Selbstherrlich und präpotent kommt sie daher, die schleichende Machtergreifung einer obskuren autoritären Gruppierung: Plötzlich ist nichts mehr so wie zuvor, ihr bisheriges Leben zerbricht – wie konnte das passieren? Was haben wir nicht gehört, fragt sich die Ich-Erzählerin, gab es Warnsignale?
Quelque chose nous attendait, et il était trop tard pour l’éviter.Etwas erwartete uns, und es war zu spät, ihm aus dem Weg zu gehen.
Immer wieder, ungläubig, fragt die Ich-Erzählerin: „Wer sind Sie?“ Zuerst bleibt sie vage, und doch hat diese Stimme Macht über die Protagonisten des Romans. Sie, die Schriftstellerin, solle einen Sound Blog produzieren und abliefern, ohne dass ihr Einfluss darauf, was aus ihren MP3-Dateien wird, eingeräumt wird! Und sehr bald wird sehr klar: Die mächtige Stimme kann auf Unterstützer zurückgreifen, die sie hätten hindern können, nach Berlin zu fahren, weil sie der ständigen Bevormundung hat entfliehen wollen.
Nous n’aurions pas dû vous laisser partir. Vous auriez pu m‘en empêcher? Nos moyens sont plus importants que vous ne croyez.Wir hätten Sie nicht weggehen lassen sollen. Hätten Sie mich daran hindern können?
Unsere Mittel sind beachtlicher, als Sie glauben.
Bald stellt sich heraus, die Gruppierung hat ein Ziel: die Zerstörung all dessen, was da ist an demokratischen Strukturen, Freiheiten und Grundrechten – zugunsten staatlicher Autorität, Regeln, Kontrollen, Einschränkungen und der Abschaffung der Kultur – ein zeitlos aktueller Roman!
Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot beschreibt in ihrem Roman Destruction, der 2019 in Frankreich erschienen ist, die Auflösung der Fundamente einer freien und demokratischen Gesellschaft. Wajsbrot erstellt eine brillante Gesellschaftsanalyse, oft in kurzen, einfachen Sätzen, die um so melodischer wirken, wenn man sie schnell liest – sie entwickeln eine Dynamik und einen Leserhythmus. Wajsbrot entwirft gewaltige, surreal anmutende, teils düstere Bilder. Die Gefahr ist diffus, unsichtbar, ungreifbar, aber wirkmächtig.
Wajsbrot, aus polnisch-jüdischer Familie, schrieb diesen Roman als Reaktion auf den Aufstieg der Front National bei der letzten Präsidentenwahl 2017: Sie beschreibt ihre Zweifel an den französischen Intellektuellen, vor allem an deren politischer Abgehobenheit. Intensiv beleuchtet sie auch ihre Selbstzweifel und fragt sich, ob nicht auch sie versagt hat. Sie identifiziert dabei in ihrer Analyse einen wichtigen Aspekt dieses Aufstiegs: die Sprache. Mit meisterhafter Klarheit und analytischer Schärfe arbeitet sie den Gegensatz zur Sprache der Populisten heraus, deren Strategie es ist, Sprache zu vereinfachen. Es gibt keine komplexen Inhalte, Komplexität kann diese neue Sprache nicht ausdrücken, denn Nebensätze sind verboten, die Satzstruktur mit drei Elementen, Subjekt, Verb und Objekt sind zwingend vorgeschrieben.
N’utiliser que le présent, employer le moins d’adjectifs possible, pas de subordonnées. La phrase idéale comporte trois mots, le sujet, le verbe et le complément. Pas de coordination, la juxtaposition. Ainsi détruit-on la suite des idées, ainsi détruit-on la pensée.Nur die Gegenwartsform verwenden, so wenig Adjektive wie möglich, keine Nebensätze. Der ideale Satz besteht aus drei Wörtern, Subjekt, Verb, Objekt. Keine zusammengesetzte Sätze, sondern Aneinanderreihungen. So wird die Abfolge von Ideen, so wird das Denken zerstört.
Dennoch hat diese Reduktion, die Simplizität der Welt, eine starke Anziehungskraft und wird zum Vehikel des Erfolgs der Autoritären. Die Zukunft wird geformt, wie sie sein soll, sprachliche Manipulation bewirkt das Denken, ist ihr Fazit.
Anne Weber hat den Roman, der diese beängstigende Dystopie schildert, ins Deutsche übersetzt. Sie ist mit Cécile Wajsbrot befreundet, beide leben in Paris. Zwei Sprachgewaltige, denn beide sind Schriftstellerinnen und Übersetzerinnen, kennen beide Metiers.
Anne Weber ist keine Unbekannte. Sie erhielt 2016 den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung „für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Übersetzung“ und 2017 wurde sie mit dem renommierten Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet, wie übrigens Cécile Wajsbrot 2014 vor ihr. Anne Weber nutzt vorwiegend drei Verfahren, mit denen es ihr gelingt, ein eigenes übersetztes Werk aus dem Ausgangstext zu erschaffen:
1. Sie übersetzt „treu“, Wort für Wort, fast schon 1:1 zwischen Ausgangs- und Zieltext. Außergewöhnlich ist, dass sie das Kunststück vollbringt, gleichzeitig sehr nah am Text und doch auch eigen zu übersetzen: Nirgendwo hat man das Gefühl, dass im Deutschen französische Strukturen feststellbar wären, die der Treue geschuldet sind. Wüsste man nicht, dass sie aus dem Französischen übersetzt, man könnte die Originalsprache nur erraten. Das ist eine wirkliche Kunst, im eigenen Stil einen Text so zu schreiben, dynamisch, flüssig lesbar, wie ein unsichtbares Transkript, das keines ist, sondern ihr Werk.
Leur discours revêtait des formes anondines, renoçait certains mots, à des formules qui avaient fait autrefrois leurs succès mais un succès limité. Les livres qu’ils autorisent aujourd’hui n’ont que des phrases courtes, bâties sur le même modèle.Ihre Reden nahmen belanglose Formen an, sie verzichteten auf bestimmte Wörter, auf Ausdrücke, mit denen sie früher Erfolg gehabt hatten, mäßigen Erfolg. Die Bücher, die heute erlaubt sind,
enthalten nur noch kurze Sätze, die alle nach demselben Modell gebaut sind.
„Discours“ könnten Ansprachen, Vorträge sein, ebenso wie „Diskurs“ ein politischer Duktus sein kann, der auch gemeint sein könnte: Anne Weber bleibt bei „Rede“ . Bücher können „nach demselben Schema aufgebaut“ sein oder „die gleiche Struktur haben“ oder „den gleichen Aufbau“. Anne Weber bleibt bei „Modell“ der übersetzerischen Treue – stilsicher, klar und flüssig.
2. Dann aber wird die Treue zur Untreue, denn Anne Weber interpretiert, sprachlich und stilistisch immer sehr gut gelöst: Ihr Verständnis des Textes, ihre Auslegung allerdings entspricht nicht zwingend dem, was ich als Leserin verstanden hätte oder was ich auch hätte verstehen können. Zwei Beispiele:
Les livres qu’ils autorisent aujourd’hui…Die Bücher, die heute erlaubt sind…
„autoriser“ überträgt sie mit „erlauben“: Das bedeutet, sie nimmt den positiven Begriff, im Sinne eines Gewährens. Das ist eine Entscheidung, denn hätte sie z. B. mit „genehmigen“ übersetzt, hätte der Leser oder die Leserin Assoziationen mit Prozessen des Überprüfens, der Evaluierung, der Kontrolle, der (bürokratischen) Freigabe gehabt. Das ist ihre Deutung. Ein anderes Beispiel, das zeigt, wie sie ihr Verständnis setzt:
Pourtant j’avais manifesté […] contre le harcèlement au travail.[…] gegen sexuelle Belästigung bei der Arbeit.
„Le harcèlement au travail“ muss nicht zwangsläufig eine „sexuelle Belästigung“ sein, es kann genauso gut Mobbing aus den unterschiedlichsten Gründen bezeichnen, z. B. wegen des Aussehens oder wegen einer Behinderung. Anne Weber entscheidet sich für eine mögliche Variante und spezifiziert. Sie klärt die Dinge für sich und legt die Deutung fest: Mobbing am Arbeitsplatz ist sexuelle Belästigung.
3. Anne Weber geht aber noch weiter. Sie macht Auslassungen, d. h. sie lässt Sätze unübersetzt. Das geschieht dann, wenn für sie eine Passage oder einige Sätze konsistent und logisch sind, dann lässt sie die Wiederholungen oder Redundanzen der Autorin wegfallen, sie übersetzt sie nicht.
Diese Arbeitsmethode hat auch der Laudator, Wolfgang Matz, anlässlich der Verleihung des Voß-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an Anne Weber erwähnt: „Indem sie nur das von einer Sprache in die andere trägt, was sie wirklich schätzt, ist sie eine zwar sehr selektive, aber gerade dadurch bedeutende Vermittlerin wirklicher Literatur zwischen den beiden Kulturen geworden“. Und Anne Weber hat charmant geantwortet mit einem sehr schönen Beispiel: „In Indien bestellte einmal ein europäischer Tourist eine Cola und bekam stattdessen eine Fanta serviert. Als er auf den Irrtum aufmerksam machte, bekam er die beschwichtigende Antwort: Same, same. Same — but different!“
Das kann man so sehen. In einigen Fällen aber werden Sachverhalte unschärfer oder Stimmungen nicht mitgenommen. Die Ich-Erzählerin in Wajsbrots Roman ist eine melancholische Person, die daran leidet, dass sie die Warnsignale nicht wahrgenommen hat, sie ist verzweifelt über die Kulturlosigkeit der Autoritären, die ihr ihre kulturelle Identifikation rauben. Sie leidet. Sprachlich arbeitet die Autorin mit Wiederholungen, oder Variationen, die die Traurigkeit über das Verlorene verstärkend ausdrücken sollen.
Anne Weber reagiert mit Auslassungen. Sie nimmt nur den Teil in die Übersetzung auf, der ihr wichtig erscheint oder sachlich geboten, was die Wiederholung auch ausdrücken sollte, fällt weg. Damit kommt die deutsche Version heller, freundlicher und weniger düster daher, die französische Fassung lebt jedoch von der tiefen persönlichen Betroffenheit, der Melancholie über das Verlorene, Unwiederbringliche, als ob Wajsbrot den Zeitgeist unter Corona beschrieben hätte. Vielleicht kommt daher das intensive Mitgefühl beim Lesen (obwohl sie den Roman 2016 begonnen und bereits 2019 fertiggestellt hat).
Tout ce qui est ancien, et dans tous les domaines, ils le détruisent – les bâtiments, les archives, les musées, progressivement et surement.
Ils parent la destruction de noms, rénovation, entretien, reconstruction.Alles, was alt ist in allen möglichen Bereichen – Gebäude, Archive, Museen – zerstören sie langsam, aber sicher.
Ähnlich:
[…] et que les gens, si vous les sollicitez, ne chercheront pas d’autre explication.
Ils vous parleront sans méfiance.[…] und die Leute werden keine anderen Motive vermuten, wenn Sie sie fragen.
Im ersten Satz ist davon die Rede, dass Menschen nicht bösgläubig seien. Der zweite Satz verstärkt das: Nicht nur sei keine Erklärung nötig, sondern kein Misstrauen vorhanden. Eine Stilfigur, die sich bei Wajsbrot durchzieht, wenn sie insistieren, Emotionen zeichnen oder Denkbilder ausmalen möchte. Anne Weber lässt sie wegfallen – ersatzlos.
Im Ergebnis erschafft Anne Weber einen eigenen Text, sprachlich und stilistisch gelungen. Ich finde es allerdings schade, dass die emotionalen Überzeichnungen, auch die Melancholie über die verloren gegangene Welt, diese Redundanz als Stilmittel für den Ausdruck des Abschieds von einer geliebten Welt, abgeschwächt wird. Liest man intensiv in diese Dynamik hinein, immer mit der Wajsbrot eigenen Prägnanz im Ausdruck, macht genau der Gegensatz zwischen sachlicher Beschreibung und der Melancholie die Faszination des Romans aus. Sie fallen einer kühlen stilistischen Sachlichkeit Anne Webers zum Opfer.
Cécile Wajsbrot/Anne Weber: Zerstörung (im französischen Original: Destruction)
Wallstein 2020 ⋅ 229 Seiten ⋅ 20 Euro