Die 1938 geborene Ljudmila Petruschewskaja hatte es in ihrer Kindheit und Jugend nicht gerade leicht. Sie erlebt sowohl den stalinistischen Terror, den grausamen zweiten Weltkrieg als auch die Armut der Nachkriegszeit. Sie entstammt einer Familie russischer Intellektueller, die vom Regime Stalins als „Volksfeinde“ bezeichnet werden und von denen viele hingerichtet wurden oder plötzlich wie vom Erdboden verschluckt waren. Mit der Perspektive eines kleinen Mädchens und zugleich dem Einblick einer reifen, lebenserfahrenen Frau erzählt die Autorin in dem bereits 2006 auf Russisch und nun 2019 auch auf Deutsch erschienen Werk von ihren frühesten Erinnerungen.
Es ist kaum zu übersehen, dass Petruschewskajas wilde Kindheit den grausam realen Charakter ihrer späteren Werke, für den sie bekannt ist, schon früh geprägt hat. Den Figuren ihrer Werke (vor allem Frauenfiguren) passieren schreckliche Dinge und sie tun schreckliche Dinge. Die Erzählungen, für die sie auch international bekannt wurde, sind Märchen für Erwachsene und handeln etwa von einer Frau, die versucht, das Kind ihrer Nachbarin zu töten; einem Mädchen, das in einer verlassenen Gegend ohne Erinnerung aufwacht oder einer Mutter, die ihre Kinder liebte, bis sie wieder zuhause einzogen. Petruschewskaja schreibt unsentimental und gnadenlos, meist aber auch mit einem Sinn von Mitgefühl, Hoffnung und Komik.
Das Leben der Autorin begann im „Metropol“, heute ein luxuriöses Hotel im Zentrum Moskaus, in dem Ljudmila ihre ersten Schritte tat. Vor dem zweiten Weltkrieg wohnten dort hohe Beamte der bolschewistischen Regierung – Menschen, die, wie Petruschewskaja beschreibt, „eine Idee, eine Utopie hatten“. Darunter Petruschwskajas Urgroßvater, bei dem sie, zusammen mit ihrer Mutter, eine Zeit lang lebte. Es mag glamourös klingen, an einem so bedeutenden Ort aufzuwachsen, doch die wenigen Jahre, die die junge Petruschewskaja in Moskau verbringt sind gekennzeichnet von Zusammenleben auf engstem Raum, im Schatten ständiger Furcht.
Nicht alle Wurzeln der späteren Autorin liegen in diesem Hotel Metropol und daher ist der Titel „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“ etwas irreführend. Viele, sicher auch stark prägende, Jahre verbrachte Petruschewskaja fernab von Moskau, fern von den glamourösen Bauten der Hauptstadt, zwangsausgesiedelt und ausgestoßen, in Kinderheimen und bettelnd auf der Straße. Petruschewskaja zieht während ihrer Kindheit ständig von einem Ort zum nächsten und muss sich andauernd auf neue Umgebungen und Umstände einstellen. Sie wächst bei ihrer Mutter, aber auch bei diversen anderen Familienmitgliedern auf. Wenn es ihr zu viel wird, trotzt sie jeglicher Autorität, läuft weg und schlägt sich eine Weile selbst durch. Die alltäglichen Qualen sind dabei in ihren Erzählungen selbstverständlich und keineswegs düster dargestellt.
Das russische Ausgangswerk heißt: Маленькая девочка из „Метрополя“: повести, рассказы, эссе. Zu Deutsch: Das kleine Mädchen aus dem „Metropol“: Erzählungen, Geschichten und Essays. Schon die Bezeichnung der deutschen Übersetzung als „Roman“ deutet darauf hin, dass es sich nicht ganz um dasselbe Werk handelt. Die deutsche Fassung enthält tatsächlich nur Ausschnitte der mehr als doppelt so langen russischen Ausgabe, die zusätzliche Geschichten, Essays und auch z.B. ein Kapitel mit dem Titel „Russisch-Türkisches Wörterbuch“ (mehr ethnographische Notizen zu einzelnen Begriffen als ein tatsächliches Wörterbuch) enthält. Die beiden Ausgaben im Original und in der Übersetzung, haben alleine durch die unterschiedliche Zusammensetzung eine andere Form und einen anderen Charakter.
Dennoch hat sich bei den Ausschnitten aus „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“, die in der deutschen Ausgabe enthalten sind, die Form und das literarische Genre beim Übersetzungsvorgang nicht verändert. Wie in der russischen Fassung ist die deutsche Übersetzung eine Aneinanderreihung kurzer, eher lose zusammenhängender, nur teils aufeinander aufbauender Szenen, enthält jedoch keine fiktiven Charaktere, die sich im Laufe der Erzählung entwickeln oder eine stringenten Handlung, wie es bei einem Roman der Fall wäre.
Das erste Kapitel der russischen Fassung ist in der Übersetzung das zweite. Davor wurde ein „Anfangskapitel“ eingefügt, das einem Interview mit der Autorin im Hotel Metropol von 2017 entstammt. Der Erzählstil ist darin dementsprechend auch ein anderer, und steht im Kontrast zu der kindlichen Erzählperspektive der folgenden Kapitel. Was vermutlich wie ein Teaser wirken soll, nimmt Szenen vorweg, die in späteren Kapiteln in derselben Form wiederkehren und dadurch einen (ungewollten?) Déjà-vu-Effekt haben. Vor allem aber enthält dieses eingeschobene erste Kapitel quasi eine Moral des gesamten Buches:
Ich trage die Ideen meiner Verwandten, die alle Opfer des Terrors wurden, in mir. Mir sind reiche, machtbesessene Menschen suspekt, Reichtum und Macht generell. Bis auf den heutigen Tag akzeptiere ich die humanistischen Prinzipien meiner revolutionären Vorfahren. Ich habe das alles mit der Muttermilch eingesogen. Aber ich hasse jede Art von Ideologie, jede Form von Gewalt.
In ein paar wenigen Sätzen wird hier die Erkenntnis zusammengefasst, zu der aufmerksame Leserinnen und Leser am Ende der Lektüre auch so gelangen würde. Die Übersetzung verstärkt stellenweise den Eindruck, dass es sich um ein Buch handelt, das man nicht zur Unterhaltung liest (wie man einen Roman lesen würde, wenn dieses Buch tatsächlich einer wäre), sondern der Inhalt erklärt wird. Da das Werk viele Ausdrücke, Motive und Verweise auf die russische Kultur und Geschichte enthält, steht die Übersetzerin vor der schwierigen Aufgabe, dem deutschen Publikum so gut wie möglich zu helfen, diese Anspielungen zu verstehen, ohne dabei zu weit zu gehen. Der autobiographische sachbuchhafte Charakter des Werks wird in der deutschen Fassung zusätzlich durch viele Bilder, einen Stammbaum und ein erklärendes Glossar bestärkt, auf das alles im Original aber gänzlich verzichtet wird.
Stellenweise geraten diese wohlgemeinten Hilfestellungen etwas plakativ, machen die Anekdote aber einfacher zu verstehen, wie etwa bei Einschüben in Klammer:
Я сейчас работаю между станциями метро «Баррикадная» и «Улица 1905 года». И никто не знает, что все это дела моего двоюродного деда Владимира Ильича, все названия, эти вывороченные камни мостовой и баррикады, все эти будущие скульптуры типа «Булыжник — орудие пролетариата».Ich wohne und schreibe zwischen den Moskauer Metrostationen Barrikadnaja („Barrikade“) und Straße des Jahres 1905. Und niemand weiß, dass diese Bezeichnungen von meinem Großonkel Wladimir Weger stammen, diese herausgerissenen Pflastersteine und die Barrikaden, die Skulptur Der Pflasterstein – Die Waffe des Proletariats. Bis zum heutigen Tag holpern die Moskauer Busse zwischen dem Platz des Aufstands und der Metrostation Barrikadnaja über einen historischen Pflasterstein.
Kleine Erklärungen baut die Übersetzerin auch in den Fließtext oder in Nebensätze ein. So wird etwa, wenn die bekannte Märchenfigur „Баба-яга“ (Baba Jaga) erwähnt wird, im Deutschen immer hinzugefügt, dass es sich um „die Hexe Baba Jaga“ handelt. Über ihren Urgroßvater Dedja meint sie:
малыши всегда принимали его за Деда Мороза и окружали, смеясь.Kleine Kinder hielten ihn immer für Väterchen Frost, den russischen Weihnachtsmann, umringten ihn und lachten.
Diese Hinweise sind hilfreich, doch manchmal werden Dinge erklärt, die sicherlich vielen Mitteleuropäern ein Begriff sind und wirken dann störend, denn sie verändern den Fluss der Erzählstimme. Die erklärende Erzählhaltung steht in Kontrast zu der an anderen Stellen eher unzuverlässigen Erzählerin, der man nicht jedes Wort glauben sollte oder will. Denn man fragt sich mitunter beim Lesen, ob wirklich alles, was als Erinnerung wiedergegeben, und als Fakt dargestellt wird, tatsächlich so passiert sein kann. Oder kannte Petruschewskajas Großmutter wirklich die Werke der großen russischen Dichter und Denker auswendig und sagte sie auf, weil die Familie zu dem Zeitpunkt keine Bücher hatte?
Petruschewskaja erzählt, wie man es von älteren Menschen oft kennt. Sie ist erbarmungslos realistisch und einzelne Erinnerungen sind oft in verschiedensten Zusammenhängen verknüpft. Die Geschichte von ihrer Großmutter Walentina, in die lange vor Petruschewskajas Geburt der große Dichter Wladimir Majakowski unglücklich verliebt war und dem Walentina das Herz brach, erzählt sie öfter, jedes Mal ein bisschen anders, so wie sie sich erinnert, oder so, wie es ihr vermutlich immer wieder ein bisschen anders erzählt wurde. Auch wenn sie von ihren eigenen Erinnerungen erzählt, vermittelt sie den Leserinnen und Lesern ein Gefühl für die Situation und geht nicht weiter auf unwichtige Details ein, an die sie sich selbst nicht mehr genau erinnert:
Уж что-что, а жизнь цыганского табора мы видели ежегодно, как только спадала вода в Волге. […] Не помню, как они плясали, но я плясала в детском доме точно так же.Wenn ich etwas kannte, dann war es das Leben in einem Zigeunerlager. In Kuibyschew hatte ich es, kaum dass das Wasser in der Wolga gesunken war, jedes Jahr beobachten können. […] Ich weiß nicht mehr genau, wie sie tanzen, aber im Kinderheim tanze ich genauso wie sie.
Durch die Erzählungen wird deutlich, dass mit der kleinen Ljudmila eine Frau heranwächst, die gelernt hat, Dinge zu hinterfragen und anderen Menschen nicht immer zu vertrauen. Die Literaturwissenschaftlerin Caryl Emerson sieht in diesem Weltbild die Grundlage für Petruschewskajas unverkennbare Erzählstimme:
Hers is a Dostoevskian „underground” voice, lodged inside a firstperson perspective that thoroughly distrusts the natural world as well as other human beings. Emerson, The Camebridge Introduction to Russian Literature, S. 232.Ihre Stimme ist eine „Untergrundstimme” à la Dostojewski, verpackt in eine Ich-Perspektive, die der Umwelt, sowie anderen Menschen, voll und ganz misstraut.
„Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“ ist stellenweise ähnlich grausam und grotesk wie Petruschewskajas Kurzgeschichten und Theaterstücke, von denen einige bereits ins Deutsche übersetzt wurden – viele davon ebenfalls von Antje Leetz, die mit dem literarischen Schaffen der Autorin bestens bekannt ist. Petruschewskajas grimmige und unsentimentale Erzählhaltung brach in den 1970er Jahren, als sie als Autorin immer bekannter wurde, unzählige Tabus und lange Zeit trauten sich die großen Magazine nicht, ihre Geschichten zu veröffentlichen.
Mittlerweile zählt Ljudmila Petruschewskaja zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Russlands und es ist umso erfreulicher, dass mehr und mehr ihrer Werke auch auf Deutsch erscheinen. „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“ ist ein Einblick in die schwierige Kindheit der Autorin und keineswegs durchgehend so düster, wie aufgrund der entsetzlichen Rahmenhandlung zu erwarten wäre. In der Übersetzung von Antje Leetz gehen die zusätzliche Erklärungen und Einschübe stellenweise auf Kosten des Knappen und Unsentimentalen in Petruschwskajas Erzählstimme. Die deutsche Fassung ist dafür informativ und die weniger knappe, ausschweifendere Erzählhaltung passt, wenn man sich daran gewöhnt hat, auch sehr gut zu der Vorstellung einer älteren Frau, die von früher erzählt.
Ljudmila Petruschwskaja/Antje Leetz: Das Mädchen aus dem Hotel Metropol. (Im russischen Original: Маленькая девочка из „Метрополя“: повести, рассказы, эссе.)
Schöffling & Co. 2019 ⋅ 312 Seiten ⋅ 24 Euro
www.schoeffling.de/buecher/ljudmila-petruschewskaja/das‑m%C3%A4dchen-aus-dem-hotel-metropol