Die kanadische Dichterin Anne Carson ist eine Übersetzerin, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Als Professorin der klassischen Philologie hat sie beispielsweise Fragmente des Stesichorus, der als einer der ersten griechischen Dichter epische Stoffe in eine lyrische Form brachte, ins Englische übersetzt. Die Bruchstücke, die von seinem Werk erhalten sind, erzählen unter anderem die Geschichte von Geryon (in der Geryoneis), einer monsterhaften Gestalt, die oft mit mehreren Körpern, Köpfen und Flügeln dargestellt wird. Als Sagengestalt ist Geryon vor allem für seine Rolle in der 10. Aufgabe des Herakles bekannt. Diesem wurde aufgetragen, die rote Stierherde Geryons zu rauben. Im Kampf tötet Herakles ihn schließlich mit Hilfe eines im Blut der Hydra getränkten Pfeils.
In ihrem nun unter dem deutschen Titel Rot beim S. Fischer Verlag erschienenen Werk überträgt Carson den mythischen Stoff in die Gegenwart. Mehr noch: Sie übersetzt ihn für eine Leserschaft des 21. Jahrhunderts. Carson ist dabei keinesfalls die Erste, die sich literarisch mit dem Mythos auseinandersetzt. Denn Geryon kommt auch in Dantes Inferno vor, wo er auf seinen Schultern den Dichter gemeinsam mit Vergil vom siebten in den achten Höllenkreis befördert. Schon Dantes Charakterisierung Geryons hatte relativ wenig mit den griechischen Darstellungen zu tun. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass Geryon gut siebenhundert Jahre später bei Carlson als launiger Teenager auftaucht, der mit Herakles auf einer Art Selbstfindungstrip durch Südamerika unterwegs ist.
Dass dies nicht zu abgedroschen wirkt, liegt vor allem an Anne Carsons Form und Sprache: Sie ist nicht nur dafür bekannt, alte Stoffe in die Moderne zu versetzen, sondern auch für ihre Missachtung jeglicher Genre-Grenzen und des sehr freien Mischens von Kunstformen. Carson ist eben nicht nur Philologin – sie arbeitet nebenbei auch als Dichterin, Essayistin, Kritikerin, und verbindet in ihren bislang erschienenen literarischen Werken Prosa, Gedichtformen, dramatische Elemente, Literaturkritik und Übersetzungen. Rot enthält die von Carson übersetzen Fragmenten der Geryoneis, eine essayistische Einführung, verschiedene Anhänge und ein fiktives Interview mit Stesichorus. Das subversive Spiel mit verschiedenen Genres und die ungehemmte Modernisierung antiker Texte machen Carson zu einer der experimentellsten und interessantesten englischsprachigen Dichterinnen ihrer Generation.
Rot behandelt Geryons Geschichte in Form zweier Romane, die in Amerika separat veröffentlicht wurden, in Deutschland aber nun gemeinsam in der Übersetzung von Anja Utler herausgebracht wurden. In gewisser Weise handelt es sich vor allem bei dem ersten Teil, Autobiografie von Rot, um eine Coming-of-Age-Geschichte par excellence. Zudem handelt es sich hierbei um eine Neuübersetzung. Bereits 2001 wurde das Werk in der deutschen Übersetzung von Karen Lauer, ebenfalls unter dem Titel Rot, veröffentlicht. Allerdings enthielt diese Ausgabe noch nicht die Fortsetzung Red Doc<, die erst 2013 veröffentlicht und nun von Utler erstmalig übersetzt wurde. In dem zweiten Teil erzählt Carson die Geschichte Geryons weiter, wie er erwachsen wird, altert und sich gescheiterten Beziehungen und dem Verfall des eigenen Körpers stellen muss.
Bei Autobiografie von Rot und Red Doc< handelt es sich nicht um Romane in klassischer Hinsicht. Carson hat nämlich für den Stoff die Form des Versromans gewählt. Während der Versroman in Deutschland vorrangig mit der höfischen Dichtung des Mittelalters assoziiert wird, hat sich diese literarische Form anderswo großer Beliebtheit erfreut. Alexander Pushkins Eugene Onegin gilt dabei als Wegbereiter des modernen Versromas. Anne Carsons Versromane sind weder gereimt (mit Ausnahme einiger Binnenreime), noch folgen sie einem bestimmten Metrum. Trotzdem geben diese Romane durch die Verseinteilung, die immer wieder Sinneinheiten durchbrechen, eine strenge Form vor.
So hat jedes Wort in jeder von Carsons Zeilen seinen festen Platz. Dementsprechend können die zuweilen befremdlichen Konstruktionen in der deutschen Satzstellungen nicht immer beibehalten werden. Dies zeigt sich bereits in den von Carson aus dem Griechischen übersetzten Fragmenten des Stesichorus, die wiederum von Utler direkt aus dem Englischen ins Deutsche übertragen werden. Es handelt sich also um eine Doppelübersetzung, die deutlich macht, wie stark sich Utler an Carsons strenger Satzstellung orientiert und auch orientieren muss, um der außergewöhnlichen Form gerecht zu werden:
The red world And corresponding red breezes / Went on Geryon did notDie rote Welt Und die zugehörigen roten Brisen / Gingen weiter Geryon nicht
Die beiden Versromane sind eine überaus lohnenswerte Lektüre, die von der stilistisch kohärenten und zuweilen durchaus poetischen Übersetzung von Anja Utler lebt. Höhepunkt ist dabei die Erstübersetzung des Red Doc<. Die Fortsetzung der Geschichte liefert inhaltlich zwar wenig interessantes; in formaler und sprachlicher Hinsicht hat sie jedoch einiges zu bieten. Das Experimentelle wird erweitert und noch freier ausgeführt. Es kommen Strophen hinzu, die der klassischen Gedichtform ähneln; an anderen Stellen werden die Zeilen verkürzt und wie Spalten eines Zeitungsartikels formatiert. Dies sorgt allein schon optisch für eine ungewohnte Leseerfahrung, und liefert einige Highlights dieser Übersetzung. Dazu gehören die Übertragungen der „Wife of Brain“-Gedichte, die mit dem Titel „Frau von Hirn“ sehr treffend übersetzt werden. Ein schönes Beispiel ist dieses:
Wife of Brainwe are the Wife of BrainWe enter we tell youat this point you have little grounds to complain we sayto their placesA red man unfolding his wings is how it begins then the lightsspins it like a play omnescome on or go off on the stageFrau von HirnAuftritt wir und wir sagen dirwir sind die Frau von Hirngibt nichts zu lamentieren bis hierhin wir sagenein roter Mann der seine Flügel schwingt steht am Beginn und dann gehendie Lichter an oder aus oder die Bühnerotiert es ist wie ein Stück omnesan ihre Plätze
Carsons zuweilen sperrige, aber stets interessante Sprache lässt so einige ungewöhnliche Bilder entstehen. Das „tickend rote Taxi des Albtraums“ (im Original „the ticking red taxi of the incubus“) kommt beispielsweise in einem der von Carson übersetzten Stesichorus-Fragmente vor und lässt auch ohne Kenntnisse des Altgriechischen erahnen, wie frei und spielerisch Carson übersetzt und den Stoff verarbeitet hat. Die Übertragung dieser zuweilen extravaganten Bilder, die zudem noch in eine besondere Form gebracht werden müssen, dürften wohl für jede Übersetzerin eine willkommene Herausforderung sein. Utler ist es bemerkenswert gut gelungen, ähnliche, adäquate, oder gar gänzlich neue Bilder in der deutschen Sprache zu finden.
Leider schmälern jedoch zwei Aspekte den Gesamteindruck dieser ansonsten bemerkenswerten Übersetzung. Je weiter man sich in die Lektüre vertieft, umso mehr werden sprachliche Unfeinheiten und technische Problem dieser Übersetzung deutlich. Es beschleicht einen der Verdacht, dass sie – obwohl selbstbewusst und gekonnt – stilistisch noch eleganter hätte ausfallen können. Kurzum: Es fehlt der deutschen Übersetzung an jener dichterischen Finesse, die das Original so besonders macht.
Als Beispiel hierfür soll die Übersetzung des zweiten Kapitels mit dem Titel „each“ dienen. In der Neuübersetzung wird das Wort „each“, das sich thematisch als roter Faden durch das Kapitel zieht, mit „für sich“ übersetzt. Dieses „für sich“ wird dann erneut in einem Reim-Spiel aufgegriffen:
He clothed himself in this strong word each.
He spelled it at school on the blackboard (perfectly) with a piece Of red silk chalk
He thought softly
of other words he could keep with him like breach and screach.
Er kleidete sich in diese starken Wörter für sich.
In der Schule schrieb er sie (richtig) mit einem Stück rotseidiger Kreide an die Tafel.
Weich dachte er an weitere Wörter,
die er bei sich haben könnte wie Pfürsich und für Fische.
In der Übersetzung entstehen aus einem Wort zwei. In dem Kontext dieses Werkes erscheint es allerdings umständlich, da Carson immer wieder mit dem Wort „each“ arbeitet und seine singuläre Bedeutung thematisiert. Das hat zur Folge, dass aus der Phrase „this strong word each“ im Deutschen der Plural „diese starken Wörter“ entsteht. Auch auf den Inhalt des Textes bezogen, erscheint diese Änderung misslungen, da die Identifizierung des Protagonisten mit nur einem Wort („he clothed himself …“) plausibler erscheint als mit zwei Wörtern.
Zudem hinkt der Reim „Für sich – Pfürsich – für Fische“. Der Wortgehalt ist dabei zweitrangig; es geht an dieser Stelle primär um den Klang, der im Englischen die Wörter merklich besser verbindet: „each-breach-screach“. Entscheidend ist hier der Diphtong „ea“, der eine Brücke zwischen diesen Wörtern schlägt, und die gleichförmige Struktur der Wörter. Im Deutschen entsteht zwar auch ein Wortspiel, der Reim wird jedoch nicht gänzlich ausgeführt, so dass der Text an dieser Stelle holprig wirkt.
Zudem wird die Übersetzung hier dem Inhalt nicht gänzlich gerecht, der das assoziative Denken des Protagonisten mittels des Wortklangs darstellt. In der Erstübersetzung von Karen Lauer wurde „each“ mit „jeder“ übersetzt und dann mit „Feder“ und „Gezeter“ gereimt, was deutlich besser funktioniert. Wie umständlich die Übersetzung von „each“ mit „für sich“ ist, zeigt auch der folgende Satz:
She answered, Each means like you and your brother each have your own room.Sie antwortete, Für sich heißt etwas wie von euch beiden hat jeder ein Zimmer für sich.
Im deutschen Satz wird neben „für sich“ zusätzlich mit „jeder“ gearbeitet, um die Bedeutung hervorzuheben. Es wirkt jedoch mühsam, vor allem im Vergleich mit der Erstübersetzung, in der das Wort „jeder“ genügt: „Jeder das heißt zum Beispiel du und dein Bruder habt jeder ein eigenes Zimmer.“ Die Prägnanz der englischen Sprache ist bekanntlich nicht immer elegant ins Deutsche übertragbar. In einem literarischen Werk, in dem aufgrund der formalen Bedingungen ökonomisch mit Sprache umgegangen wird, fallen solche umständlichen Konstruktionen jedoch umso stärker auf.
Irritierend ist in der deutschen Übersetzung außerdem die Kommasetzung. Im Original sind Punkte am Satzende zwar durchgängig vorhanden, Kommas werden jedoch überaus spärlich verwendet, zumeist nur bei additiven Konstruktionen und zur Hervorhebung von direkter Rede. Es war sicherlich Absicht, diesen freien Umgang mit der Zeichensetzung auch ins Deutsche zu übertragen, allerdings ruft dies im Deutschen deutlich schneller Verwirrungen hervor als im Englischen. Das liegt vor allem daran, dass in der englischen Sprache insgesamt weniger Kommas benötigt werden als in der deutschen. Folglich fällt deren An- und Abwesenheit deutlich weniger auf. In der deutschen Übersetzung finden sich beispielsweise Verse ohne jegliche Kommasetzung, wie „Aus einer Holzlatte die er im Keller gefunden hatte baute er eine Klammer band sie sich auf den Rücken und seine Flügel daran fest“. Diese werden wiederum gefolgt von Versen mit korrekter Kommasetzung: „Nicht das Foto verstört dich, sondern dass du die Fotografie als solche nicht verstehst“. Da im Deutschen jeder zweite Satz tatsächlich auch ein Komma benötigt, fällt dieser Wechsel in der Übersetzung wesentlich stärker auf und lenkt letztendlich vom Inhalt ab.
Vor allem der letzte Aspekt ist bedauernswert, da Utler mit Rot eine großteils harmonische, effektive und stimmige Übersetzung gelungen ist, die das Experimentelle und Spielerische an Carsons Schreiben in der deutschen Sprache widerspiegelt. Zwar fehlt zuweilen die poetische Raffinesse, die diese sehr gute Übersetzung zu einer großartigen machen würde, trotzdem sollte man es sich auf keinen Fall entgehen lassen, eine der größten englischsprachigen Dichterinnen der Gegenwart auf Deutsch zu erleben.
Anne Carson/Anja Utler: Rot – Zwei Romane in Versen (im Original: The Autobiography of Red und Red Doc>)
S. Fischer Verlag 2019 ⋅ 320 Seiten ⋅ 24 Euro