisches Erlebnis.
Zu dem Zeitpunkt wäre mir nicht im Traum eingefallen, das russische Original zu lesen, denn mit meinen Russischkenntnissen war es nicht besonders weit her. Ich dachte mir einfach: „Ich habe Eugen Onegin gelesen, es ist fantastisch, ein herrliches Werk.“ Doch die Wege des Schicksals sind manchmal unergründlich. Um die Zeit unterrichtete ich auch Lyrikübersetzung an der Indiana University und beschloss, über Eugen Onegin zu sprechen. Ich gab meinen Studentinnen und Studenten verschiedene Strophen (von Deutsch, Elton, Arndt, Johnston und Falen) zum Lesen und Kommentieren. Und als wir so kommentierten, fragte ich: „Kann hier zufällig jemand Russisch?“ Aber niemand meldete sich. Ich hatte immerhin ein kleines bisschen Russisch gelernt und las daher zu Hause ein paar meiner Lieblingsstrophen, nur zum Spaß. Ich las stockend, aber voller Begeisterung, und teilte das, was ich aus der Lektüre mitnahm, in meinem Seminar.
Inzwischen hatte ich erfahren, dass viele Russen das ganze Buch von Anfang bis Ende auswendig können. Nicht etwa weil sie gezwungen werden, es zu lernen. Nein, einfach aus Liebe. Das beeindruckte mich sehr und motivierte mich, es ihnen gleichzutun. Ich begann einige meiner Lieblingsstrophen aus Falens Übersetzung auf Russisch auswendig zu lernen. Ich las die Strophen einfach immer und immer wieder, bis sie hängen blieben. Und dann sagte ich sie auf, nur für mich, und verinnerlichte sie. Dadurch verbesserte sich auch mein Russisch und einer meiner lebenslangen Träume – Russisch zu lernen – ging in Erfüllung. Ich belegte sogar einen Russischkurs und übte, indem ich mich regelmäßig mit Russen zum Mittagessen traf.
Warum ich nicht Falens Übersetzung auswendig lernte? Wäre das nicht viel einfacher gewesen? Die Antwort ist einfach: Es gibt hunderte Millionen Menschen, die dieses Werk im Original lieben und die große Teile wiedererkennen, wenn man sie zitiert. Wenn man mit einer Strophe beginnt, können sie sie fortsetzen. Auswendig. (Es war kein Scherz, als ich sagte, dass es das Lieblingswerk der Russen ist!) Aber niemand kennt Falens Übersetzung auswendig. Das heißt keineswegs, dass die Übersetzung nicht so schön oder tiefgründig oder mitreißend ist wie das Original. Aber da es eine Übersetzung ist, ist die Fangemeinde millionenfach kleiner. Wer also in eine solche Gemeinschaft eintreten will, der muss das Werk in der Originalsprache auswendig lernen. Also habe ich das getan, oder zumindest annähernd. (Ich lernte etwa ein Fünftel auswendig, an die 1000 Zeilen in toto.)
Zu dem Zeitpunkt stand ich bereits mit James Falen in Kontakt, erst brieflich, später dann per E‑Mail sowie telefonisch. Seine Übersetzung hatte mich so sehr berührt, dass ich irgendwann anfing, hier und da ein paar Strophen in mein eigenes Englisch zu übersetzen. Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. So wie jemand, der einen Pianisten bewundert und deshalb das Verlangen verspürt, sich selbst ans Klavier zu setzen. Eines Tages, als ich schon wunderbare Stunden mit der Übersetzung von sechs, sieben Strophen verbracht hatte, fragte ich mich: „Warum nicht das ganze Buch übersetzen? Wäre das nicht das höchste der Gefühle?“ Ehe ich mich versah, steckte ich bereits mittendrin in diesem großen literarischen Abenteuer. Zu meiner großen Freude unterstützte James Falen mein Vorhaben voll und ganz.
Einige Zeit später erhielt ich durch einen verrückten Zufall eine Einladung von Steve Blackwell, einem Kollegen von Jim in der Slawistik der University of Tennessee in Knoxville. Steve hatte keine Ahnung von meiner Begeisterung für Onegin, von der für Falen ganz zu schweigen. Er lud mich ein, um über „das Absurde“ in der Literatur zu sprechen (womit ich mich seit Langem beschäftigte). „Was für ein wunderbarer Zufall“, dachte ich, „ich kann nach Tennessee fahren, ein bisschen über das Absurde sprechen und Jim Falen treffen – unglaublich!“ Selbstverständlich nahm ich die Einladung an und Steve organisierte nicht nur den geplanten Vortrag über das Absurde, sondern auch eine zweiteilige Lesung von Jim Falens Eugene Onegin. Wahnsinn! Bevor ich nach Tennessee ging, kontaktierte ich den Verlag und ließ mir jedes einzelne Exemplar aus ihrem Bestand schicken, um die hundert Taschenbücher. Ich packte das große Bücherpaket in mein Auto und nahm es mit nach Tennessee.
Zur Überraschung meines Publikums verkündete ich zu Beginn der Lesung: „Jeder bekommt ein Exemplar geschenkt!“ Es waren um die 90 Leute erschienen, zum Glück hatte ich gerade genug Exemplare dabei. Danach las ich in Anwesenheit von Jim und seiner Frau Eve die ersten vier Kapitel vor – für mich eine große Ehre und ein fantastischer Spaß. Zwei Abende später, zur zweiten Lesung, erschienen wieder 90 Leute. Noch einmal 90 Zuhörer für die letzten vier Kapitel zu interessieren, war ein großer Triumph für mich. Aus meiner eher flüchtigen Bekanntschaft mit Jim und Eve Falen entwickelte sich eine wunderbare und tiefe Freundschaft – so ziemlich das beste Ergebnis meines Interesses an der Kunst des Übersetzens.
Den Rest des Jahres 1998 verbrachte ich damit, wie ein Besessener Strophe für Strophe zu übersetzen, in welchen Staat, in welches Land es mich auch verschlug. Manche Strophen werde ich nie vergessen: Ich übersetzte in der Astgabel eines Baumes in der kalifornischen Sierra, oder auf Sienas Piazza del Campo, kurz bevor ich mir mit meinen zwei Kindern das Palio anschaute, oder jetlaggeplagt in einem Café im Pariser Quatier Latin. Und niemals werde ich vergessen, wie ich die allerletzte Strophe des Romans in Puschkins eigener Wohnung in St. Petersburg übersetzte – ich saß sogar an Puschkins Schreibtisch in Puschkins Arbeitszimmer, unter den Augen des Dichters selbst, und wurde für zwei volle Stunden (Боже мой!) in diesem russischen Nationalheiligtum allein gelassen.
In diesem für mich sehr besonderen Jahr unternahm ich einige sechsstündige Kurztrips von Indiana runter in die Gegend um Knoxville, durch Kentuckys berühmte Pferdeidylle und Tennessees malerisches Cumberland-Gebirge, um Jim und Eve in ihrem wunderschönen Haus am Rande des Little Tennessee Rivers zu besuchen. Bei meinem letzten Besuch, als ich gerade am Feinschliff meiner Übersetzung saß, verbrachten wir drei unvergessliche Abende bei Sherry und Schokolade, an denen ich mein Manuskript vortrug, um hier und da ein paar Korrekturen vorzunehmen, und Jim ab und an eine Strophe seiner eigenen Übersetzung zitierte, damit wir uns an dem Vergleich laben konnten. So wird man selten bewirtet! Einer der Höhepunkte meines Lebens.
Schon von Anfang an wusste ich genau, wem ich die Übersetzung widmen würde, und so geschah es, dass ich bei meinem letzten Besuch meine liebevolle Widmung an Jim und Eve Falen verfasste, bei der ich mich Zeile für Zeile an Puschkins Widmung an seinen Freund Pjotr Alexandrowitsch Pletnjow orientierte. Als ich eines Abends sehr spät mit Schreiben fertig war, schlich ich mich aus meinem Schlafzimmer und legte die Widmung auf einen Tisch im Esszimmer, so dass Jim und Eve sie am nächsten Morgen finden würden – und so kam es auch. Es war ihnen nicht klar, dass ich die Widmung tatsächlich mit in das Buch aufnehmen würde, aber natürlich tat ich es. Verstand sich das nicht von selbst? Meine Übersetzung hatte also zwei Widmungen: Puschkins an seinen Freund und meine eigene, an meine Freunde. Hier sind die zwei Gedichte (übrigens mit 17 Zeilen, also keine Onegin-Strophen, obwohl der Stil sehr ähnlich ist):
Nicht um die Welt zu amüsieren,
Nein, weil mir Freundschaft teuer ward,
Wünscht’ ich Dir hier zu präsentieren
Ein Pfand von würdigerer Art,
Der schönen Seele wert vor allem,
Die heilig träumend sich erfreut
An dichterischem Widerhallen
Und hochgesinnter Einfachheit;
Stattdessen muss dir nur gefallen
Dieser Kapitel Bunterlei,
Die, halb zum Lachen, halb zum Weinen,
Volkston und Ideal vereinen
Sorglose Frucht von Spielerei,
Schlaflosen Nächten, Inspirierung,
Unreifer, welker Jahre Sinn,
Verstandes kalte Registrierung
Und Herzens schmerzlicher Gewinn.
(Aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil)Nicht um die Welt zu amüsieren –
Nabókov gar!? – nein, nur Euch zwei
Wünscht’ ich, oh Falens, zu servieren
Ein Pfand, das würdiger Euch sei,
Wert, Eurer Seele zu gefallen,
Die heilig träumend ihre Gunst
Erweist der klaren, lebensprallen,
Erhaben-schlichten Dichterkunst;
So binden nun uns unter allen
Diese Kapitel, eins bis acht,
Die, halb zum Lachen, halb zum Weinen,
Volkston und Ideal zu einen,
Ich spielerisch hervorgebracht;
Die sprunghaften Gedankenflüsse
Aus grüner Jahre grauem Sinn,
Die weißweinkühlen Geist-Ergüsse,
Und rotweinschwang’ren Herzgewinn.
(Aus dem Englischen von Felix Pütter)
Falls ihr, liebe Leserinnen und Leser, nun daran interessiert seid, Eugen Onegin zu lesen, aber kein Russisch könnt, würde ich euch raten, es mir und Carol gleichzutun – lest zwei Versionen gleichzeitig und vergleicht sie Strophe für Strophe. Aber es dürfte klar sein, dass ich Charles Johnstons Übersetzung dazu nicht empfehlen kann. Stattdessen würde ich die Übersetzungen von Babette Deutsch und James Falen lesen, die ich beide sehr schätze (oder, falls ihr, werte Leserinnen und Leser, darauf besteht, dann nehmt Jims Übersetzung und meine eigene, die 1999 veröffentlicht wurde – übrigens genau 200 Jahre nach der Geburt von Alexander Sergejewitsch Puschkin).
Falens und Deutschs Übersetzungen sind sehr unterschiedlich. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht beide wunderbar sein können. Sie sind wunderbar unterschiedlich. Aber wie ist das Verhältnis von Übersetzung und Original? Das Original ist in vielerlei Hinsicht ein beeindruckendes Werk, aber das lässt sich auch über diese beiden Übersetzungen sagen. Ich zögere keine Sekunde, beiden Übersetzungen genauso viel Witz, genauso viel Tiefe zu attestieren wie dem Original. Aber mir geht es auch nicht um diese Art von Vergleich. Die Frage ist: Kann man sich in sie verlieben? Vermögen sie ihre Leserinnen und Leser so einzunehmen und so zu berauschen wie Puschkins Text den berauschtesten russischen Leser?
Ich habe den Eindruck, dass mich Jim Falens Übersetzung des Eugen Onegin genauso berauscht hat wie jede russische Seele, die das Original gelesen hat – oder zumindest fast genauso. Und selbst nach 25 Jahren absoluter Hingabe bin ich noch immer berauscht von EO. Heute bin ich mit dem Werk nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Russisch eng vertraut und kenne auch (allerdings nicht so innig) die schönen, flüssigen, poetischen Übersetzungen ins Deutsche, Französische und sogar ins Schwedische. (Von allen vier deutschen Übersetzungen, die ich besitze, gefällt mir übrigens die von Rolf-Dietrich Keil am besten.)
Zum Abschluss will ich noch einmal betonen, dass ich mich nur durch den Akt des kreativen Übersetzens in dieses großartige Werk der Literatur verliebt habe. Dies ist der erstaunlichen Kraft einer herausragenden Übersetzung à la James Falen oder Babette Deutsch zu verdanken. Es lebe die hohe, die holde Kunst der Übersetzung!
Alexander Puschkin/James E. Falen: Eugene Onegin. A Novel in Verse (Englische Übersetzung. Im russischen Original: Евгений Онегин)
Oxford University Press ⋅ 288 Seiten ⋅ £ 8,99
Literaturliste:
Douglas R. Hofstadter. Le Ton Beau De Marot: In Praise Of The Music Of Language. New York: Basic Books, 1997.
Александр Сергеевич Пушкин. Евгений Онегин. Собрание Сочинений в десяти томах (Том четвертый). Москва: Государственное издательство Художественной Литературы, 1959.
Übersetzungen (nach Übersetzernamen sortiert):
Arndt, Walter: Eugene Onegin. New York: E. P. Dutton, 1963.
Busch, Ulrich: Eugen Onegin: Roman in Versen. München: Manesse-Verlag, 1981.
Deutsch, Babette: Eugene Onegin. In Poems, Prose and Plays of Alexander Pushkin, edited by Avrahm Yarmolinsky, 111–311. Modern Library. New York: Random House, 1936.
Elton, Oliver: Evgeny Onegin. London: The Pushkin Press, 1937.
Falen, James E.: Eugene Onegin. Carbondale, Illinois: Southern Illinois University Press, 1990.
Hofstadter, Douglas R.: Eugene Onegin. New York: Basic Books, 1999.
Johnston, Sir Charles: Eugene Onegin: A Poetic Novel. London: Private Printing, 1977.
Keil, Rolf-Dietrich: Jewgeni Onegin: Roman in Versen. Gießen: Wilhelm Schmitz Verlag, 1980.
Nabokov, Vladimir: Eugene Onegin. Bollingen Series LXXII. New York: Pantheon, 1964.
Nabokov, Vladimir/Baumann, Sabine: Eugen Onegin. Frankfurt: Stroemfeld, 2009.