
Das Genre Musical hat dramatische und lyrische Elemente. Wie unterscheidet sich die Übersetzung von Musicals zu der von Theaterstücken und Gedichten?
Es stimmt, Musicals haben mehrere Ebenen. Im Gegensatz zu reinen Sprechtheaterwerken beinhalten sie noch die Lieder und deren Übertragung bringt bestimmte Herausforderungen mit sich und nimmt die meiste Zeit in Anspruch, jedenfalls bei mir. Im Gegensatz zu Gedichten muss ich bei der Übersetzung dieser Lieder nicht nur Reimschema, Versmaß und Inhalt beachten, sondern zusätzlich die Singbarkeit, den Rhythmus, die Anbindung an die Dialoge – und nicht zuletzt die dramaturgische Funktion der Lieder. Denn Lieder in Musicals dienen der Dramaturgie und transportieren die Handlung vorwärts. Sie sind also nicht nur unter Lyrik einzuordnen, sondern ebenso „dramatisch“ wie Dialoge und Regieanweisungen.
Ich habe den Eindruck, bei Musicals scheiden sich die Geister: Die einen lieben Musicals, die anderen können sie nicht ausstehen. Wie kam es zu Ihrer Liebe zu Musicals?
Ich beschäftige mich mit Musicals und Theater, seit ich denken kann. Als ich klein war, sind meine Eltern mit mir und meiner Schwester den langen Weg nach Hamburg gefahren, um Cats zu sehen, und von dem Stück war ich danach geradezu besessen. Später war ich in Sunset Boulevard und TOMMY und dann trat ich noch während der Schulzeit in den Jugendclub des Staatstheaters Wiesbaden ein, der jedes Jahr ein Musical aufführte. Dort lernte ich gleichgesinnte Menschen und die Bandbreite des Genres abseits der Großproduktionen kennen. Wir spielten Stücke wie Linie 1 und How to succeed in business, und in dieser Zeit hat sich meine Liebe zum Genre so richtig breitgemacht und ist nie wieder verschwunden. Ich habe dann auch viele Jahre meines Berufslebens auf und hinter der Bühne verbracht.
Ich kann aber auch verstehen, warum Menschen mit Musicals nichts anfangen können. Mein Eindruck ist allerdings, dass diese Abneigung häufig mit einem eher einseitigen Bild von Musicals zusammenhängt. In Deutschland ist unser Genrebegriff immer noch ein bisschen von den Mega-Musicals der 80er Jahre geprägt, dazu kommen einige Disney-Stücke und die Klassiker am Stadttheater wie My fair Lady oder Cabaret. Aber das ist nicht unbedingt repräsentativ für diese bewegliche und progressive Kunstform. Sehen Sie sich mal die Entwicklungen am Broadway und im West End an. Dear Evan Hansen, Six oder natürlich Hamilton – auch so geht Musical heute.
Wie sind Sie Musical-Übersetzerin geworden?
Ich habe zunächst Übersetzen für Englisch und Chinesisch in Germersheim studiert, und bin nach dem Vordiplom an die Folkwang Universität in Essen gegangen, um Musicaldarstellerin zu werden. Schon während der Bühnenausbildung habe ich mein Wissen aus dem vorherigen Studium genutzt, um einzelne Lieder für mich zu übersetzen. Das haben meine Lehrer*innen in Essen sehr gefördert und meinen ersten Auftrag bekam ich später über meinen ehemaligen Professor, den Regisseur Gil Mehmert, dem ich immer noch sehr dankbar für seine Unterstützung bin.
Wie geht man als Übersetzerin bei einem solchen Auftrag vor?
Als Erstes studiere ich das Ausgangsmaterial, also in diesem Fall das Textbuch, die Noten, Musikaufnahmen der Lieder und eventuelles Quellenmaterial. Viele Musicals beruhen ja auf Büchern, Filmen oder historischen Personen, und wenn es an das Übersetzen geht und damit unweigerlich an die Interpretation und Adaption, habe ich dadurch einen Fundus an Informationen im Hinterkopf, mit dem ich arbeiten kann. Dann übersetze ich das Buch, das aus Dialogen, Regieanweisungen und Liedtexten besteht. Bei den Dialogen gehe ich chronologisch vor und arbeite manchmal sogar wie im Büro. Liedtexte hingegen übersetze ich nur, wenn ich inspiriert bin und das kann zu jeder Tages- und Nachtzeit passieren. Ich arbeite bei den Liedern auch nicht chronologisch, sondern durcheinander, und zwar je nachdem für welches Lied ich in der Stimmung bin oder in welche Stimmung ich mich begeben will.
Irgendwann steht eine deutsche Fassung fest, die beim Verlag ins Lektorat geht. Nach einigen Korrekturschleifen muss ich das Stück manchmal noch wörtlich ins Englische rückübersetzen, damit die Originalautor*innen der Übersetzung zustimmen können. Wenn das geschehen ist, werden die deutschen Liedtexte in die Klavier- und Orchesternoten eingetragen. Meine Kolleginnen und Kollegen haben aber sicherlich leicht andere Ansätze oder Tempi. Wie bei allen Formen des Literaturübersetzens ist der Prozess sehr kreativ und individuell.
Und wie oft kommt es dazu, dass Ihre Übersetzungen nach dem Proben geändert werden müssen, weil die Texte auf der Bühne doch nicht funktionieren? Haben Sänger*innen, Regisseur*innen oder sogar die Autor*innen der Originaltexte Mitspracherecht?
Inhaltliche Änderungen kommen nach dem Lektorat eher weniger vor, aber es kann mal passieren, dass Dinge live tatsächlich nicht so gut klingen, wie ich mir das beim Schreiben gedacht habe. Das fällt im Probenprozess sofort auf, weswegen ich versuche, bei Proben zur deutschsprachigen Erstaufführung punktuell anwesend zu sein. Ich höre mir dann wenn möglich einen Durchlauf an und frage auch mal die Darsteller*innen, ob sie gut zurechtkommen mit der Singbarkeit. Größere Änderungen im Probenprozess hatte ich zum Glück noch nie – weder bei meinen eigenen Übersetzungen, noch bei Stücken, die ich als Supervisor betreut habe.
Die Originalautor*innen haben selbstverständlich ein Mitspracherecht, denn sie müssen sich mit der Übertragung ihrer Worte wohl fühlen. Es steht schließlich ihr Name unter dem Stück. Aber dieser Austausch geschieht in der Regel schon lange vor dem Probenprozess. Und Regisseur*innen und musikalische Leiter*innen halten sich meiner Erfahrung nach meistens zurück, weil ihr Fokus auf anderen Dingen liegt.
Braucht man musikalisches Gespür oder gar Talent, um Musicals übersetzen zu können?
Für die Liedübersetzungen, ja! Denn Musicals müssen vor allem klanglich gut funktionieren, sie werden nicht in Schriftform konsumiert. Auf dem Papier kann sich eine gereimte Strophe gut lesen, aber ob sie dann gesungen auch gut klingt, ist eine andere Sache. Musikalisches Gespür sollte man schon mitbringen, und es hilft sehr, wenn man sich die Texte selber vorsingen kann. Denn dabei merkt man, wo es für die Artikulation schwierig wird, die Metrik nicht geht, oder die Töne anstrengend zu produzieren werden. Ein klassischer Anfängerfehler bei Übersetzer*innen, die selber nicht singen, ist zum Beispiel das Nichtbeachten der hohen, langen Schlusstöne, für die die Sänger*innen im Allgemeinen eher offene Vokale brauchen, weil sie leichter aus der Kehle kommen.
Was kann man bei Musical-Übersetzungen falsch machen? Was sind No-Gos?
Ich setze mal voraus, dass der Inhalt korrekt übertragen wird und die Intention der Originalautor*innen zu jeder Zeit erhalten bleibt. Dann ist eigentlich das größte No-Go eine „erkennbare Übersetzung“, die es nicht schafft, dass der deutsche Text natürlich und originär klingt. Denn alles, was beim Hören zu „Stolperern“ führt, ist schlecht und reißt den Zuhörer aus der Handlung. Daher sollten ungelenke Betonungen, konstruierte Sätze oder unlogische Inhalte unbedingt vermieden werden. Es gilt der Leitsatz, dass das Publikum sich zu jeder Zeit vollständig auf die von den Originalautor*innen erdachte Handlung konzentrieren können muss.
Klar gibt es außerdem noch einige Dinge, die man nicht aus den Augen lassen sollte. Aber vieles ist persönlicher Stil und Prioritätensetzung. Mich selbst stören zum Beispiel bei einer Liedübersetzung eine ungelenke Grammatik und vorhersehbare Reime am meisten, und mein lieber Kollege Jürgen Hartmann, mit dem ich bereits an einigen Stücken gearbeitet habe, weist mich gerne mal auf unnötige Substantivierungen hin.
Mein Lieblingsmusical ist Sweeney Todd, aber bei Musicals denken viele zuerst an Cats oder an Starlight Express … und schon bei diesen drei Titeln fällt auf, dass Musicals sehr unterschiedlich sein können. Inwieweit beeinflusst diese Bandbreite an Themen und Stilen die Arbeit als Übersetzerin?
Ich schätze die Bandbreite sehr. Es wird nie langweilig, es gibt jedes Mal eine neue Welt zu entdecken. Diese Vielfalt bringt auch die Herausforderung mit, dass man sich gründlich vorbereiten und in das jeweilige Sub-Genre einarbeiten muss. Damit meine ich, dass ich mich neben dem jeweiligen Inhalt zum Beispiel auch mit verschiedenen Musikrichtungen und ihrem Vokabular im Deutschen vertraut machen muss. Ich kann ein Rockmusical nicht mit den gleichen Wörtern übersetzen wie eine poppige Musical Comedy oder ein klassisch angelegtes Werk in der Tradition von Les Miserables. Aber das ist natürlich in jedem Übersetzungsbereich so. Ich muss das Ausgangsmaterial gut kennen und im Kontext verstehen.
Sie haben auch Lieder für Gino Emnes und Ella Endlich übersetzt, die nicht (ausschließlich) für das Singen auf einer Bühne gedacht waren. Unterscheidet sich die Arbeit bei der Übersetzung von Musicals von anderen Musiktexten, die nicht live vorgetragen werden?
Die grundsätzlichen Kriterien zur Liedübersetzung sind bei beiden anzuwenden, also Versmaß, Reime, Singbarkeit und Rhythmus. Allerdings gibt es einen inhaltlichen Unterschied, denn im Musical dienen die Songs einer Geschichte, bei Sänger*innen aus dem Bereich Pop/Rock, Schlager, Chanson hingegen stehen einzelne Lieder für sich und sind in sich abgeschlossen. Diese Lieder werden nicht im Kontext eines Bühnengeschehens rezipiert, sondern müssen losgelöst und rein vom Hören her überzeugen, wodurch der Wiedererkennungswert höher sein sollte. An dieser Stelle trifft Liedübersetzung auf Songwriting, und das ist eine eigene Welt mit eigenen Regeln.
Wenn die Presse und das Publikum die Originalmusicals gut kennen, werden die Übersetzungen oft stark kritisiert und bemängelt. Nicht selten führt die Diskussion dahin, ob man das jeweilige Musical überhaupt hätte übersetzen sollen, weil viele der alt bekannten Texte und Lieder fehlen würden oder unerkennbar wären. Wie sehen Sie das?
Diese Diskussion kommt tatsächlich häufig auf, und ich vertrete dabei eine ganz klare Linie: In jedem Fall übersetzen – und bitte so gut, dass sich die Frage gar nicht erst stellt, ob es im Original schöner gewesen wäre. Musicals sind Geschichten mit Musik, die im Theater erzählt werden. Und wenn man in ein Musical geht, will man in der Regel drei Stunden lang in eine Geschichte eintauchen und mitfiebern können. Für die meisten Menschen im deutschsprachigen Raum funktioniert das am besten auf Deutsch, weil sie dann im Kopf keinen Transfer erbringen müssen.
Besonders die leidenschaftlichen Musicalfans sehen sich Musicals oft lieber im Original als in der Übersetzung an, und das finde ich super. Aber um einem englischen Musical detailliert folgen zu können muss das Sprachlevel entweder exzellent sein, oder man muss das Musical im Vorfeld schon so gut kennen, dass man nicht darauf angewiesen ist, alles zu verstehen. Es wäre unfair, wenn diese Punkte für die breite Masse Eingangsvoraussetzungen für den Besuch von Musicals wären. Und Untertitel lösen das Problem im Übrigen auch nicht, auch das reißt aus der Geschichte heraus, wenn man immer zur Seite schaut.
Ein bisschen anders gestaltet sich die Diskussion um Jukebox-Musicals, also Musicals, die auf den Hits von bekannten Interpreten basieren, und rund um diese Lieder dann eine Geschichte entwickeln. TINA – Das Tina Turner Musical oder Mamma Mia machen das zum Beispiel sehr schön. Dabei kann ich dann schonmal darüber diskutieren, ob es für bestimmte Lieder eine dramaturgische Berechtigung gibt, sie im Original-Englisch zu erhalten, einfach um den Fans der Musik eine Freude zu machen. Aber generell gilt auch hier für mich: Geschichte geht vor, und im Zweifelsfall sind die Lieder zu übersetzen, wenn ihr Inhalt irgendwie handlungsrelevant ist.