Tod­brin­gen­de Blumen

Paul Zifferers Übersetzung der Décadence-Erzählung „Le Mortis“ von Rachilde schildert in alles überwuchernder Sprache und mit vielfältigen intertextuellen Anspielungen das Leben und Sterben während der mittelalterlichen Pest in Florenz. Von

Schönheit und Verderben liegen nicht weit auseinander, wie hier in Adriaen van Utrechts "Vanitas - Stillleben mit Strauß und Schädel" (ca. 1642). Quelle: WikiCommons

In Qua­ran­tä­ne-Zei­ten bringt der Griff ins Bücher­re­gal auch ver­ges­se­ne Wer­ke der Epi­de­mie-Lite­ra­tur und deren eben­so ver­ges­se­ne Über­set­zun­gen ans Licht. Zum Bei­spiel die Erzäh­lung Der Gezeich­ne­te der fran­zö­si­schen Autorin Rachil­de, in der es um Leben und Ster­ben des letz­ten Spros­ses eines vor­neh­men Adels­ge­schlechts wäh­rend der Pest­zeit in Flo­renz um 1348 geht.

Rachil­de (Pseud­onym für Mar­gue­ri­te Eyme­ry, 1860–1953) stamm­te aus dem Péri­g­ord. Sie war die ein­zi­ge Toch­ter eines Ritt­meis­ters und einer Mut­ter aus dem vor­neh­men Pro­vinz­bür­ger­tum. Eigent­lich wäre sie lie­ber ein Jun­ge gewe­sen. Sie begann früh zu schrei­ben, ging nach Paris und fei­er­te schon mit zwan­zig Jah­ren ers­te lite­ra­ri­sche Erfol­ge. Berühmt wur­de sie mit der Ver­öf­fent­li­chung des Déca­dence-Romans Mon­sieur Vénus, einer Trans­se­xua­li­täts­ge­schich­te, die wegen ihres als obs­zön emp­fun­de­nen Inhal­tes Anstoß erreg­te. Nach­dem Mon­sieur Vénus 1884 in Brüs­sel bei einem Ver­lag für ero­ti­sche Lite­ra­tur erschie­nen war, wur­de Rachil­de zu einer Geld- und Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt, die sie aller­dings nie antrat.

Den Ruf einer Skan­dal­au­torin wur­de sie nicht mehr los: Sie trug Män­ner­klei­dung, ließ auf ihre Visi­ten­kar­ten den Zusatz „hom­me de let­t­res“ dru­cken und erhielt die Bei­na­men „Köni­gin der Déca­dence“ oder „Madame Bau­de­lai­re“. Auch nach ihrer Hei­rat mit Alfred Val­let­te, dem Her­aus­ge­ber des Mer­cu­re de France, war Rachil­de noch unge­heu­er pro­duk­tiv: Ihr Werk umfasst über 60 Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Thea­ter­stü­cke, Erin­ne­run­gen. Die Roma­ne tra­gen ver­hei­ßungs­vol­le Titel wie La Mar­qui­se de Sade oder Madame Ado­nis und waren bei Erschei­nen sehr erfolg­reich. Den­noch ist Rachil­des Œuvre heu­te nur noch Ver­trau­ten der soge­nann­ten Déca­dence-Lite­ra­tur bekannt.

Zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts reich­te Rachil­des Ruhm auch über Frank­reichs Gren­zen hin­aus. Damals wur­den eini­ge ihrer Wer­ke ins Deut­sche über­setzt. Sie wur­den spä­ter nicht mehr auf­ge­legt, mit Aus­nah­me der 1989 ver­öf­fent­lich­ten Kurz­ge­schich­ten­samm­lung Der Pan­ther (hrsg. von Susan­ne Farin, Bou­vier Ver­lag). Der Band ent­hält auch die 1911 durch den öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler Paul Zif­fe­rer (1879–1929) ins Deut­sche über­tra­ge­ne Erzäh­lung Der Gezeich­ne­te, deren fran­zö­si­sches Ori­gi­nal unter dem Titel Le Mor­tis 1900 in Rachil­des Con­tes et nou­vel­les sui­vi du thé­ât­re erschie­nen war.

Der Hof­rat Dr. iur. et phil. Paul Zif­fe­rer war Mit­glied der am Ästhe­ti­zis­mus ori­en­tier­ten Autoren­grup­pe Jung-Wien und schrieb ab 1910 regel­mä­ßig feuil­le­to­nis­ti­sche Bei­trä­ge für die Neue Freie Pres­se in Wien. Nach Kriegs­en­de 1918 wur­de er Pres­se­at­ta­ché der Öster­rei­chi­schen Gesandt­schaft in Paris und war 1926 Teil der öster­rei­chi­schen Dele­ga­ti­on auf dem Welt­kon­gress der dra­ma­ti­schen Schrift­stel­ler und Kom­po­nis­ten in Paris. Neben sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Tätig­keit, die Roma­ne (Der klei­ne Gott der Welt) und Erzäh­lun­gen, aber auch ein dra­ma­ti­sches Gedicht (Die hel­le Nacht) umfasst, ist heu­te noch sein Brief­wech­sel mit Hugo von Hof­manns­thal bekannt. Außer­dem trat er durch die Über­set­zung eini­ger frü­her Wer­ke von Flau­bert her­vor – Ste­fan Zweig schreibt dazu:

Paul Zif­fe­rer hat mit der Sorg­sam­keit und mit der Ehr­furcht vor dem Wort, die jedem zu eigen ist, der Flau­bert ver­stan­den hat, die frü­hen Arbei­ten übertragen […].

Die von ihm über­tra­ge­nen Rachil­de-Erzäh­lun­gen erschie­nen 1911 im Sam­mel­band Die Gespens­ter­fal­le. Selt­sa­me Geschich­ten von Rachil­de im Ver­lag J.C.C. Bruns in Min­den. Alle ande­ren deut­schen Über­set­zun­gen von Wer­ken Rachil­des besorg­te Ber­ta Huber.

Rachil­de hat in ihren Wer­ken fast jedes Déca­dence-The­ma auf­ge­grif­fen: Sub­ver­si­on der Geschlech­ter­rol­len, Andro­gy­nie, deka­den­te Typen wie femme fata­le und femme fra­gi­le, Sadis­mus, Inzest und – als Refe­renz für die gras­sie­ren­de Spät­zeit­stim­mung – den Rück­griff auf ver­gan­ge­ne Epo­chen: das Rom der Spät­an­ti­ke, Byzanz oder, wie in Der Gezeich­ne­te, das Ita­li­en des Renais­sance-Huma­nis­mus. Eine Refe­renz auf die Anti­ke ist auch der latei­nisch klin­gen­de Titel Le Mor­tis des fran­zö­si­schen Ori­gi­nals. Es han­delt sich bei „mor­tis“ um den Geni­tiv des lat. mors („Tod“), wes­halb der Titel wört­lich mit „Der des Todes ist“ zu über­set­zen wäre, oder auch mit „Der Tod­ge­weih­te“ – man könn­te sich fra­gen, wes­halb sich Zif­fe­rer nicht für die­se, dem fran­zö­si­schen Ori­gi­nal nähe­re Über­set­zung ent­schie­den hat. Mög­li­cher­wei­se woll­te er mit „Der Gezeich­ne­te“ eine Asso­zia­ti­on zum christ­li­chen Kon­text her­stel­len: Wenn kurz vor dem Tod des Prot­ago­nis­ten Bluts­trop­fen aus den Pest­ma­len auf sei­ner Stirn quel­len, lässt das an die Dor­nen­kro­ne Chris­ti denken.

Schon bei der Lek­tü­re des ers­ten Sat­zes (im Fran­zö­si­schen beginnt er mit Aus­las­sungs­zei­chen) denkt man an Bau­de­lai­res Fleurs du mal:

… puis ce fut le tour des fleurs.
Dann also kam die Rei­he an die Blumen.

Die Blu­men wach­sen und sprie­ßen, sie erblü­hen und erglü­hen aller­or­ten. Sie wer­den ver­mensch­licht, sie „stürm­ten zur Stadt empor, erfüll­ten sie mit ihrer Rase­rei“, das Geiß­blatt kriecht „vor­wärts wie auf Kral­len­tat­zen“. Doch wie kommt es zu die­sem zügel­lo­sen Aus­bruch der Blu­men? Ihre Glut, ihren ver­bo­te­nen Duft bezie­hen sie aus dem „Dung mensch­li­cher Lei­ber“. Und so bemerkt der Leser schau­dernd, dass die­se Blu­men ihre Kraft aus den sich auf­lö­sen­den, von der Pest dahin­ge­raff­ten Leich­na­men bezie­hen, dass das neue Leben erst aus dem Tod ersteht. Flo­renz ist eine ver­las­se­ne Stadt, in der „nur noch weni­ge Schat­ten umher­irr­ten, Gespens­ter in Men­schen­ge­stalt, um deren klap­pern­de Glie­der ver­faul­te Lum­pen schlot­ter­ten“ („où n’erraient que quel­ques rares fan­tô­mes, des lar­ves d’hommes s’enveloppant de chif­fons pourris“).

Doch plötz­lich erwacht der infol­ge der Pan­de­mie still gewor­de­ne und aus­ge­stor­be­ne Ort zu neu­em Leben, weil über­all Blu­men sprie­ßen, die Rachil­de in allen Facet­ten mit präch­ti­gen und expres­si­ven Adjek­ti­ven schil­dert. Der Erzäh­lung haf­tet etwas Mär­chen­haf­tes, über­la­den Ori­en­ta­lis­ti­sches an, die Blu­men schei­nen arti­fi­zi­ell, las­sen an Kunst­blu­men oder mor­bi­de Still­le­ben den­ken und reflek­tie­ren so eben­falls die Spät­zeit­stim­mung des aus­ge­hen­den 19. Jahrhunderts.

Die Über­set­zung trans­por­tiert das Cha­rak­te­ris­ti­sche der Déca­dence-Lite­ra­tur vor­züg­lich über Voka­bu­lar und Syn­tax. Zif­fe­rer gibt die vie­len Nuan­cen in den Beschrei­bun­gen durch ent­spre­chen­de Adjek­ti­ve wie­der, ersetzt aus­ge­fal­le­ne Wör­ter des Ori­gi­nals durch eben­sol­che im Deut­schen („Schind­an­ger“ für „char­nier“) oder greift zu Neo­lo­gis­men („Glu­ten­bli­cke“ für „regards per­çants de leur lumiè­re arden­te“). Man­che For­mu­lie­rung wür­de man heu­te so nicht mehr wäh­len, weil sie zu inter­pre­tie­rend und nicht nah genug am Text ist; ein Bei­spiel hier­für ist:

Dans l’amoureux incen­die d’un ciel de juin …
Wäh­rend zärt­lich heiß der Him­mel flammte …

Aller­dings waren sol­che, heu­te pathe­tisch klin­gen­den For­mu­lie­run­gen zu der Zeit, in der die­se Über­set­zung ent­stan­den ist, nicht unüb­lich. Eini­ge län­ge­re, beschrei­ben­de Absät­ze wur­den mehr­fach unter­teilt, ver­mut­lich um den Text ins­ge­samt les­ba­rer zu machen, ein heu­te nur schwer nach­zu­voll­zie­hen­der Kom­pro­miss. Zum Glück ver­sucht Zif­fe­rer aber nicht, die lan­gen ver­schach­tel­ten Sät­ze auf­zu­lö­sen und aus einem Satz meh­re­re Sät­ze zu machen, son­dern hält an der oft kom­pli­zier­ten Syn­tax des fran­zö­si­schen Ori­gi­nals fest.

Als ers­te ver­brei­ten sich die in allen Farb­schat­tie­run­gen schil­lern­den Rosen. Im Gegen­satz zu den von der Pest ent­kräf­te­ten und sich dem Unter­gang nahe füh­len­den Men­schen stellt sich nichts dem Leben der Blu­men ent­ge­gen, die anschei­nend nur dar­auf gewar­tet haben, sich zu befrei­en. Sie über­wu­chern alles, kein Bau­werk hält ihnen stand:

Une espè­ce rac­cro­cheu­se s’étant intro­duite dans un clo­cher, ayant lan­cé, par une ogi­ve, la forêt de ses épi­nes féro­ces s’agrippa le long d’une cor­de, la fit ondu­ler sous le poids de ses jeu­nes têtes […]
Eine Klet­ter­ro­se gar, die, zu einem Kirch­turm sich empor­win­dend, ihre durch den Spitz­bo­gen star­ren­den Dor­nen bis zum Glo­ckenstrang vor­streck­te, brach­te die­sen unter der Last der sich anklam­mern­den Knos­pen lei­se zum Schwingen.

Dann läu­ten die Rosen in poe­ti­scher Anthro­po­mor­phi­sie­rung zum Sturm, über­wach­sen die Mau­ern, brin­gen sie zum Ein­sturz und befrei­en sich damit von der Tyran­nei alles Mensch­li­chen. Die ent­fes­sel­te Natur gewinnt in fri­vo­ler Wol­lust die Ober­hand. Durch das eigen­stän­di­ge Leben wir­ken die Blu­men uner­war­tet dämo­nisch, das Furcht­ein­flö­ßen­de und der Ein­bruch des Über­na­tür­li­chen in die Rea­li­tät weist die Erzäh­lung als phan­tas­ti­sche Lite­ra­tur aus. Schließ­lich ent­wi­ckeln die Blu­men eine so unbän­di­ge Kraft, dass sie alles von Men­schen­hand Gemach­te zer­stö­ren und am Ende sogar indi­rekt als Pries­ter einer neu­en, ande­ren Zeit erscheinen:

[Elles] étreig­nant les colon­net­tes, effri­t­ant les stucs, les pein­tures, rebon­dis­sant en cas­ca­des de tous les angles clairs des cor­ni­ches […] pour y balan­cer des encen­soirs victorieux.
[Sie] umklam­mer­ten die Säu­len und Fens­ter­kreu­ze, brö­ckel­ten den Stuck von den Wän­den, über­wu­cher­ten alle Gemäl­de, spran­gen in leuch­ten­den Kas­ka­den von allen Kranz­ge­sim­sen […] und es war, als sähe man sie allent­hal­ben sieg­reich Weih­rauch­kel­che schwenken.

Die Stadt aus­ge­stor­ben, die Kir­chen geschlos­sen. Über­all lie­gen in Auf­lö­sung befind­li­che Leich­na­me, die weni­gen übrig geblie­be­nen Ster­ben­den dro­hen unter dem Blu­men­tep­pich und betäubt vom betö­ren­den Blü­ten­duft end­gül­tig zu ersti­cken. Nach der aus­führ­li­chen Beschrei­bung der Flo­ra fin­det die Schil­de­rung ihren Gip­fel in der Erwäh­nung einer mit Ver­we­sung asso­zi­ier­ten Fau­na („sma­rag­de­ne Flie­gen“). In einer Pas­sa­ge wie der fol­gen­den zeigt sich Rachil­des Mut zum Skandal:

Des vols de papil­lons blancs, emblê­mes de can­deur, délais­sant la fadeur des corol­les, s’acharnaient sur les yeux liqui­des des cadav­res, buvant l’eau des âmes du bout de leur peti­te trom­pe volup­tueu­se et lui trou­vant un goût sucré.
Wei­ße Schmet­ter­lin­ge, Sinn­bil­der der Unschuld, die sich an der scha­len Spei­se der Blu­men­kel­che satt­ge­trun­ken hat­ten, stürz­ten sich jetzt auf die feuch­ten Augen der Leich­na­me, saug­ten mit ihren schlan­ken, wol­lüs­ti­gen Rüs­seln den Inhalt mensch­li­cher See­len aus und fan­den ihn vol­ler Süßigkeit.

Eine so scho­ckie­ren­de Ver­bin­dung des Gegen­sätz­li­chen – eine Blu­me als Sym­bol des Schö­nen und ein Ske­lett als Sym­bol des Absto­ßen­den – fin­det sich auch in Bau­de­lai­res Gedicht Une Cha­ro­gne (Ein Aas, deutsch von Fried­helm Kemp):

Et le ciel regar­dait la car­cas­se super­be / Com­me une fleur s’épanouir. / La puan­teur était si for­te, que sur l’herbe / Vous crû­tes vous évanouir.
Und der Him­mel sah, wie präch­tig das Gerip­pe sich gleich einer Blu­me hob und auf­tat. So stark war der Gestank, daß du ohn­mäch­tig ins Gras zu sin­ken drohtest.

In die glei­che Rich­tung zielt der Ver­gleich des abge­schla­ge­nen Kop­fes einer Mär­ty­re­rin mit einer Ran­un­kel in Bau­de­lai­res Une Mar­ty­re.

Mit dem The­ma der Heim­su­chung durch die Pest greift Rachil­de das Motiv des als Sün­den­pfuhl gel­ten­den Molochs Groß­stadt auf. Stra­fe folgt auf Ver­bre­chen, Krank­heit auf Aus­schwei­fung. Auch die ver­las­se­ne Stadt steht für das Spät­zeit­ge­fühl der Déca­dence, berühmt gewor­den durch den 1892 erschie­ne­nen Roman Bru­ges-la-mor­te des bel­gi­schen Sym­bo­lis­ten Geor­ges Roden­bach. Die aus­ge­stor­be­nen Stra­ßen und Plät­ze ste­hen als Außen­an­sicht für einen inne­ren Zustand, und auch in Der Gezeich­ne­te fin­det ein sol­cher Rück­zug eines Prot­ago­nis­ten in die Innen­welt statt.

Nach der aus­führ­li­chen Beschrei­bung der ver­las­se­nen Stadt erscheint schließ­lich ein Mensch, ein letz­ter Über­le­ben­der. Graf Sebas­tia­no Cec­cal­do-Ros­si bewohnt in völ­li­ger Abge­schie­den­heit – eine deut­li­che Refe­renz an Jean Flo­res­sas des Esse­in­tes, den Prot­ago­nis­ten aus Huys­mans‘ A Rebours – sei­nen Palast. Er hat dort das Ende der Epi­de­mie abge­war­tet. Alle von ihm gelieb­ten Men­schen sind tot. Auch er war von der Pest befal­len, hat sie jedoch über­lebt und ver­lässt, nach­dem sein letz­ter Vor­rat an von Unge­zie­fer zer­fres­se­nen kan­dier­ten Früch­te erschöpft ist, im Hun­ger­de­li­ri­um den Palast. Er trägt die furcht­ein­flö­ßen­de Klei­dung der Pest­dok­to­ren, einen boden­lan­gen Man­tel, eine Mönchs­ka­pu­ze mit gestreck­tem Vogel­schna­bel und zwei star­ren Glas­au­gen. In die­ser Klei­dung trotzt er dem Schwar­zen Tod. Stau­nend stellt er beim Anblick manns­ho­her Sel­le­rie­stau­den und schirm­ho­her Kohl­strün­ke fest, dass die „schlim­men Kei­me, die es auf die gan­ze Chris­ten­heit abge­se­hen zu haben schie­nen, den Gemü­sen wun­der­bar anschlu­gen“. Dann ent­deckt er die Blu­men, die in ihrer Frei­heit glück­li­chen Rosen­sträu­cher, und ent­le­digt sich über­mü­tig sei­nes Pest­ge­wands „aus mor­gen­län­di­schem Safi­an­le­der“. Er zieht sich nackt aus, er fühlt sich frei.

Der Graf fin­det jedoch kei­ne Nah­rung, denn sogar das Weih­was­ser in den Kir­chen ist ver­trock­net, und so isst er die Blu­men, berauscht sich am Duft und Geschmack der Rosen:

Des fleurs, des fleurs, enco­re des fleurs! … Si les citrons et les oran­ges man­quai­ent, il y avait les roses jau­nes! Si les gre­na­des, les melons , les pas­tèques n’arrivaient pas à mûr­ir, il y avait les roses pour­pres, les roses rou­ges, les roses roses!
Blu­men, nur Blu­men, nichts als Blu­men! … Fehl­ten auch die Zitro­nen und Oran­gen, es gab gel­be Rosen. Waren die Was­ser­me­lo­nen nicht zur Rei­fe gelangt, es gab pur­pur­ne Rosen, rote Rosen, rosen­ro­te Rosen.

Das Ver­spei­sen der Rosen gleicht einer Lie­bes­be­geg­nung, in der sich Eros und Tha­na­tos ver­bin­den, die das maka­bre Ende des Gra­fen ein­läu­tet. Plötz­lich atmet er schwer, sei­ne Gier war zu groß, er hat zu vie­le Rosen geges­sen. Zwar konn­te ihm die Pest nichts anha­ben, doch nun wird ihm schwind­lig, wie berauscht sinkt er auf der Palast­trep­pe nie­der. Er stirbt, auf sei­ner Stirn per­len „Bluts­trop­fen … all das Blut der Rosen.“ („du sang … tout le sang des roses!“)

Die Blu­men haben also den Gra­fen ver­gif­tet. Eine töd­li­che Wir­kung wur­de – im über­tra­ge­nen Sin­ne – auch Bau­de­lai­res Fleurs du mal zuge­schrie­ben: Bau­de­lai­res Zeit­ge­nos­se, der Schrift­stel­ler Bar­bey d’Aurevilly, bemerk­te am 24. Juli 1857 in einem Arti­kel, der Sitt­lich­keit beson­ders zuge­ta­ne Gemü­ter wür­den Bau­de­lai­res lite­ra­ri­sche Blu­men als tod­brin­gend emp­fin­den, wie auch der Geruch von „Tube­ro­sen die Frau­en im Wochen­bett“ töten kön­ne; mit Attri­bu­ten wie „hor­ri­bles“, „mau­di­tes“ und „funes­tes“ betont Bar­bey den unheim­li­chen Cha­rak­ter der Blu­men des Bösen. Und auch bei Rachil­de sind die Blu­men furcht­ein­flö­ßend, sie kön­nen als dämo­ni­sche Ver­kör­pe­run­gen des Weib­li­chen, der män­ner­mor­den­den femme fata­le, gele­sen wer­den. Damit wird der Tod des Gra­fen letzt­lich zum Sinn­bild des Kamp­fes der Geschlechter:

Ain­si périt sin­gu­liè­re­ment, pour avoir respi­ré des fleurs, Sébas­tia­ni Cec­cal­do-Ros­si, le der­nier de sa race, […] gen­til­hom­me accom­pli, […] aimant éga­le­ment les dames bru­nes, les pages blonds, les bel­les sta­tu­es et les chiens héral­di­ques, un mor­tis enfin, que la peste avait éparg­né, mais que les roses empoi­son­nè­rent sans miséricorde.
So ging auf selt­sa­me Wei­se, von den Blu­men gemor­det, Sebas­tia­ni Cec­cal­do-Ros­si dahin, der Letz­te sei­nes Geschlech­tes, […] ein voll­ende­ter Edel­mann, […], der gleich­mä­ßig die brau­nen Damen und die blon­den Pagen lieb­te, schö­ne Bild­nis­se und edle Hun­de, ein Gezeich­ne­ter, den die Pest ver­schont hat­te, aber den die mit­leid­lo­sen Rosen vergifteten.

So erläu­tert das Ende der Erzäh­lung den zunächst rät­sel­haft erschei­nen­den Titel Le mor­tis: Für den Prot­ago­nis­ten gab es kein Ent­rin­nen, als Letz­ter sei­nes Geschlechts war er unwei­ger­lich zum Unter­gang bestimmt, die Pest­ma­le auf sei­ner Stirn haben ihn gezeich­net und gewis­ser­ma­ßen sein Ster­ben vor­be­rei­tet – ein Gedan­ke, mit dem Rachil­de noch ein­mal den Ver­bin­dungs­bo­gen zwi­schen Spät­zeit­ge­fühl, Tod und Ästhe­ti­zis­mus schlägt.

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  1. 1
    Stefano Paggi

    Rachil­de erin­nert mich an die rus­si­sche Aris­to­kra­tin Isa­bel­le Eber­hardt, die auch zur Zeit der Déca­dence leb­te und in Män­ner­klei­dung umhüllt auf aben­teu­er­li­che Rei­sen in Nord­afri­ka unter­wegs war. Ihre Erleb­nis­se hat sie dann lite­ra­risch ver­ar­bei­tet. Sie fan­den damals gro­ßen Ein­klang in den Pari­ser Salons.

    Die Wahl unge­wöhn­li­cher Wör­ter zur Anglei­chung der deut­schen Über­set­zung an dem fran­zö­si­schen Ori­gi­nal lässt mir eine ande­re sehr aus­ge­fal­le­ne Über­set­zung in den Sinn kom­men. Es ist die deut­sche Über­set­zung von Fran­çois Rabelais‘ „Gar­gan­tua und Pan­ta­gruel“ von Engel­bert Hegaur und Dr. Owl­glass. Ich habe den fran­zö­si­schen Text nie gele­sen, aber bereits an der Fül­le schier unge­wöhn­li­cher Wör­te, wie z.B. „ver­schna­bu­lie­ren“ statt essen, konn­te ich erah­nen, dass die Über­set­zer deut­lich in ihre Trick­kis­te gegrif­fen haben, um neben dem Inhalt auch vor allem den Ton des Pan­ta­gruels ein­fan­gen zu können.

    • 2
      Alexandra Beilharz

      Vie­len Dank für die­sen inter­es­san­ten Kom­men­tar. Beson­ders dem Hin­weis auf Isa­bel­le Eber­hardt gehe ich bei Gele­gen­heit ger­ne nach, ich habe von ihr gehört, mich aber noch nicht näher mit ihr beschäftigt.

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