Wie haben Sie Ungarisch gelernt?
Von meiner Mutter. Sie hat mir die Sprache gleichsam mit der Muttermilch eingeflösst. Später durch das Vorlesen vieler Märchen, die ich begierig in mich aufgenommen habe. Wir lebten nicht lange in einer ungarischsprachigen Umgebung. Schon meine Geburtsstadt, Rimaszombat, slowakisch Rimavská Sobota, war zweisprachig. Nach einer kurzen Episode in Budapest ging es weiter nach Ljubljana, der Heimat meines slowenischen Vaters, dann nach Triest und schliesslich nach Zürich, wo ich Deutsch lernte und die Schule besuchte. Deutsch wurde zu meiner Hauptsprache. Zu Hause aber sprachen wir immer Ungarisch, das auch mein slowenischer Vater sehr gut beherrschte.
Um die Familien- und „Küchen“-Sprache Ungarisch zu erweitern, begann ich später, ungarische Grammatiken zu studieren und Bücher zu lesen. Das war ein wichtiger Schritt, gefolgt vom Bedürfnis, ungarische Belletristik zu übersetzen. Erst durch die Übersetzungsarbeit habe ich entscheidende Einblicke in die Besonderheit und Schönheit der ungarischen Sprache – und Literatur – gewonnen.
Wie sieht die ungarische Literaturszene aus?
Es ist eine der interessantesten und reichsten Literaturszenen, die ich kenne. Ob Lyrik oder Roman, Erzählung, Drama oder Essay: Die Vielfalt an Themen und Stilen ist enorm, die Qualität der Texte erstaunlich. Nicht umsonst wird relativ viel ungarische Gegenwartsliteratur ins Deutsche übersetzt, denn sie lässt sich mit dem Besten messen, was in Westeuropa und jenseits des Atlantiks an Literatur erscheint. Manches ist schlicht Weltklasse.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Natürlich Werke des Nobelpreisträgers Imre Kertész, vor allem Roman eines Schicksallosen, der von seinen Erfahrungen als jugendlicher KZ-Häftling handelt. Dann Péter Esterházys grandiosen Familienroman Harmonia Caelestis, Péter Nádas’ Parallelgeschichten, László Krasznahorkais Erzählband Seiobo auf Erden, Bücher von György Konrád, Attila Bartis und László Darvasi, die hinreissende Fibel für Erwachsene Abendschule von Zsófia Bán, die auch wichtige Essays zum heutigen Ungarn verfasst hat (Der Sommer unsres Missvergnügens). Die Liste liesse sich beliebig erweitern, auch in Richtung Vergangenheit, zu den modernen Klassikern Dezső Kosztolányi (Anna, Lerche) und Sándor Márai (Die Glut). Eines meiner Lieblingsbücher stammt von István Örkény und heisst Minutennovellen. Tatsächlich handelt es sich um ganz kurze Texte über Gott und die Welt, wunderbar übersetzt von Terézia Mora.
Was ist noch nicht übersetzt?
In jüngerer Zeit haben sich viele Autorinnen zu Wort gemeldet, die noch kaum übersetzt sind: die Erzählerinnen Zsuzsa Selyem, Andrea Tompa oder Rita Halász und die fulminante Lyrikerin Virág Erdős, die in ihren rap-artigen Langgedichten sprachmächtig gegen politische Missstände anschreibt. Gerade bei den Frauen liegt viel Potenzial und in ihren unerschrockenen Texten ordentlich Zündstoff.
Was sind die grössten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Ungarischen?
Das Ungarische kennt kein grammatisches Geschlecht. Das Personalpronomen „ő“ kann sich auf Männer, Frauen, Sachen beziehen, meistens geht aus dem Kontext hervor, wer oder was gemeint ist. Doch gibt es Autoren wie Péter Nádas, die mit der sprachlichen Unschärfe ihr Spiel treiben und Kontexte so verschleiern, dass ich als Übersetzerin nicht weiter weiss. Einmal war ich gezwungen, den Autor anzurufen, weil ich einen Dialog zwischen zwei Personen nicht übersetzen konnte, ohne über ihre Geschlechtszugehörigkeit Gewissheit zu haben.
Ausserdem unterscheidet das Ungarische nicht zwischen direkter und indirekter Rede, während letztere im Deutschen durch den Konjunktiv markiert ist. Also gilt es zu erkennen, was im Ungarischen der Fall ist, um es im Deutschen korrekt wiederzugeben. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass das Ungarische nur über drei Zeiten verfügt: Präsens, Imperfekt, Futur. Da das Deutsche drei Vergangenheitsformen kennt und auch eine Vorzeitigkeit auszudrücken vermag, muss damit operiert werden. Es ist schlicht falsch, jedes ungarische Imperfekt mit einem deutschen Imperfekt wiederzugeben.
Zu den grössten Schwierigkeiten des Übersetzens gehört es jedoch, das Klima, die Temperatur einer Sprache zu übertragen. Das Ungarische erscheint mir emotionaler, durch zahlreiche Diminutiva und Wortspiele „zärtlicher“, durch Schimpfwörter zugleich „gröber“ als das Deutsche. Man nehme als Beispiel die ungarischen Volksmärchen. Ein Kunststück, ihr reiches Timbre halbwegs adäquat wiederzugeben!
Was kann Ungarisch, was Deutsch nicht kann?
Das Ungarische verfügt über eine viel flexiblere Syntax als das Deutsche, man kann die Sätze im Grunde beliebig bauen. Das geht im Deutschen nicht. In der Wortbildung verblüfft die Fähigkeit des Ungarischen, Verben mit einer Art Diminutivsuffix zu versehen, um auszudrücken, dass man „ein bisschen“ trinkt, isst, schreibt etc. Sehr charmant.
Auch in Sachen Kürze ist das Ungarische mitunter beachtlich. Der deutsche Satz „Ich liebe dich“ besteht im Ungarischen aus einem einzigen Wort: „szeretlek“, wobei „szeret“ den Verbstamm bildet und die Nachsilbe „lek“ die Relation „ich – dich“ ausdrückt. Solche Kompaktheit verdankt sich dem Prinzip der Agglutination, d. h. dem Anhängen von Morphemen an den Stamm.
Ilma Rakusa, geboren 1946 als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen in Rimavská Sobota (Slowakei), studierte Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg. Sie lebt als Schriftstellerin, Publizistin und Übersetzerin aus dem Ungarischen (Péter Nádas, Imre Kertész), Russischen (Marina Zwetajewa, Alexej Remisow, Anton Tschechow u. a.), Serbokroatischen (Danilo Kiš) und Französischen (Marguerite Duras, Leslie Kaplan) in Zürich. Für ihre Übersetzungen und ihr vielseitiges literarisches Werk, das Gedichte, Erzählungen, Essays und das Erinnerungsbuch Mehr Meer umfasst, erhielt sie u. a. den Petrarca-Übersetzerpreis, den Adelbert-von-Chamisso-Preis, den Schweizer Buchpreis, den Berliner Literaturpreis und 2019 den Kleist-Preis. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (www.ilmarakusa.info).