Dass im Deutschen nun kaum noch von „Weißrussland“ die Rede ist, sondern „Belarus“ sich durchgesetzt hat, freut viele Belarussen im Ausland und wird auch in deinem Sinne sein, oder?
Am schönsten finde ich, dass diese „Weißrussland“-Bezeichnung in Bewegung geraten ist. Zu lange hieß es ja von ganz vielen, das Land heiße eben im Deutschen Weißrussland, man sagt ja auch nicht „Дойчланд“ (Deutschland), sondern „Германія“ (Germania) oder „Нямеччына“ (Njametschtschyna). Ich hatte dann oft mit der Veränderung des Status argumentiert: Belarus bezieht sich auf den selbständigen Staat, Weißrussland eher auf die Sowjetrepublik. Auch im Belarussischen hat sich der Landesname mit der Unabhängigkeit verändert: Seit 1991 heißt das Land Belarus und nicht mehr Belarussia, wie zu Sowjetzeiten. Aber diese Argumentation drang kaum durch. Dass die politischen Zusammenhänge und Hintergründe es nicht möglich machen, diese Situation nur durch das Prisma der Sprache zu betrachten (falls es dieses „nur“ überhaupt gibt), wurde zu oft nicht beachtet.
Und jetzt ist das plötzlich möglich. Warum? Hängt es etwa mit dem Grad der Anspannung zusammen? Der braucht offenbar nur hoch genug zu sein, damit eine Sprachgemeinschaft doch bereit ist, Bewegungen zuzulassen. Ginge es auch ohne die Explosion? Vielleicht muss man ja gar nicht auf den Aufschrei warten, um auf die Bedürfnisse eines Anderen einzugehen? Das ist etwas, was mich an diesem „Weißrussland“ immer so gestört hat: Ich fühlte mich in meinem Bedürfnis übersehen, in meiner Zugehörigkeit zu einem speziellen Kulturraum wahrgenommen zu werden. Ich dachte mir oft: Reicht es denn wirklich nicht aus, dass ich und andere Belarussen darum bitten, unser Land anders zu nennen? In einem Fall hieß es: Niemand in Deutschland kennt Belarus. Dann habe ich geantwortet, dass ich nicht bereit bin, mich nach der geografischen Unkenntnis der Deutschen zu richten. Das ist eine Frage an uns überall auf der Welt: Warum kennen wir vor allem Länder, in denen es kracht? Ist Interesse auch außerhalb des Krachs möglich? Was würde so ein Interesse bewirken? Vielleicht würde es viel weniger krachen, wenn wir unser Interesse und den Austausch aufrecht erhalten. Das gilt nicht nur für Länder, sondern auch für Vorgänge innerhalb von Gesellschaften. Das sind Fragen, die mich beschäftigen, wenn ich diese Namensänderung beobachte.
Du bist als Kulturmanagerin, Kuratorin und vor allem Übersetzerin eine wichtige Vermittlerin zwischen der belarussisch- und der deutschsprachigen Welt. In einem Beitrag für die FAZ hast du wenige Wochen nach den gefälschten Wahlen geschrieben, diese Rolle habe sich gewandelt. Wie sah das aus?
Meine Rolle ist eigentlich dieselbe wie vorher geblieben, die Situation um mich herum hat sich aber total verändert. Früher genauso wie jetzt war ich in der Vermittlerinnenrolle zwischen dem deutschsprachigen und dem belarussischen Kulturraum. Ich habe versucht, zu erfassen und weiterzugeben, was ich gesehen und verstanden habe. Früher bezog sich das hauptsächlich auf Literatur und Kunst, auf einzelne Texte, jetzt vielmehr auf die politisch-gesellschaftliche Situation. Ich sehe mich aber nach wie vor als Übersetzerin, die versucht, zu sehen und zu verstehen und möglichst passende Worte dafür zu finden, was sie sieht und versteht. Ich bin keine Expertin für Politik oder gesellschaftliche Entwicklungen, das will ich auch nicht sein. Ich kann mich aber auf die Situationen und Menschen, auf meine eigenen Erfahrungen und Eindrücke einlassen wie auf Texte, die ich zu entziffern und weiterzugeben verstehe. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und absolute Richtigkeit und mit der Einräumung, dass das meine Interpretation ist, meine „Lesart“ der Geschehnisse. Ich habe ja immer für die Sichtbarkeit der Übersetzer plädiert. Subjektivität bedeutet für mich aber keinesfalls Willkür, sondern nur, dass ich mich als Prisma wahrnehme, durch das das Erfasste gezeigt wird.
Wie gehst du mit dem andauernden Ausnahmezustand um? Kannst du derzeit überhaupt an Texten arbeiten?
Mir fällt es manchmal sehr schwer, mich zu konzentrieren, weil die Realität einem so viel abverlangt, ich merke, dass ich viel schneller müde werde als sonst. Die Kapazitäten des Gehirns, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, sind ja nicht uneingeschränkt. Manchmal braucht man Pausen, damit sich alles setzt und Platz frei wird für die Arbeit. In Minsk kann ich überhaupt nicht arbeiten, da passt nichts mehr rein. Ich muss mich immer wieder in mein Haus im Dorf Varapaeva zurückziehen, um an Texten arbeiten zu können.
Andererseits merke ich manchmal, dass ich mich gerne in die Arbeit vertiefe und gar nicht mehr daraus auftauchen will. Arbeit ist dann eine Art Schutzmantel. Auf jeden Fall gibt Arbeit Ordnung und Struktur, noch eine Schicht der Realität, die beständiger ist als das, was rund um uns herum passiert. Ich habe Texte in Arbeit, die ich noch vor der Krise angefangen habe. Interessant, dass angesichts der aktuellen Situation keiner dieser Texte seine Relevanz verloren hat. Das gibt mir ein schönes Gefühl, als hätte man auch in anderen Bodenschichten Wurzeln. Wie bei den Weinreben: Die können ja aus sehr tiefen Schichten Wasser holen.
In deinem Essay „Die Kraft des Unwissens“ für den jüngst erschienenen Band Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution schreibst du: „Ich kenne in Bewegung geratene Räume aus meiner Arbeit als Übersetzerin und weiß, wie gefährlich es sein kann, das scheinbar Offensichtliche nicht gründlich nach Bedeutungen und Konnotationen abgeklopft zu haben. Es kann sein, dass das Offensichtliche viel mehr Sinnschichten aufweist, als auf den ersten Blick sichtbar waren.“ Inwiefern ist deine berufliche Erfahrung als Übersetzerin in der jetzigen Situation hilfreich?
Hilfreich ist die Bereitschaft und die Fähigkeit, mit einem schwierigen Stoff zu arbeiten. Es geht ja nicht, dass man sich hinsetzt und dann auf Anhieb übersetzt. Immer wieder kommt man nicht weiter, immer wieder versteht man etwas nicht, man kommt nicht gleich auf die Lösung, es muss reifen. Und dann diese furchtbaren Phasen, mal länger, mal kürzer, in denen scheinbar nichts passiert. Oder die Missverständnisse, Fehler usw. Dadurch wird eine gewisse Bescheidenheit im Umgang mit der Realität trainiert, man hat keinen Drang, anderen die eigene Lösung als die einzig richtige aufzuzwingen, vielmehr horcht man in die Realität hinein, sei es die Realität der Texte oder die des Zeitgeschehens. Dadurch ist man ziemlich immun gegen einfache Lösungen, man kann differenzierter und somit näher bei sich selbst bleiben. Auch die Zuversicht, dass diese tastende, keinesfalls geradlinige Bewegung doch zu etwas führt oder auch an sich wertvoll ist, kommt aus dem Übersetzen.
Welche Lektüren sind dir gerade wichtig? Oder ist jetzt gar nicht die Zeit des Lesens, sondern die des Redens, Diskutierens oder Schweigens?
In den ersten Tagen nach den Wahlen konnte ich kaum lesen. Ich war die ganze Zeit mit Nachrichten und Diskussionen beschäftigt, aber auch irgendwie gelähmt. Als sei man ausgerutscht und müsse erst wieder auf die Beine kommen, um zu wissen, wo oben und unten ist. Dabei hatte ich keinerlei Illusionen, was die Situation im Land anging, aber diese neue Realität hat uns allen sehr viel Konzentration abverlangt. Das tut sie auch jetzt noch, aber inzwischen gehe ich damit etwas anders um. Ich habe ein großes Bedürfnis zu lesen, ich suche immerfort nach Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu benennen, zu beschreiben, nach genauen Ausdrücken, Stilmitteln usw. zu schauen. Wie man das aus dem Übersetzen kennt: Man muss beispielsweise ein Werk aus einer bestimmten Zeit übersetzen und liest dann ganz viel aus dieser Zeit in der Ausgangs- wie in der Zielsprache, um den Sound, die stilistische Welle zu kriegen. So geht es mir im Moment auch mit der Realität. Am Tag, an dem Roman Bondarenko starb, nachdem er von vermummten Ordnungshütern zu Tode geprügelt worden war, fiel mir alles aus der Hand, bis ich angefangen habe, Paul Celan zu lesen. Das waren Texte, die dieser Erfahrung standhielten und mir Halt gaben. Zum ersten Mal habe ich auch versucht, Celan zu übersetzen, davor war er für mich unerreichbar.
Ich merke, dass ich ziemlich viele Bücher lese, in denen es um die Erfahrung von Gewalt geht, und zwar aus einer existentiellen Perspektive, um das Fortbestehen angesichts von Gewalt, um das Aushalten von Ambivalenzen, um das Einfangen von Widersprüchen. In Belarus wird gerade so ziemlich alles neu definiert, da gibt es ganz spannende Beobachtungen und Entdeckungen, die Gesellschaft definiert sich neu. Aber es sind auch viele Floskeln im Umlauf.
Neulich habe ich in einem Interview von David Grossman in der NZZ gelesen: „Wenn Menschen Angst haben, tendieren sie dazu, in Verallgemeinerungen und Stereotypen zu denken.“ Das merke ich auch in Belarus. Viel zu wenig wird hinterfragt. Sehr problematisch finde ich zum Beispiel den Begriff des Helden. Ist es nicht viel schrecklicher, wenn jemand stirbt, ohne den Heldentod angestrebt zu haben? Werden die ikonenhaften Abbildungen und schlichten pathetischen Gedichte, die als Reaktionen auf einen Todesfall oder eine Verhaftung verbreitet werden, der Sache gerecht? Das wage ich aber in Belarus noch gar nicht öffentlich zu fragen, obwohl ich Fragen und Versuche, etwas (neu) zu benennen, ganz wichtig finde – sie verdünnen das Blut unseres Denkens und Fühlens. Durch Floskeln und starre Behauptungen wird dieses Blut dickflüssig, dа kann es sich auch aufstauen.
In diesen Zeiten ist Lektüre für mich emotionale Grundversorgung. Jetzt gerade liegen auf meinem Tisch Selbstachtung von Toni Morrison, Probleme der Poetik Dostojevskijs von Michail Bachtin, Ein Landarzt von Franz Kafka, Kaltes Denken, warmes Denken von Wolfgang Schmidbauer (ein Must-Read in Krisenzeiten), David Bohms Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen und Die Quellen der Gewalt von Rollo May. Ich lese gern viele Bücher parallel, so entsteht ein ganz individueller Fluss an Eindrücken und Gedanken, der mir sehr gut tut. Das ist wie Goldwaschen: Die Eindrücke, Erlebnisse und Empfindungen aus der Realität sind wie Sand, eventuell mit Goldstückchen, die man erst auswaschen muss. Die Lektüren, aber auch die vielen Gespräche, die man mit sich selbst und anderen führt, sind wie Wasser beim Goldwaschen, und ich selbst bin gleichzeitig das Sieb und diejenige, die wäscht.
Du hast in Interviews für deutschsprachige Medien immer wieder dazu aufgerufen, hinzusehen und zu differenzieren. Was wünschst du dir speziell von den Übersetzerkolleginnen und deinen Autoren hierzulande? Und was sollten wir lesen?
Austausch. Austausch. Austausch. Und zwar zu allen möglichen Themen, nicht nur speziell zu Belarus. Es ist ganz wichtig, eigene Erfahrungen an denen der anderen abzuschleifen, Beziehungsnetze aufzubauen und aufrechtzuerhalten; Beziehungen über Grenzen hinweg sind ganz wertvoll. Genau das rettet mich gerade – dass mein mentaler und emotionaler Raum dank solcher Beziehungen, ob direkt oder durch Bücher und Kunst, nicht mit meinem physischen Raum zusammenfällt. Was die Lektüre angeht, so empfehle ich im Moment vielen das Buch Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution. Die Texte und Stimmen darin sind so unterschiedlich, dass ein beweglicher, vielschichtiger Raum entsteht, auch durch das Zusammenspiel der Texte, also auch zwischen den Texten, nicht nur in ihnen. Das Buch ist sehr nah an der Realität und ein guter Ausgangspunkt, um sich mit dem Kulturraum Belarus zu beschäftigen. Mit diesem Buch ist ein Schritt zur Überwindung der langjährigen belarussischen Isolation und auch der medialen Eintönigkeit in der Berichterstattung getan. Eigentlich sollte man solche Bücher auch für andere Länder machen, um das wirkliche Kennenlernen zu fördern.
Du hast oben die spontanen pathetischen Gedichte hinterfragt. Hast du daneben auch schon literarische Reaktionen wahrgenommen, die über den Tag hinaus Bestand haben könnten?
Es gibt durchaus auch andere Gedichte, die versuchen, diese schmerzhaften Erfahrungen zu benennen. Die werden auf jeden Fall Bestand haben, nicht nur im belarussischen Kulturraum. Da denke ich beispielsweise an Gedichte von Dmitri Strozew, die gehen unter die Haut. Von meinen Lieblingsautoren Artur Klinaŭ und Zmicier Vishnioŭ weiß ich, dass sie beide an neuen Texten arbeiten, ich bin sehr gespannt, wie diese Realität durch die Prismen ihrer Blicke aussehen wird. Die beiden konnten ja so vieles vorausahnen: Der Roman Калі прыглядзецца — Марс сіні (Wenn man genauer hinschaut, ist der Mars blau, 2019) von Zmicier Vishnioŭ beschreibt gerade die in Brüche gehende Realität, in der alles möglich und nichts sicher ist. Und Локісаў (Lokisaŭ, 2020), der neueste Roman von Artur Klinaŭ, ist auch ganz hellsichtig. Leider kam der Roman zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt und wird nicht so breit rezipiert, aber diejenigen, die zum Lesen kommen, sind sich einig, dass man durch dieses Buch vieles von dem, was gerade passiert, deutlicher sieht.
Andreas Rostek, Nina Weller, Thomas Weiler, Tina Wünschmann (Hrsg.): Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution
edition.fotoTAPETA 2020 ⋅ 272 Seiten ⋅ 15 Euro