Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe
Nadeschda Mandelstam
Ursula Keller
Russisch
Воспоминания
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„Nachdem er Alexej Tolstoj geohrfeigt hatte, kehrte O. M. eilends nach Moskau zurück.“ Gleich mit dem ersten Satz taucht uns Nadeschda Mandelstam mitten in die politischen Untiefen der sowjetischen Gesellschaft ein. Hinter dem Kürzel O. M. verbirgt sich kein Geringerer als der große Dichter Ossip Mandelstam, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Nikolai Gumiljow und Anna Achmatowa das Dreigestirn der einflussreichen Akmeismus-Strömung bildete. Doch die neue Sowjetmacht sorgte schnell dafür, dass diese hellen Sterne erloschen: einer erschossen, einer im Gulag gestorben, eine mundtot gemacht.
Mandelstams Witwe Nadeschda ist es zu verdanken, dass sein dichterisches Werk – wenn auch nicht er selbst – den stalinistischen Terror überlebt hat. Sie erkennt, dass die Erniedrigten und Beleidigten über erlittenes Unrecht nicht schweigen dürfen. Und so erhebt sie nach jahrzehntelangem Schweigen ihre Stimme, damit die Welt sie hört:
В этом жалком вое, который иногда неизвестно откуда доносился в глухие, почти звуконепроницаемые камеры, сконцентрированы последние остатки человеческого достоинства и веры в жизнь. Этим воем человек оставляет след на земле и сообщает людям, как он жил и умер. Воем он отстаивает свое право на жизнь, посылает весточку на волю, требует помощи и сопротивления. Если ничего другого не осталось, надо выть. Молчание — настоящее преступление против рода человеческого.In diesem bemitleidenswerten Heulen, das mitunter in die abgeschiedenen, fast schalldichten Gefängniszellen drang, sind die letzten Reste menschlicher Würde und des Glaubens an das Leben verdichtet. Mit diesem Heulen hinterlässt der Mensch eine Spur auf der Erde und teilt den anderen mit, wie er gelebt hat und gestorben ist. Mit dem Heulen verteidigt er sein Recht auf Leben, schickt eine kleine Botschaft in die Freiheit, ruft um Hilfe und fordert Widerstand. Bleibt einem nichts mehr, so muss man laut aufheulen. Zu schweigen ist wahrlich ein Verbrechen gegen die menschliche Spezies.
Wie schwer es war, sich Gehör zu verschaffen, zeigt die Publikationsgeschichte dieses einmaligen Lebensberichts: Das 30 Jahre nach dem Tod ihres Mannes verfasste und aus der Sowjetunion geschmuggelte Manuskript erschien 1970 zunächst in einem russischen Verlag in New York. In Russland selbst konnte es erst nach der Perestroika 1989 veröffentlicht werden – bis dahin war dieses dunkelste Kapitel der sowjetischen Geschichte tabu (und ist es zum Teil heute noch). 1971 erschien eine gekürzte Übersetzung von Elisabeth Mahler, doch nun macht Die Andere Bibliothek Mandelstams Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe (der deutsche Titel spielt auf Ossip Mandelstams berühmtes Gedicht vom „Wolfshund-Jahrhundert“ an) in der Übersetzung von Ursula Keller erstmals vollständig auf Deutsch zugänglich – ein Glücksfall für die Leserinnen und Leser, die endlich nicht nur die Schilderung der Verhaftungen und Verbannung von Ossip Mandelstam, sondern auch Nadeschda Mandelstams luzide Beobachtungen der sowjetischen Gesellschaft in voller Länge lesen können.
Nach der Machtergreifung der Bolschewiki zog sich die Schlinge um unangepasste Dichter wie Mandelstam und Achmatowa immer fester zu. Ende der 1920er Jahre gab es für sie so gut wie keine Publikationsmöglichkeiten mehr, sie hielten sich mühsam mit Übersetzungen, Zeitschriftenartikeln und Verlagsgutachten über Wasser. Der Alltag unter Stalin war von Angst und Argwohn durchdrungen, beim kleinsten Anlass erschraken die Menschen zu Tode – „bei unerwartetem Besuch, wenn Automobile vor dem Haus hielten oder wenn sich in der Nacht plötzlich der Fahrstuhl in Bewegung setzte“ (все советские граждане пугались неожиданных посетителей, машин, если они останавливались у дома, и поднимающегося ночью лифта). Alle konnten jederzeit – freiwillig oder erzwungen – zum Spitzel werden, sei es, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, den Makel der eigenen unproletarischen Herkunft auszugleichen oder um Angehörige vor Verfolgung zu schützen – der Geheimdienst, die berüchtigte Tscheka, fand bei allen einen schwachen Punkt. Was man auch sagte, konnte gegen einen verwendet werden, denn die staatliche Verhaftungsmaschinerie funktionierte nach der zynischen Logik: „Hat man erst jemanden, findet sich schon irgendwas.“ („Был бы человек — дело найдется.“)
Auch Nadeschda Mandelstam macht sich keine Illusionen über ihre Mitmenschen. Lakonisch beschreibt sie das allgegenwärtige Wegsehen und die Angst, die ganze Generationen des Homo sovieticus geprägt hat:
Мы все пошли на мировую: молчали, надеясь, что убьют не нас, а соседа. Мы даже не знаем, кто среди нас убивал, а кто просто спасался молчанием.Wir alle gingen den Weg des geringsten Widerstands. Wir schwiegen, in der Hoffnung, man möge nicht uns, sondern unseren Nachbarn töten. Wir wussten nicht einmal, wer unter uns ein Mörder war und wer einfach nur sein Leben durch Schweigen rettete.
Um zu überleben, musste man lernen, eine Maske zu tragen, denn wer seine wahren Gefühle und Gedanken zeigte, brachte damit sich und andere in Gefahr. Für die Autorin waren die Verfolger ebenso Opfer des Terrors wie die Verfolgten:
Такая жизнь даром не сходит. Все мы стали психически сдвинутыми, чуть-чуть не в норме, не то чтобы больными, но не совсем в порядке — подозрительными, залгавшимися, запутавшимися, с явными задержками в речи и подозрительным, несовершеннолетним оптимизмом. Годятся ли такие, как мы, в свидетели? Ведь в программу уничтожения входило и искоренение свидетелей.Ein Leben wie dieses geht nicht spurlos an den Menschen vorüber. Wir alle sind psychisch lädiert, leicht neben der Norm, nicht krank, aber auch nicht ganz gesund – argwöhnisch, in Lügen verstrickt, verwirrt, mit augenfälligen Verzögerungen in unserer Sprache und einem verdächtigen unreifen Optimismus. Sind Menschen wie wir als Zeugen geeignet? Zum Programm der Vernichtung gehörte ja auch die Vernichtung der Zeugen.
Ursula Keller gelingt es souverän, uns diese schwierige Welt zu eröffnen. Sie bleibt Mandelstams distanziertem Stil treu und erzielt gerade dadurch auch im Deutschen eine eindringliche Wirkung. Zwei Jahre hat sie an der Übersetzung gearbeitet und einen deutschen Text geschaffen, der so nah wie möglich am russischen Ursprungstext bleibt und gleichzeitig sehr gut lesbar ist. Die zahlreichen Anspielungen auf Personen oder Ereignisse, die für deutsche Leserinnen und Leser verwirrend sein können, erklärt sie in einem fast 200-seitigen, sorgfältig recherchierten Anmerkungsapparat, in dem man alle politischen Hintergründe, Abgründe und Verflechtungen nachlesen kann. Allein für diese Leistung hätte sie eine Auszeichnung als „Heldin der Übersetzung“ verdient.
Im Mai 1934 wird Ossip Mandelstam verhaftet und seine Wohnung von Tschekisten durchsucht. Der Grund ist jedoch nicht die eingangs erwähnte Ohrfeige, die er dem späteren Vorsitzenden des Schriftstellerverbands der UdSSR verabreicht hat, sondern ein Gedicht, in dem er von Stalin als dem „Bergmenschen im Kreml, dem Knechter, / vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter“ spricht und das er unvorsichtigerweise einigen Freunden und Bekannten vorgetragen hat. Dafür ist ihm die Todesstrafe sicher. Doch offenbar ist von ganz oben der Befehl „Isolieren, aber erhalten“ („изолировать, но сохранить“) erteilt worden. Und so lautet das Urteil statt Erschießung oder Zwangsarbeit beim Kanalbau (ebenfalls ein so gut wie sicheres Todesurteil) wundersamerweise nur drei Jahre Verbannung in der Provinz.
Im Exil in Woronesch vegetieren die Mandelstams wie Parias dahin. Durch die Untersuchungshaft ist Ossips Gesundheit zerrüttet, er leidet noch monatelang unter Wahnvorstellungen. Doch zum Ausruhen ist keine Zeit, er spürt, dass sein Todesurteil nur aufgeschoben ist, dass ihm die Zeit davonläuft, und so arbeitet er wie ein Getriebener an seinem lyrischen Vermächtnis, den drei Woronescher Heften:
Все предвещало близкий конец, и О. М. старался использовать последние дни. Им владело одно чувство: надо торопиться, не то оборвут и не дадут чего-то досказать. Иногда я умоляла его отдохнуть, выйти погулять, поспать, но он только отмахивался: нельзя, времени в обрез, надо торопиться…Alles deutete auf ein nahes Ende hin, und O. M. suchte die Zeit, die ihm noch blieb, zu nutzen. Ihn trieb vor allem das Gefühl an, er müsse sich beeilen, denn er fürchtete, es könne plötzlich zu spät sein, und er werde nicht mehr alles sagen können, was er noch sagen wollte. Mitunter bat ich ihn, er möge sich schonen, ein wenig spazieren gehen, schlafen, aber er winkte stets ab. „Ich kann nicht, ich habe keine Zeit mehr, ich muss mich beeilen.“
Auch wenn man die knappe, durch Ellipsen und Präfixe hochverdichtete Struktur des Russischen hier kaum nachbilden kann, gelingt es der Übersetzerin, ebenfalls eine sprachliche Dynamik herzustellen, die der inneren Verfasstheit des todgeweihten Dichters entspricht. Und auch sonst beweist Ursula Keller stilistische Treffsicherheit. Mandelstams Bericht über die stetig wachsende Unfreiheit in den 1920er und 1930er Jahren schlägt meist einen nüchtern-sachlichen Tonfall an, der einen starken Kontrast zu den alltäglich erlebten Schrecken bildet. Dabei streut sie wohldosiert flapsige Bemerkungen ein, zum Beispiel, als sich Nadeschda und Anna Achmatowa in die Küche verdrücken und im Wohnzimmer „O. M. dem Gedichteliebhaber Brodskij zum Fraß überlassen“ (… предоставив О. М. на растерзание стихолюбивому Бродскому). Nur selten blitzt durch ihre lakonische Schilderung der Kummer über das verpasste gemeinsame Leben durch:
Подумать только, что и у нас могла быть обыкновенная жизнь с разбитыми сердцами, скандалами и разводами! Есть же на свете безумцы, которые не знают, что именно это и есть нормальная человеческая жизнь и к ней надо всеми силами стремиться. Чего только не отдашь за такую драму!Wenn ich mir nur vorstelle, dass auch wir ein ganz gewöhnliches Leben mit gebrochenen Herzen, Streit und Scheidung hätten führen können! Es gibt doch tatsächlich Wahnsinnige auf dieser Welt, die nicht wissen, dass genau dies das ganz normale Leben eines Menschen ist, und dass es dieses Leben ist, nach dem man mit aller Kraft streben sollte. Was gäbe ich für ein solches Drama!
Ursula Keller weiß die gesamte sprachliche Klaviatur von unpersönlicher Behördensprache bis zu unterdrückt-bitterer Ironie perfekt einzusetzen und schafft durch dezent wechselnde Ausdrucksnuancen eine bereichernde Lektüre.
Nicht zuletzt gewähren uns die Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe einzigartige Einblicke in den dichterischen Entstehungsprozess. Dem Übersetzer Ralph Dutli ist es zu verdanken, dass Mandelstams Gesamtwerk schon seit Längerem auf Deutsch zugänglich ist. Hier erfahren wir nun aus erster Hand, was den Dichter zu bestimmten Motiven angeregt hat, wie manche seiner Verse entstanden sind und sich weiterentwickelt haben, was nochmal einen ganz neuen, vollständigeren Zugang zu den Gedichten eröffnet.
Весь процесс сочинения состоит в напряженном улавливании и проявлении уже существующего и неизвестно откуда транслирующегося гармонического и смыслового единства, постепенно воплощающегося в слова.
Последний этап работы — изъятие из стихов случайных слов, которых нет в том гармоническом целом, что существует до их возникновения. Эти случайно прокравшиеся слова были поставлены наспех, чтобы заполнить пробел, когда проявлялось целое. Они застряли, и их удаление тоже тяжелый труд. На последнем этапе происходит мучительное вслушивание в самого себя в поисках того объективного и абсолютно точного единства, которое называется стихотворением.
Der gesamte Schaffensprozess des Dichtens besteht im mühsamen Erfassen und Auftauchenlassen einer bereits existenten und aus unbekannter Quelle übertragenen harmonischen Sinneinheit, die allmählich ihren Ausdruck in Worten findet.
Der letzte Arbeitsschritt schließlich ist die Aussonderung der zufällig ins Gedicht gelangten Wörter, die sich nicht in das harmonische Ganze einfügen, das vor Entstehung der Verse bereits vorhanden ist. Diese Wörter, die sich zufällig in die Verse hineingemogelt hatten, waren in der Eile gewählt worden, um Leerstellen zu füllen, als sich das Ganze entwickelte. Sie setzten sich fest, und sie wieder zu entfernen war ebenfalls mühselige Arbeit. Dieser letzte Schritt ist ein quälendes Insichhineinhorchen auf der Suche nach jenem objektiven und absoluten einheitlichen Ganzen, das Gedicht genannt wird.
Nadeschda Mandelstam arbeitet unermüdlich daran, die Gedichte ihres Mannes für die Nachwelt zu bewahren: Sie fertigt Abschriften an, versteckt oder verteilt sie unter den wenigen vertrauenswürdigen Freunden, in der Hoffnung, dass wenigstens ein Teil von ihnen den ständigen Hausdurchsuchungen entgeht, und lernt die Gedichte auswendig. Infolge ihres „Kampfes gegen die Urgewalten“ (борьбы со стихией) kann ein Großteil der Lyrik und Prosastücke erhalten werden.
Bei der Rückkehr der Mandelstams nach Moskau im Mai 1937 befindet sich der Große Terror auf dem Höhepunkt, und es „gab nur noch zwei Wege aus dem Gefängnis – ins Lager oder ins Jenseits.“ (Из тюрьмы открывались только две дороги: в лагерь или на тот свет.) In ihre Moskauer Wohnung dürfen sie nicht zurück, Ossip Mandelstam erleidet mit gerade mal 46 Jahren zwei Herzanfälle, Selbstmordgedanken stehen im Raum. Im Mai 1938 wird er erneut verhaftet. Seinen Tod (er stirbt vermutlich am 27. Dezember 1938 in einem fernöstlichen Durchgangslager an Krankheit und Entkräftung) sieht Nadeschda als Teil seines Lebenswerks: „Der Tod eines Künstlers ist kein zufälliges Schicksal, sondern ein letzter schöpferischer Akt.“ (Смерть художника не случайность, а последний творческий акт.)
Nadeschda selbst führt noch weitere 20 Jahre ein Nomadenleben, immer knapp unter dem Radar der Behörden. Das rettet ihr nach eigener Einschätzung das Leben: „Ich habe Obdachlosigkeit und Wurzellosigkeit von Mandelstam geerbt. Nur deshalb hat man vergessen, auch mich mit der Wurzel auszurotten.“ (От Мандельштама я унаследовала бездомность и полное отсутствие корней. Именно поэтому меня забыли выкорчевать.) Bis zum Schluss lässt sie sich ebenso wenig einschüchtern wie ihr Mann, für den Poesie Macht bedeutet:
О. М. держал себя как власть имущий, и это только подстрекало тех, кто его уничтожал. Ведь они-то понимали, что власть — это пушки, карательные учреждения, возможность по талонам распределять все, включая славу, и заказывать художникам свои портреты. Но О. М. упорно твердил свое — раз за поэзию убивают, значит, ей воздают должный почет и уважение, значит, ее боятся, значит, она — власть…O. M. trat auf wie jemand, der über Macht verfügte, und das machte jene, die ihn verfolgten, ganz besonders wütend. In ihrem Verständnis war Macht der Besitz von Waffen, ein Geheimdienst, die Möglichkeit, alles, auch den Ruhm, auf Bezugsscheine zuzuteilen und beim Künstler Selbstporträts in Auftrag zu geben. O. M. jedoch wiederholte beharrlich seinen Standpunkt: Wenn man Menschen umbringt, weil sie Gedichte schreiben, bedeutet das, dass der Dichtung die ihr zustehende Hochachtung und der ihr zustehende Respekt erwiesen wird, das bedeutet, dass man sie fürchtet, und das wiederum bedeutet, dass sie eine Macht ist.
Am Ende trägt Ossip Mandelstams dichterisches Werk dank seiner Frau tatsächlich den Sieg davon über alle, die ihn zum Verstummen bringen wollten. Und auch Nadeschda Mandelstam stellt die Macht der Poesie in ihrem literarischen Vermächtnis eindrücklich unter Beweis. Sie zeigt, wie einem Menschen systematisch und schleichend die soziale und geistige Lebensgrundlage genommen werden kann, bis seine physische Vernichtung nur noch die letzte logische Konsequenz ist. Aus ihren scharfsichtigen Gesellschaftsporträts spricht eine beeindruckende Frau, ohne deren Mut und Ausdauer Ossip Mandelstams Werk wohl größtenteils verloren gewesen wäre. Ursula Kellers präziser Übersetzung ist es zu verdanken, dass dieses wichtige Dokument einer Zeitzeugin nun auch auf Deutsch vollständig zugänglich ist und man sich Mandelstam und seiner Epoche auf eine ganz persönliche Weise nähern kann.
Drei Fragen an Ursula Keller
Wie sind Sie in die sowjetische Welt der 1920er und 1930er Jahre eingetaucht, eine Welt, die zunehmend geprägt war von Angst und Terror sowie von der Verfolgung großer Dichterinnen und Dichter wie Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa?
In meinen Büchern als Übersetzerin und Autorin habe ich mich bisher hauptsächlich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts befasst, aber spätestens in den 1860er Jahren begann bereits der revolutionäre Weg, der schließlich in den Stalinismus geführt hat. Die Frage, ob Gewalt als Mittel der Politik legitim ist, stand seitdem auf der Tagesordnung der Gegner des zaristischen Regimes, und nach der sogenannten Oktober-Revolution 1917 haben sich mit den Bolschewiki eine Gruppierung von Befürwortern einer Politik der Gewalt durchgesetzt und ihre Widersacher vernichtet.
Die Übersetzung der Werke von Michail Ossorgin, einem Autor, der seit 1922 im Exil in Frankreich lebte und in seinen halbautobiographischen Romanen die vorrevolutionäre Epoche und das Leben in den Jahren kurz vor und nach der Revolution 1917 in Moskau beschreibt, war so etwas wie die Vorbereitung auf die Übersetzung von Nadeschda Mandelstams Erinnerungen.
Wenn man sich lange mit einem Werk beschäftigt, kommt man der Autorin/dem Autor sehr nahe, man lebt sozusagen mit ihr/ihm zusammen, sie werden Teil des eigenen Alltags und des eigenen Lebens. Bei der Übersetzung von Nadeschda Mandelstams Erinnerungen sind das zwei sehr starke und eindrucksvolle Persönlichkeiten, die den eigenen Werten und Überzeugungen treu geblieben sind. Einer von ihnen, Ossip Mandelstam, hat seine Unbeugbarkeit mit dem Leben bezahlt. Bei dieser Arbeit habe ich mich natürlich auch eingehend mit Ossip Mandelstam, mit seinem Leben und Werk befasst. Das Gesamtwerk Ossip Mandelstams hat Ralph Dutli auf Deutsch zugänglich gemacht, und seine Übersetzungen der Gedichte, auf die Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen immer wieder Bezug nimmt, waren wichtige Bücher in meiner Handbibliothek während der Arbeit an meiner Übersetzung. (Leider ist in der Endphase der Buchproduktion die Referenz auf die Übersetzungen vergessen worden, das Versäumnis ist aber umgehend vom Verlag korrigiert worden und wird in folgenden Auflagen berücksichtigt).
In ihrer Beschreibung des Lebens in der Welt der Grausamkeit und des Widersinns einer Diktatur legt Nadeschda Mandelstam sehr eindringlich dar, dass der Stalinismus sozusagen der Endpunkt einer Politik der Gewalt von Jahren und Jahrzehnten war. Und zugleich hat sie sich mit ihren Erinnerungen, so glaube ich, ihre Traumata von der Seele geschrieben. Ihre Erinnerungen sind einerseits die Aufarbeitung der persönlichen Geschichte, zugleich aber auch eine sehr kluge Auseinandersetzung mit dem Stalinismus. Die zeitlosen Reflexionen über das Wesen der Diktatur und wie das Leben in einem diktatorischen System den Menschen verändert, habe ich als sehr bereichernd empfunden.
Die deutsche Erstübersetzung ist eine gekürzte Fassung. Können Sie das Bestreben, Nadeschda Mandelstams (unlektoriert veröffentlichtes) Manuskript zu straffen, nachvollziehen?
Die Kürzungen in der Erstübersetzung sind ziemlich willkürlich, meist handelt es sich um Sätze und Absätze, die sprachlich dunkel und schwer verständlich sind. Es wurden jedoch auch die beiden Kapitel, in denen es um die Entstehung von Gedichten und den dichterischen Arbeitsprozess geht, gekürzt und zu einem Kapitel zusammengefasst. Diese beiden Kapitel sind sprachlich sehr anspruchsvoll und haben mich sehr viel Schweiß und manchmal sogar Tränen gekostet, insofern kann ich es durchaus nachvollziehen, dass man in die Versuchung gerät, hier ein wenig zu straffen. Allerdings bin ich ja Übersetzerin und nicht Lektorin, und das Redigieren oder vermeintliche Verbessern eines Textes ist nicht meine Aufgabe. Ich habe diesen Text, der ja tatsächlich nie lektoriert wurde, als Dokument der Zeit, in der er entstanden ist, betrachtet. Der Text ist mit all seinen Redundanzen und Wiederholungen ein wichtiges und bis heute aktuelles Buch.
Die Auffassung davon, was Übersetzung ist, hat sich ja in den letzten Jahren stark verändert. Früher – und das gilt auch für die Zeit des Erscheinens der ersten Übersetzung – ist man als Übersetzerin/Übersetzer sehr viel freier mit dem Original umgegangen, als es heute statthaft ist. Da wurden dann in einer Übersetzung auch mal seitenlange Naturbeschreibungen gestrichen, weil sie der Übersetzerin/dem Übersetzer (oder dem Verlag) als überflüssig erschienen. Heute ist die Haltung dem Originaltext gegenüber eine andere, der Ansatz ein philologisch genauerer. Wir haben heute ein viel breiter gefächertes Instrumentarium der Arbeit an und mit Texten.
Trotz ihrer eigenen Übersetzertätigkeit kommt die Übersetzerzunft bei Nadeschda Mandelstam nicht besonders gut weg. Sie schreibt:
Der Arbeitsprozess einer Übersetzung ist dem schöpferischen Prozess der Arbeit an Gedichten vollkommen entgegengesetzt. (…). Die Übersetzung an sich (…) ist ein kühler und vernunftmäßiger Akt der Verifizierung, in dem dichterische Elemente nachgeahmt werden. Es mag merkwürdig anmuten, doch bei der Übersetzung ist zuvor kein einheitliches Ganzes vorhanden. Der Übersetzer kurbelt sich selbst an wie einen Motor und ruft durch langwierige, mechanische Bemühung jene Melodie herbei, die er braucht. Er verfügt nicht über das, was Chodassewitsch sehr zutreffend als „Wahrnehmung von etwas Geheimem, Verborgenem“ bezeichnet hat. Die Beschäftigung mit Übersetzung ist dem wahren Dichter kontraindiziert, denn sie ist tatsächlich geeignet, die Entstehung von Gedichten zu verunmöglichen.
Stimmen Sie dieser Sichtweise zu?
Nadeschda Mandelstam spricht hier über den besonderen Fall der Übersetzung von Gedichten. Die untrennbare Einheit von äußerer Form mit Rhythmus, Reim usw. und Inhalt eines Gedichts in einer Sprache mit anderer Sprachstruktur nachzubilden, stellt den Übersetzer/die Übersetzerin vor besondere Herausforderungen. Vladimir Nabokov, der in drei Sprachen zu Hause war, hielt die Übersetzung von Gedichten sogar für unmöglich. Er übersetzte Alexander Puschkins Versroman Evgenij Onegin aus dem Russischen ins Englische und verzichtete dabei ganz bewusst auf die Versform, weil er der Ansicht war, dass die Übersetzung in Versform dem Original nicht gerecht werden könne. Und er fügte seiner Übersetzung einen umfangreichen und höchst geistvollen Kommentar zu allen literarischen, biographischen und historischen Bezügen bei, ohne die die Lektüre des Evgenij Onegin nur der halbe Genuss wäre, wobei der Kommentar etwa vier Mal so umfangreich ist wie Puschkins Meisterwerk selbst.
Als Übersetzerin und Autorin führe ich so etwas wie eine „Doppelexistenz“. Und ich kann bestätigen, dass Schreiben und Übersetzen ganz unterschiedliche Forderungen an mich stellen. Wenn ich schreibe, denke ich oft, wie viel einfacher das Übersetzen doch ist, und wenn ich übersetze, scheint mir das Schreiben oft einfacher. Beim Übersetzen muss man sich ganz auf den Text und auf die Autorin/den Autor einstellen und versuchen, den Tonfall, den Stil zu treffen. Beim Schreiben hingegen kann man den eigenen Stil kultivieren. Wobei meine beiden Existenzen einander auch ergänzen. Die Genauigkeit, die es beim Übersetzen braucht, schärft den Blick für die eigene Sprache.
Es dauert immer eine Zeitlang, bis ich mich in den Rhythmus des Textes hineinfinde. Ein Professor der Sprachwissenschaft hat mich einmal gefragt, was für mich das Schwierigste am Übersetzen sei, und er war ganz verwundert, als ich antwortete, am schwersten falle es mir, mich auf den Stil den Autors einzustellen, mich auf diesen einzuschwingen. Er hatte erwartet, dass die Schwierigkeiten in der unterschiedlichen Struktur der beiden Sprachen liegt, also z. B. im unterschiedlichen Tempus-System, in der Syntax, die im Russischen viel freier ist o. ä. Aber die Beherrschung der Sprache, aus der übersetzt wird, ebenso wie die der eigenen Sprache sind ja lediglich die Grundlagen, auf die man beim Übersetzen aufbaut. Übersetzen ist ein Handwerk, das man erlernen kann. Dennoch braucht es zugleich die Begabung, ohne die das Handwerk nicht funkeln kann. Das ist bei jedem Handwerk so.