Ich muss gestehen, dass ich mir einen großen Teil meines Leserlebens kaum Gedanken über die immens wichtige und anspruchsvolle Arbeit von Übersetzern gemacht habe. Was vor dem Hintergrund, dass ich geschätzt zu drei Vierteln übersetzte Literatur lese, mir selbst inzwischen unerklärlich ist. Seit ich in meinem Blog Kaffeehaussitzer über Bücher, Literatur und Leseerlebnisse schreibe und dadurch auch in Kontakt mit Übersetzerinnen und Übersetzern gekommen bin, ist mir deren sprachliche Leistung und literarische Bedeutung erst richtig klar geworden. Deshalb habe ich auch nicht lange überlegt, als mich die Redaktion von TraLaLit gefragt hat, ob ich einen Gastbeitrag über eine Übersetzung schreiben möchte, die mir besonders wichtig ist. Ausgewählt habe ich eine Textstelle, die mich schon seit vielen Jahren begleitet und die mir sehr viel bedeutet.
Sie stammt aus Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde:
Du magst wähnen, du ständest sicher da und seist stark.
Aber ein zufälliger Farbton in einem Zimmer
oder ein Morgenhimmel,
ein besonderer Duft,
den du einst geliebt hast und der tiefe Erinnerungen mit sich führt,
eine Zeile eines vergessenen Gedichts, die dir wieder einfällt,
ein paar Takte aus einem Musikstück, das du nicht mehr gespielt hast,
ich sage dir,
von derlei Dingen hängt unser Leben ab.
Übersetzt wurde der Text von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer im Jahr 1909. Und auch nach 110 Jahren lösen diese Worte regelmäßig ein melancholisches Innehalten bei mir aus. Es geht um Gefühle, die das Menschsein ausmachen. Erinnerungen, die einen prägten, ohne dass wir es gemerkt haben; die aber stets da sind, tief in uns. Und dieser kurze Text lässt sie vor dem inneren Auge erscheinen. Bei mir sind es zum Beispiel Gerüche, die untrennbar zu meiner Kindheit gehören: Das brackige Wasser an der Hafenmole unserer kleinen Stadt am Bodensee, der Rauch der Herbstfeuer auf den Feldern und die Duftmischung aus Papier und Bohnerwachs in der Stadtbibliothek, die in einem uralten Haus am Marktplatz untergebracht war. Es gibt Musik, die einen gedanklich wieder zurückkatapultiert in eine längst vergangene Zeit; bei mir ist es etwa der Song „Alive“ von Pearl Jam, der mich das ganze Jahr 1993 über begleitet hat. Ein persönlicher Soundtrack für ein paar wichtige Monate meines Lebens.
All diese – und noch viel mehr – Erfahrungen und Erinnerungen sind in den paar Zeilen von Oscar Wilde enthalten. Dass sie so auf mich wirken können, verdanke ich der Übersetzung. Es beginnt gleich mit dem ersten Satz: „Du magst wähnen, du ständest sicher da und seist stark.“Er drückt etwas Filigranes und Ungewisses aus, lässt erahnen, wie unsicher und zerbrechlich unser Leben sein kann. Und lädt ein zum Weiterlesen, macht neugierig auf das, was kommen mag. „Du magst wähnen.“ Kein modernes Deutsch, aber zeitlos schön.
Das Bildnis des Dorian Gray ist im Laufe der Jahrzehnte etliche Male übersetzt worden und ich habe mir einige der moderneren Versionen am Beispiel dieser Textstelle etwas genauer angeschaut.
„Sie können sich sicher glauben und für stark halten“ übersetzt 1982 Christine Hoeppener und schafft mit dem „Sie“ eine Distanz zu den Lesern.
„Du magst dich sicher wähnen und dich für stark halten“ heißt es 1992 in der Version von Ingrid Rein. Das „wähnen“ ist übernommen, doch das filigrane Satzgefüge der Übersetzung von 1909 vermisse ich.
„Du magst dich sicher fühlen und dich für stark halten“ lautet 2014 die ähnliche Version von Eike Schönfeld.
„Du magst glauben, dass du sicher und stark bist“ schreibt 2013 Lutz-Werner Wolff, dessen Übersetzung radikal anders ausfällt. So radikal, dass ich sie hier im Ganzen zitiere:
Du magst glauben, dass du sicher und stark bist.
Aber ich sage dir, unser Leben hängt von ganz anderen Dingen ab:
Von den Farbnuancen in einem Zimmer oder am Morgenhimmel;
von einem bestimmten Duft,
den du einmal geliebt hast und der subtile Erinnerungen mit sich bringt;
von einer Zeile aus einem Gedicht, die dir wiederbegegnet;
oder einer Kadenz aus einem Musikstück, das du lange nicht mehr gespielt hast.
Ich finde, dass der Text in dieser Version nicht funktioniert. Alleine die Umstellung des Satzteils „unser Leben hängt von ganz anderen Dingen ab“ an den Anfang zerstört die Wirkung. Wenn es bei Lachmann/Landauer zum Ende heißt: „Von derlei Dingen hängt unser Leben ab“ ist dies eine Essenz, auf die das Gesagte hinsteuert und die alle genannten Beispiele noch einmal hell strahlen lässt. Und zum Nachdenken über eigene Erlebnisse geradezu verführt.
Für mein Sprachgefühl ist die Übersetzung von Hedwig Lachmann und Gustav Landauer perfekt. In den Sätzen schwingt ein Wissen um die Zerbrechlichkeit unserer Gewissheiten mit, das ich bei den anderen Versionen nicht wiederfinden kann, das irgendwo auf dem Weg verloren gegangen ist.
Das alles hat mir klar gemacht, welch große Verantwortung Übersetzerinnen und Übersetzer tragen. Wie sehr sie einen Text prägen können und wie sehr sie durch ihre Arbeit unsere Leseerlebnisse beeinflussen. Daher möchte ich diesen Beitrag Hedwig Lachmann und Gustav Landauer widmen, die 1909 noch nicht wissen konnten, wie sehr sich ihre Welt verändern und wie kurz ihr Leben sein würde. Beide gehörten zu den wenigen deutschen und europäischen Intellektuellen, die 1914 nicht in die allgemeine Kriegsbegeisterung einstimmten, sondern allen Widerständen zum Trotz versuchten, ihre pazifistischen Meinungen zu äußern.
Am 21. Februar 1918 starb Hedwig Lachmann an einer Lungenentzündung, geschwächt von der schlechten Versorgungslage im vierten Kriegsjahr. Gustav Landauer – Zeit seines Lebens sozialistischer Visionär – sah 1919 die Möglichkeit zur Schaffung einer besseren Welt gekommen und war einer der Hauptakteure der Münchener Räterepublik. Er legte allerdings seine Ämter nieder, als die Einflussnahme der bolschewistischen Aktivisten die ursprüngliche revolutionäre Bewegung diskreditierte. Kurz darauf marschierten reaktionäre Freikorpstruppen in München ein; das politische Experiment ging in einer Gewaltorgie unter. Landauer wurde wie zahlreiche andere Beteiligte misshandelt und erschossen.
Die sprachliche Leistung der beiden berührt mich noch nach über einem Jahrhundert.
Und wie könnte man diesen Beitrag besser beenden, als mit dem Original des Textes, um den es die ganze Zeit ging. Oscar Wilde hat Das Bildnis des Dorian Gray 1890 veröffentlicht, es ist sein einziger Roman geblieben.
You may fancy yourself safe, and think yourself strong.
But a chance tone of colour in a room or a morning sky,
a particular perfume that you had once loved
and that brings subtle memories with it,
a line from a forgotten poem that you had come cross again,
a cadence from a piece of music that you had ceased to play –
I tell you, Dorian, that it is on things like these that our lives depend.
Uwe Kalkowski ist seit 1993 in in der Buchbranche tätig und kennt sie aus den unterschiedlichsten Perspektiven. In seinem Blog Kaffeehaussitzer schreibt er über Bücher, Literatur und Leseerlebnisse. Bild: © Vera Prinz
Oscar Wilde/Hedwig Lachmann/Gustav Landauer: Das Bildnis des Dorian Gray (Im englischen Original: The Picture of Dorian Gray)
Insel Taschenbuch ⋅ 298 Seiten ⋅ 9 Euro