Über­set­zung des Monats: Erin­ne­run­gen an das Jahr­hun­dert der Wölfe

Nadeschda Mandelstams distanzierter und zugleich erschütternder Bericht über ein Leben im Ausnahmezustand wurde von Ursula Keller zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übersetzt und umfassend kommentiert. Von

Ursu­la Kel­ler zeigt mit ihrer sorg­fäl­tig recher­chier­ten und sach­kun­di­gen Über­set­zung, dass nicht nur Roma­ne gro­ße Lite­ra­tur sein können.
Über­set­zung des Monats Dezember
Titel

Erin­ne­run­gen an das Jahr­hun­dert der Wölfe

Autorin

Nadesch­da Mandelstam

Über­setzt von

Ursu­la Keller

Ori­gi­nal­spra­che

Rus­sisch

Ori­gi­nal­ti­tel

Воспоминания

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die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Erinnerungen::781.html

„Nach­dem er Ale­xej Tol­s­toj geohr­feigt hat­te, kehr­te O. M. eilends nach Mos­kau zurück.“ Gleich mit dem ers­ten Satz taucht uns Nadesch­da Man­del­s­tam mit­ten in die poli­ti­schen Untie­fen der sowje­ti­schen Gesell­schaft ein. Hin­ter dem Kür­zel O. M. ver­birgt sich kein Gerin­ge­rer als der gro­ße Dich­ter Ossip Man­del­s­tam, der zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts mit Niko­lai Gumil­jow und Anna Ach­ma­towa das Drei­ge­stirn der ein­fluss­rei­chen Akmeis­mus-Strö­mung bil­de­te. Doch die neue Sowjet­macht sorg­te schnell dafür, dass die­se hel­len Ster­ne erlo­schen: einer erschos­sen, einer im Gulag gestor­ben, eine mund­tot gemacht.

Man­del­s­tams Wit­we Nadesch­da ist es zu ver­dan­ken, dass sein dich­te­ri­sches Werk – wenn auch nicht er selbst – den sta­li­nis­ti­schen Ter­ror über­lebt hat. Sie erkennt, dass die Ernied­rig­ten und Belei­dig­ten über erlit­te­nes Unrecht nicht schwei­gen dür­fen. Und so erhebt sie nach jahr­zehn­te­lan­gem Schwei­gen ihre Stim­me, damit die Welt sie hört:

В этом жалком вое, который иногда неизвестно откуда доносился в глухие, почти звуконепроницаемые камеры, сконцентрированы последние остатки человеческого достоинства и веры в жизнь. Этим воем человек оставляет след на земле и сообщает людям, как он жил и умер. Воем он отстаивает свое право на жизнь, посылает весточку на волю, требует помощи и сопротивления. Если ничего другого не осталось, надо выть. Молчание — настоящее преступление против рода человеческого.
In die­sem bemit­lei­dens­wer­ten Heu­len, das mit­un­ter in die abge­schie­de­nen, fast schall­dich­ten Gefäng­nis­zel­len drang, sind die letz­ten Res­te mensch­li­cher Wür­de und des Glau­bens an das Leben ver­dich­tet. Mit die­sem Heu­len hin­ter­lässt der Mensch eine Spur auf der Erde und teilt den ande­ren mit, wie er gelebt hat und gestor­ben ist. Mit dem Heu­len ver­tei­digt er sein Recht auf Leben, schickt eine klei­ne Bot­schaft in die Frei­heit, ruft um Hil­fe und for­dert Wider­stand. Bleibt einem nichts mehr, so muss man laut auf­heu­len. Zu schwei­gen ist wahr­lich ein Ver­bre­chen gegen die mensch­li­che Spezies.

Wie schwer es war, sich Gehör zu ver­schaf­fen, zeigt die Publi­ka­ti­ons­ge­schich­te die­ses ein­ma­li­gen Lebens­be­richts: Das 30 Jah­re nach dem Tod ihres Man­nes ver­fass­te und aus der Sowjet­uni­on geschmug­gel­te Manu­skript erschien 1970 zunächst in einem rus­si­schen Ver­lag in New York. In Russ­land selbst konn­te es erst nach der Pere­stroi­ka 1989 ver­öf­fent­licht wer­den – bis dahin war die­ses dun­kels­te Kapi­tel der sowje­ti­schen Geschich­te tabu (und ist es zum Teil heu­te noch). 1971 erschien eine gekürz­te Über­set­zung von Eli­sa­beth Mahler, doch nun macht Die Ande­re Biblio­thek Man­del­s­tams Erin­ne­run­gen an das Jahr­hun­dert der Wöl­fe (der deut­sche Titel spielt auf Ossip Man­del­s­tams berühm­tes Gedicht vom „Wolfs­hund-Jahr­hun­dert“ an) in der Über­set­zung von Ursu­la Kel­ler erst­mals voll­stän­dig auf Deutsch zugäng­lich – ein Glücks­fall für die Lese­rin­nen und Leser, die end­lich nicht nur die Schil­de­rung der Ver­haf­tun­gen und Ver­ban­nung von Ossip Man­del­s­tam, son­dern auch Nadesch­da Man­del­s­tams luzi­de Beob­ach­tun­gen der sowje­ti­schen Gesell­schaft in vol­ler Län­ge lesen können.

Nach der Macht­er­grei­fung der Bol­sche­wi­ki zog sich die Schlin­ge um unan­ge­pass­te Dich­ter wie Man­del­s­tam und Ach­ma­towa immer fes­ter zu. Ende der 1920er Jah­re gab es für sie so gut wie kei­ne Publi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten mehr, sie hiel­ten sich müh­sam mit Über­set­zun­gen, Zeit­schrif­ten­ar­ti­keln und Ver­lags­gut­ach­ten über Was­ser. Der All­tag unter Sta­lin war von Angst und Arg­wohn durch­drun­gen, beim kleins­ten Anlass erschra­ken  die Men­schen zu Tode – „bei uner­war­te­tem Besuch, wenn Auto­mo­bi­le vor dem Haus hiel­ten oder wenn sich in der Nacht plötz­lich der Fahr­stuhl in Bewe­gung setz­te“ (все советские граждане пугались неожиданных посетителей, машин, если они останавливались у дома, и поднимающегося ночью лифта). Alle konn­ten jeder­zeit – frei­wil­lig oder erzwun­gen – zum Spit­zel wer­den, sei es, um auf der Kar­rie­re­lei­ter nach oben zu klet­tern, den Makel der eige­nen unpro­le­ta­ri­schen Her­kunft aus­zu­glei­chen oder um Ange­hö­ri­ge vor Ver­fol­gung zu schüt­zen – der Geheim­dienst, die berüch­tig­te Tsche­ka, fand bei allen einen schwa­chen Punkt. Was man auch sag­te, konn­te gegen einen ver­wen­det wer­den, denn die staat­li­che Ver­haf­tungs­ma­schi­ne­rie funk­tio­nier­te nach der zyni­schen Logik: „Hat man erst jeman­den, fin­det sich schon irgend­was.“ („Был бы человек — дело найдется.“)

Auch Nadesch­da Man­del­s­tam macht sich kei­ne Illu­sio­nen über ihre Mit­men­schen. Lako­nisch beschreibt sie das all­ge­gen­wär­ti­ge Weg­se­hen und die Angst, die gan­ze Gene­ra­tio­nen des Homo sovie­ti­cus geprägt hat:

Мы все пошли на мировую: молчали, надеясь, что убьют не нас, а соседа. Мы даже не знаем, кто среди нас убивал, а кто просто спасался молчанием.
Wir alle gin­gen den Weg des gerings­ten Wider­stands. Wir schwie­gen, in der Hoff­nung, man möge nicht uns, son­dern unse­ren Nach­barn töten. Wir wuss­ten nicht ein­mal, wer unter uns ein Mör­der war und wer ein­fach nur sein Leben durch Schwei­gen rettete.

Um zu über­le­ben, muss­te man ler­nen, eine Mas­ke zu tra­gen, denn wer sei­ne wah­ren Gefüh­le und Gedan­ken zeig­te, brach­te damit sich und ande­re in Gefahr. Für die Autorin waren die Ver­fol­ger eben­so Opfer des Ter­rors wie die Verfolgten:

Такая жизнь даром не сходит. Все мы стали психически сдвинутыми, чуть-чуть не в норме, не то чтобы больными, но не совсем в порядке — подозрительными, залгавшимися, запутавшимися, с явными задержками в речи и подозрительным, несовершеннолетним оптимизмом. Годятся ли такие, как мы, в свидетели? Ведь в программу уничтожения входило и искоренение свидетелей.
Ein Leben wie die­ses geht nicht spur­los an den Men­schen vor­über. Wir alle sind psy­chisch lädiert, leicht neben der Norm, nicht krank, aber auch nicht ganz gesund – arg­wöh­nisch, in Lügen ver­strickt, ver­wirrt, mit augen­fäl­li­gen Ver­zö­ge­run­gen in unse­rer Spra­che und einem ver­däch­ti­gen unrei­fen Opti­mis­mus. Sind Men­schen wie wir als Zeu­gen geeig­net? Zum Pro­gramm der Ver­nich­tung gehör­te ja auch die Ver­nich­tung der Zeugen.

Ursu­la Kel­ler gelingt es sou­ve­rän, uns die­se schwie­ri­ge Welt zu eröff­nen. Sie bleibt Man­del­s­tams distan­zier­tem Stil treu und erzielt gera­de dadurch auch im Deut­schen eine ein­dring­li­che Wir­kung. Zwei Jah­re hat sie an der Über­set­zung gear­bei­tet und einen deut­schen Text geschaf­fen, der so nah wie mög­lich am rus­si­schen Ursprungs­text bleibt und gleich­zei­tig sehr gut les­bar ist. Die zahl­rei­chen Anspie­lun­gen auf Per­so­nen oder Ereig­nis­se, die für deut­sche Lese­rin­nen und Leser ver­wir­rend sein kön­nen, erklärt sie in einem fast 200-sei­ti­gen, sorg­fäl­tig recher­chier­ten Anmer­kungs­ap­pa­rat, in dem man alle poli­ti­schen Hin­ter­grün­de, Abgrün­de und Ver­flech­tun­gen nach­le­sen kann. Allein für die­se Leis­tung hät­te sie eine Aus­zeich­nung als „Hel­din der Über­set­zung“ verdient.

Im Mai 1934 wird Ossip Man­del­s­tam ver­haf­tet und sei­ne Woh­nung von Tsche­kis­ten durch­sucht. Der Grund ist jedoch nicht die ein­gangs erwähn­te Ohr­fei­ge, die er dem spä­te­ren Vor­sit­zen­den des Schrift­stel­ler­ver­bands der UdSSR ver­ab­reicht hat, son­dern ein Gedicht, in dem er von Sta­lin als dem „Berg­men­schen im Kreml, dem Knech­ter, / vom Ver­der­ber der See­len und Bau­ern­ab­schläch­ter“ spricht und das er unvor­sich­ti­ger­wei­se eini­gen Freun­den und Bekann­ten vor­ge­tra­gen hat. Dafür ist ihm die Todes­stra­fe sicher. Doch offen­bar ist von ganz oben der Befehl „Iso­lie­ren, aber erhal­ten“ („изолировать, но сохранить“) erteilt wor­den. Und so lau­tet das Urteil statt Erschie­ßung oder Zwangs­ar­beit beim Kanal­bau (eben­falls ein so gut wie siche­res Todes­ur­teil) wun­der­sa­mer­wei­se nur drei Jah­re Ver­ban­nung in der Provinz.

Im Exil in Woro­nesch vege­tie­ren die Man­del­s­tams wie Pari­as dahin. Durch die Unter­su­chungs­haft ist Ossips Gesund­heit zer­rüt­tet, er lei­det noch mona­te­lang unter Wahn­vor­stel­lun­gen. Doch zum Aus­ru­hen ist kei­ne Zeit, er spürt, dass sein Todes­ur­teil nur auf­ge­scho­ben ist, dass ihm die Zeit davon­läuft, und so arbei­tet er wie ein Getrie­be­ner an sei­nem lyri­schen Ver­mächt­nis, den drei Woro­ne­scher Hef­ten:

Все предвещало близкий конец, и О. М. старался использовать последние дни. Им владело одно чувство: надо торопиться, не то оборвут и не дадут чего-то досказать. Иногда я умоляла его отдохнуть, выйти погулять, поспать, но он только отмахивался: нельзя, времени в обрез, надо торопиться…
Alles deu­te­te auf ein nahes Ende hin, und O. M. such­te die Zeit, die ihm noch blieb, zu nut­zen. Ihn trieb vor allem das Gefühl an, er müs­se sich beei­len, denn er fürch­te­te, es kön­ne plötz­lich zu spät sein, und er wer­de nicht mehr alles sagen kön­nen, was er noch sagen woll­te. Mit­un­ter bat ich ihn, er möge sich scho­nen, ein wenig spa­zie­ren gehen, schla­fen, aber er wink­te stets ab. „Ich kann nicht, ich habe kei­ne Zeit mehr, ich muss mich beeilen.“

Auch wenn man die knap­pe, durch Ellip­sen und Prä­fi­xe hoch­ver­dich­te­te Struk­tur des Rus­si­schen hier kaum nach­bil­den kann, gelingt es der Über­set­ze­rin, eben­falls eine sprach­li­che Dyna­mik her­zu­stel­len, die der inne­ren Ver­fasst­heit des tod­ge­weih­ten Dich­ters ent­spricht. Und auch sonst beweist Ursu­la Kel­ler sti­lis­ti­sche Treff­si­cher­heit. Man­del­s­tams Bericht über die ste­tig wach­sen­de Unfrei­heit in den 1920er und 1930er Jah­ren schlägt meist einen nüch­tern-sach­li­chen Ton­fall an, der einen star­ken Kon­trast zu den all­täg­lich erleb­ten Schre­cken bil­det. Dabei streut sie wohl­do­siert flap­si­ge Bemer­kun­gen ein, zum Bei­spiel, als sich Nadesch­da und Anna Ach­ma­towa in die Küche ver­drü­cken und im Wohn­zim­mer „O. M. dem Gedich­te­lieb­ha­ber Brod­skij zum Fraß über­las­sen“ (… предоставив О. М. на растерзание стихолюбивому Бродскому). Nur sel­ten blitzt durch ihre lako­ni­sche Schil­de­rung der Kum­mer über das ver­pass­te gemein­sa­me Leben durch:

Подумать только, что и у нас могла быть обыкновенная жизнь с разбитыми сердцами, скандалами и разводами! Есть же на свете безумцы, которые не знают, что именно это и есть нормальная человеческая жизнь и к ней надо всеми силами стремиться. Чего только не отдашь за такую драму!
Wenn ich mir nur vor­stel­le, dass auch wir ein ganz gewöhn­li­ches Leben mit gebro­che­nen Her­zen, Streit und Schei­dung hät­ten füh­ren kön­nen! Es gibt doch tat­säch­lich Wahn­sin­ni­ge auf die­ser Welt, die nicht wis­sen, dass genau dies das ganz nor­ma­le Leben eines Men­schen ist, und dass es die­ses Leben ist, nach dem man mit aller Kraft stre­ben soll­te. Was gäbe ich für ein sol­ches Drama!

Ursu­la Kel­ler weiß die gesam­te sprach­li­che Kla­via­tur von unper­sön­li­cher Behör­den­spra­che bis zu unter­drückt-bit­te­rer Iro­nie per­fekt ein­zu­set­zen und schafft durch dezent wech­seln­de Aus­drucks­nu­an­cen eine berei­chern­de Lektüre.

Nicht zuletzt gewäh­ren uns die Erin­ne­run­gen an das Jahr­hun­dert der Wöl­fe ein­zig­ar­ti­ge Ein­bli­cke in den dich­te­ri­schen Ent­ste­hungs­pro­zess. Dem Über­set­zer Ralph Dut­li ist es zu ver­dan­ken, dass Man­del­s­tams Gesamt­werk schon seit Län­ge­rem auf Deutsch zugäng­lich ist. Hier erfah­ren wir nun aus ers­ter Hand, was den Dich­ter zu bestimm­ten Moti­ven ange­regt hat, wie man­che sei­ner Ver­se ent­stan­den sind und sich wei­ter­ent­wi­ckelt haben, was noch­mal einen ganz neu­en, voll­stän­di­ge­ren Zugang zu den Gedich­ten eröffnet.

Весь процесс сочинения состоит в напряженном улавливании и проявлении уже существующего и неизвестно откуда транслирующегося гармонического и смыслового единства, постепенно воплощающегося в слова.

Последний этап работы — изъятие из стихов случайных слов, которых нет в том гармоническом целом, что существует до их возникновения. Эти случайно прокравшиеся слова были поставлены наспех, чтобы заполнить пробел, когда проявлялось целое. Они застряли, и их удаление тоже тяжелый труд. На последнем этапе происходит мучительное вслушивание в самого себя в поисках того объективного и абсолютно точного единства, которое называется стихотворением.

Der gesam­te Schaf­fens­pro­zess des Dich­tens besteht im müh­sa­men Erfas­sen und Auf­tau­chen­las­sen einer bereits exis­ten­ten und aus unbe­kann­ter Quel­le über­tra­ge­nen har­mo­ni­schen Sinn­ein­heit, die all­mäh­lich ihren Aus­druck in Wor­ten findet.

Der letz­te Arbeits­schritt schließ­lich ist die Aus­son­de­rung der zufäl­lig ins Gedicht gelang­ten Wör­ter, die sich nicht in das har­mo­ni­sche Gan­ze ein­fü­gen, das vor Ent­ste­hung der Ver­se bereits vor­han­den ist. Die­se Wör­ter, die sich zufäl­lig in die Ver­se hin­ein­ge­mo­gelt hat­ten, waren in der Eile gewählt wor­den, um Leer­stel­len zu fül­len, als sich das Gan­ze ent­wi­ckel­te. Sie setz­ten sich fest, und sie wie­der zu ent­fer­nen war eben­falls müh­se­li­ge Arbeit. Die­ser letz­te Schritt ist ein quä­len­des Insich­hin­ein­hor­chen auf der Suche nach jenem objek­ti­ven und abso­lu­ten ein­heit­li­chen Gan­zen, das Gedicht genannt wird.

Nadesch­da Man­del­s­tam arbei­tet uner­müd­lich dar­an, die Gedich­te ihres Man­nes für die Nach­welt zu bewah­ren: Sie fer­tigt Abschrif­ten an, ver­steckt oder ver­teilt sie unter den weni­gen ver­trau­ens­wür­di­gen Freun­den, in der Hoff­nung, dass wenigs­tens ein Teil von ihnen den stän­di­gen Haus­durch­su­chun­gen ent­geht, und lernt die Gedich­te aus­wen­dig. Infol­ge ihres „Kamp­fes gegen die Urge­wal­ten“ (борьбы со стихией) kann ein Groß­teil der Lyrik und Pro­sa­stü­cke erhal­ten werden.

Bei der Rück­kehr der Man­del­s­tams nach Mos­kau im Mai 1937 befin­det sich der Gro­ße Ter­ror auf dem Höhe­punkt, und es „gab nur noch zwei Wege aus dem Gefäng­nis – ins Lager oder ins Jen­seits.“ (Из тюрьмы открывались только две дороги: в лагерь или на тот свет.) In ihre Mos­kau­er Woh­nung dür­fen sie nicht zurück, Ossip Man­del­s­tam erlei­det mit gera­de mal 46 Jah­ren zwei Herz­an­fäl­le, Selbst­mord­ge­dan­ken ste­hen im Raum. Im Mai 1938 wird er erneut ver­haf­tet. Sei­nen Tod (er stirbt ver­mut­lich am 27. Dezem­ber 1938 in einem fern­öst­li­chen Durch­gangs­la­ger an Krank­heit und Ent­kräf­tung) sieht Nadesch­da als Teil sei­nes Lebens­werks: „Der Tod eines Künst­lers ist kein zufäl­li­ges Schick­sal, son­dern ein letz­ter schöp­fe­ri­scher Akt.“ (Смерть художника не случайность, а последний творческий акт.)

Nadesch­da selbst führt noch wei­te­re 20 Jah­re ein Noma­den­le­ben, immer knapp unter dem Radar der Behör­den. Das ret­tet ihr nach eige­ner Ein­schät­zung das Leben: „Ich habe Obdach­lo­sig­keit und Wur­zel­lo­sig­keit von Man­del­s­tam geerbt. Nur des­halb hat man ver­ges­sen, auch mich mit der Wur­zel aus­zu­rot­ten.“ (От Мандельштама я унаследовала бездомность и полное отсутствие корней. Именно поэтому меня забыли выкорчевать.) Bis zum Schluss lässt sie sich eben­so wenig ein­schüch­tern wie ihr Mann, für den Poe­sie Macht bedeutet:

О. М. держал себя как власть имущий, и это только подстрекало тех, кто его уничтожал. Ведь они-то понимали, что власть — это пушки, карательные учреждения, возможность по талонам распределять все, включая славу, и заказывать художникам свои портреты. Но О. М. упорно твердил свое — раз за поэзию убивают, значит, ей воздают должный почет и уважение, значит, ее боятся, значит, она — власть…
O. M. trat auf wie jemand, der über Macht ver­füg­te, und das mach­te jene, die ihn ver­folg­ten, ganz beson­ders wütend. In ihrem Ver­ständ­nis war Macht der Besitz von Waf­fen, ein Geheim­dienst, die Mög­lich­keit, alles, auch den Ruhm, auf Bezugs­schei­ne zuzu­tei­len und beim Künst­ler Selbst­por­träts in Auf­trag zu geben. O. M. jedoch wie­der­hol­te beharr­lich sei­nen Stand­punkt: Wenn man Men­schen umbringt, weil sie Gedich­te schrei­ben, bedeu­tet das, dass der Dich­tung die ihr zuste­hen­de Hoch­ach­tung und der ihr zuste­hen­de Respekt erwie­sen wird, das bedeu­tet, dass man sie fürch­tet, und das wie­der­um bedeu­tet, dass sie eine Macht ist.

Am Ende trägt Ossip Man­del­s­tams dich­te­ri­sches Werk dank sei­ner Frau tat­säch­lich den Sieg davon über alle, die ihn zum Ver­stum­men brin­gen woll­ten. Und auch Nadesch­da Man­del­s­tam stellt die Macht der Poe­sie in ihrem lite­ra­ri­schen Ver­mächt­nis ein­drück­lich unter Beweis. Sie zeigt, wie einem Men­schen sys­te­ma­tisch und schlei­chend die sozia­le und geis­ti­ge Lebens­grund­la­ge genom­men wer­den kann, bis sei­ne phy­si­sche Ver­nich­tung nur noch die letz­te logi­sche Kon­se­quenz ist. Aus ihren scharf­sich­ti­gen Gesell­schafts­por­träts spricht eine beein­dru­cken­de Frau, ohne deren Mut und Aus­dau­er Ossip Man­del­s­tams Werk wohl größ­ten­teils ver­lo­ren gewe­sen wäre. Ursu­la Kel­lers prä­zi­ser Über­set­zung ist es zu ver­dan­ken, dass die­ses wich­ti­ge Doku­ment einer Zeit­zeu­gin nun auch auf Deutsch voll­stän­dig zugäng­lich ist und man sich Man­del­s­tam und sei­ner Epo­che auf eine ganz per­sön­li­che Wei­se nähern kann.

Drei Fra­gen an Ursu­la Keller

Wie sind Sie in die sowje­ti­sche Welt der 1920er und 1930er Jah­re ein­ge­taucht, eine Welt, die zuneh­mend geprägt war von Angst und Ter­ror sowie von der Ver­fol­gung gro­ßer Dich­te­rin­nen und Dich­ter wie Ossip Man­del­s­tam und Anna Achmatowa?

In mei­nen Büchern als Über­set­ze­rin und Autorin habe ich mich bis­her haupt­säch­lich mit der Lite­ra­tur des 19. Jahr­hun­derts befasst, aber spä­tes­tens in den 1860er Jah­ren begann bereits der revo­lu­tio­nä­re Weg, der schließ­lich in den Sta­li­nis­mus geführt hat. Die Fra­ge, ob Gewalt als Mit­tel der Poli­tik legi­tim ist, stand seit­dem auf der Tages­ord­nung der Geg­ner des zaris­ti­schen Regimes, und nach der soge­nann­ten Okto­ber-Revo­lu­ti­on 1917 haben sich mit den Bol­sche­wi­ki eine Grup­pie­rung von Befür­wor­tern einer Poli­tik der Gewalt durch­ge­setzt und ihre Wider­sa­cher vernichtet.

Die Über­set­zung der Wer­ke von Michail Oss­or­gin, einem Autor, der seit 1922 im Exil in Frank­reich leb­te und in sei­nen halb­au­to­bio­gra­phi­schen Roma­nen die vor­re­vo­lu­tio­nä­re Epo­che und das Leben in den Jah­ren kurz vor und nach der Revo­lu­ti­on 1917 in Mos­kau beschreibt, war so etwas wie die Vor­be­rei­tung auf die Über­set­zung von Nadesch­da Man­del­s­tams Erin­ne­run­gen.

Wenn man sich lan­ge mit einem Werk beschäf­tigt, kommt man der Autorin/dem Autor sehr nahe, man lebt sozu­sa­gen mit ihr/ihm zusam­men, sie wer­den Teil des eige­nen All­tags und des eige­nen Lebens. Bei der Über­set­zung von Nadesch­da Man­del­s­tams Erin­ne­run­gen sind das zwei sehr star­ke und ein­drucks­vol­le Per­sön­lich­kei­ten, die den eige­nen Wer­ten und Über­zeu­gun­gen treu geblie­ben sind. Einer von ihnen, Ossip Man­del­s­tam, hat sei­ne Unbeug­bar­keit mit dem Leben bezahlt. Bei die­ser Arbeit habe ich mich natür­lich auch ein­ge­hend mit Ossip Man­del­s­tam, mit sei­nem Leben und Werk befasst. Das Gesamt­werk Ossip Man­del­s­tams hat Ralph Dut­li auf Deutsch zugäng­lich gemacht, und sei­ne Über­set­zun­gen der Gedich­te, auf die Nadesch­da Man­del­s­tam in ihren Erin­ne­run­gen immer wie­der Bezug nimmt, waren wich­ti­ge Bücher in mei­ner Hand­bi­blio­thek wäh­rend der Arbeit an mei­ner Über­set­zung. (Lei­der ist in der End­pha­se der Buch­pro­duk­ti­on die Refe­renz auf die Über­set­zun­gen ver­ges­sen wor­den, das Ver­säum­nis ist aber umge­hend vom Ver­lag kor­ri­giert wor­den und wird in fol­gen­den Auf­la­gen berücksichtigt).

In ihrer Beschrei­bung des Lebens in der Welt der Grau­sam­keit und des Wider­sinns einer Dik­ta­tur legt Nadesch­da Man­del­s­tam sehr ein­dring­lich dar, dass der Sta­li­nis­mus sozu­sa­gen der End­punkt einer Poli­tik der Gewalt von Jah­ren und Jahr­zehn­ten war. Und zugleich hat sie sich mit ihren Erin­ne­run­gen, so glau­be ich, ihre Trau­ma­ta von der See­le geschrie­ben. Ihre Erin­ne­run­gen sind einer­seits die Auf­ar­bei­tung der per­sön­li­chen Geschich­te, zugleich aber auch eine sehr klu­ge Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Sta­li­nis­mus. Die zeit­lo­sen Refle­xio­nen über das Wesen der Dik­ta­tur und wie das Leben in einem dik­ta­to­ri­schen Sys­tem den Men­schen ver­än­dert, habe ich als sehr berei­chernd empfunden.

Die deut­sche Erst­über­set­zung ist eine gekürz­te Fas­sung. Kön­nen Sie das Bestre­ben, Nadesch­da Man­del­s­tams (unlek­to­riert ver­öf­fent­lich­tes) Manu­skript zu straf­fen, nachvollziehen?

Die Kür­zun­gen in der Erst­über­set­zung sind ziem­lich will­kür­lich, meist han­delt es sich um Sät­ze und Absät­ze, die sprach­lich dun­kel und schwer ver­ständ­lich sind. Es wur­den jedoch auch die bei­den Kapi­tel, in denen es um die Ent­ste­hung von Gedich­ten und den dich­te­ri­schen Arbeits­pro­zess geht, gekürzt und zu einem Kapi­tel zusam­men­ge­fasst. Die­se bei­den Kapi­tel sind sprach­lich sehr anspruchs­voll und haben mich sehr viel Schweiß und manch­mal sogar Trä­nen gekos­tet, inso­fern kann ich es durch­aus nach­voll­zie­hen, dass man in die Ver­su­chung gerät, hier ein wenig zu straf­fen. Aller­dings bin ich ja Über­set­ze­rin und nicht Lek­to­rin, und das Redi­gie­ren oder ver­meint­li­che Ver­bes­sern eines Tex­tes ist nicht mei­ne Auf­ga­be. Ich habe die­sen Text, der ja tat­säch­lich nie lek­to­riert wur­de, als Doku­ment der Zeit, in der er ent­stan­den ist, betrach­tet. Der Text ist mit all sei­nen Red­un­dan­zen und Wie­der­ho­lun­gen ein wich­ti­ges und bis heu­te aktu­el­les Buch.

Die Auf­fas­sung davon, was Über­set­zung ist, hat sich ja in den letz­ten Jah­ren stark ver­än­dert. Frü­her – und das gilt auch für die Zeit des Erschei­nens der ers­ten Über­set­zung – ist man als Übersetzerin/Übersetzer sehr viel frei­er mit dem Ori­gi­nal umge­gan­gen, als es heu­te statt­haft ist. Da wur­den dann in einer Über­set­zung auch mal sei­ten­lan­ge Natur­be­schrei­bun­gen gestri­chen, weil sie der Übersetzerin/dem Über­set­zer (oder dem Ver­lag) als über­flüs­sig erschie­nen. Heu­te ist die Hal­tung dem Ori­gi­nal­text gegen­über eine ande­re, der Ansatz ein phi­lo­lo­gisch genaue­rer. Wir haben heu­te ein viel brei­ter gefä­cher­tes Instru­men­ta­ri­um der Arbeit an und mit Texten.

Trotz ihrer eige­nen Über­set­zer­tä­tig­keit kommt die Über­set­zer­zunft bei Nadesch­da Man­del­s­tam nicht beson­ders gut weg. Sie schreibt:

Der Arbeits­pro­zess einer Über­set­zung ist dem schöp­fe­ri­schen Pro­zess der Arbeit an Gedich­ten voll­kom­men ent­ge­gen­ge­setzt. (…). Die Über­set­zung an sich (…) ist ein küh­ler und ver­nunft­mä­ßi­ger Akt der Veri­fi­zie­rung, in dem dich­te­ri­sche Ele­men­te nach­ge­ahmt wer­den. Es mag merk­wür­dig anmu­ten, doch bei der Über­set­zung ist zuvor kein ein­heit­li­ches Gan­zes vor­han­den. Der Über­set­zer kur­belt sich selbst an wie einen Motor und ruft durch lang­wie­ri­ge, mecha­ni­sche Bemü­hung jene Melo­die her­bei, die er braucht. Er ver­fügt nicht über das, was Cho­das­se­witsch sehr zutref­fend als „Wahr­neh­mung von etwas Gehei­mem, Ver­bor­ge­nem“ bezeich­net hat. Die Beschäf­ti­gung mit Über­set­zung ist dem wah­ren Dich­ter kon­tra­in­di­ziert, denn sie ist tat­säch­lich geeig­net, die Ent­ste­hung von Gedich­ten zu verunmöglichen.

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Nadesch­da Man­del­s­tam spricht hier über den beson­de­ren Fall der Über­set­zung von Gedich­ten. Die untrenn­ba­re Ein­heit von äuße­rer Form mit Rhyth­mus, Reim usw. und Inhalt eines Gedichts in einer Spra­che mit ande­rer Sprach­struk­tur nach­zu­bil­den, stellt den Übersetzer/die Über­set­ze­rin vor beson­de­re Her­aus­for­de­run­gen. Vla­di­mir Nabo­kov, der in drei Spra­chen zu Hau­se war, hielt die Über­set­zung von Gedich­ten sogar für unmög­lich. Er über­setz­te Alex­an­der Pusch­kins Vers­ro­man Evge­nij One­gin aus dem Rus­si­schen ins Eng­li­sche und ver­zich­te­te dabei ganz bewusst auf die Vers­form, weil er der Ansicht war, dass die Über­set­zung in Vers­form dem Ori­gi­nal nicht gerecht wer­den kön­ne. Und er füg­te sei­ner Über­set­zung einen umfang­rei­chen und höchst geist­vol­len Kom­men­tar zu allen lite­ra­ri­schen, bio­gra­phi­schen und his­to­ri­schen Bezü­gen bei, ohne die die Lek­tü­re des Evge­nij One­gin nur der hal­be Genuss wäre, wobei der Kom­men­tar etwa vier Mal so umfang­reich ist wie Pusch­kins Meis­ter­werk selbst.

Als Über­set­ze­rin und Autorin füh­re ich so etwas wie eine „Dop­pel­exis­tenz“. Und ich kann bestä­ti­gen, dass Schrei­ben und Über­set­zen ganz unter­schied­li­che For­de­run­gen an mich stel­len. Wenn ich schrei­be, den­ke ich oft, wie viel ein­fa­cher das Über­set­zen doch ist, und wenn ich über­set­ze, scheint mir das Schrei­ben oft ein­fa­cher. Beim Über­set­zen muss man sich ganz auf den Text und auf die Autorin/den Autor ein­stel­len und ver­su­chen, den Ton­fall, den Stil zu tref­fen. Beim Schrei­ben hin­ge­gen kann man den eige­nen Stil kul­ti­vie­ren. Wobei mei­ne bei­den Exis­ten­zen ein­an­der auch ergän­zen. Die Genau­ig­keit, die es beim Über­set­zen braucht, schärft den Blick für die eige­ne Sprache.

Es dau­ert immer eine Zeit­lang, bis ich mich in den Rhyth­mus des Tex­tes hin­ein­fin­de. Ein Pro­fes­sor der Sprach­wis­sen­schaft hat mich ein­mal gefragt, was für mich das Schwie­rigs­te am Über­set­zen sei, und er war ganz ver­wun­dert, als ich ant­wor­te­te, am schwers­ten fal­le es mir, mich auf den Stil den Autors ein­zu­stel­len, mich auf die­sen ein­zu­schwin­gen. Er hat­te erwar­tet, dass die Schwie­rig­kei­ten in der unter­schied­li­chen Struk­tur der bei­den Spra­chen liegt, also z. B. im unter­schied­li­chen Tem­pus-Sys­tem, in der Syn­tax, die im Rus­si­schen viel frei­er ist o. ä. Aber die Beherr­schung der Spra­che, aus der über­setzt wird, eben­so wie die der eige­nen Spra­che sind ja ledig­lich die Grund­la­gen, auf die man beim Über­set­zen auf­baut. Über­set­zen ist ein Hand­werk, das man erler­nen kann. Den­noch braucht es zugleich die Bega­bung, ohne die das Hand­werk nicht fun­keln kann. Das ist bei jedem Hand­werk so.

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