Gro­ße klei­ne Spra­che Ungarisch

Französisch, Russisch, Ungarisch, Serbokroatisch - die Übersetzerin und Autorin Ilma Rakusa beherrscht viele Sprachen. Hier stellt sie ihre Muttersprache vor. Von

Károly Ferenczy: Rote Wand
In eine der vielfältigsten Literaturszenen der Welt eintauchen und loslesen... "Rote Wand" (1910) von Károly Ferenczy, dem Begründer der modernen ungarischen Malerei. Quelle: WikiCommons
Es gibt etwa 7000 Spra­chen auf der Welt, doch nur ein win­zi­ger Bruch­teil davon wird ins Deut­sche über­setzt. Wir inter­view­en Men­schen, die Meis­ter­wer­ke aus unter­re­prä­sen­tier­ten und unge­wöhn­li­chen Spra­chen über­set­zen und uns so Zugang zu wenig erkun­de­ten Wel­ten ver­schaf­fen. Alle Bei­trä­ge der Rubrik fin­det ihr hier.

Wie haben Sie Unga­risch gelernt?

Von mei­ner Mut­ter. Sie hat mir die Spra­che gleich­sam mit der Mut­ter­milch ein­ge­flösst. Spä­ter durch das Vor­le­sen vie­ler Mär­chen, die ich begie­rig in mich auf­ge­nom­men habe. Wir leb­ten nicht lan­ge in einer unga­risch­spra­chi­gen Umge­bung. Schon mei­ne Geburts­stadt, Rima­s­zom­bat, slo­wa­kisch Rimavs­ká Sobo­ta, war zwei­spra­chig. Nach einer kur­zen Epi­so­de in Buda­pest ging es wei­ter nach Ljublja­na, der Hei­mat mei­nes slo­we­ni­schen Vaters, dann nach Tri­est und schliess­lich nach Zürich, wo ich Deutsch lern­te und die Schu­le besuch­te. Deutsch wur­de zu mei­ner Haupt­spra­che. Zu Hau­se aber spra­chen wir immer Unga­risch, das auch mein slo­we­ni­scher Vater sehr gut beherrschte.

Um die Fami­li­en- und „Küchen“-Sprache Unga­risch zu erwei­tern, begann ich spä­ter, unga­ri­sche Gram­ma­ti­ken zu stu­die­ren und Bücher zu lesen. Das war ein wich­ti­ger Schritt, gefolgt vom Bedürf­nis, unga­ri­sche Bel­le­tris­tik zu über­set­zen. Erst durch die Über­set­zungs­ar­beit habe ich ent­schei­den­de Ein­bli­cke in die Beson­der­heit und Schön­heit der unga­ri­schen Spra­che – und Lite­ra­tur – gewonnen.

Wie sieht die unga­ri­sche Lite­ra­tur­sze­ne aus?

Es ist eine der inter­es­san­tes­ten und reichs­ten Lite­ra­tur­sze­nen, die ich ken­ne. Ob Lyrik oder Roman, Erzäh­lung, Dra­ma oder Essay: Die Viel­falt an The­men und Sti­len ist enorm, die Qua­li­tät der Tex­te erstaun­lich. Nicht umsonst wird rela­tiv viel unga­ri­sche Gegen­warts­li­te­ra­tur ins Deut­sche über­setzt, denn sie lässt sich mit dem Bes­ten mes­sen, was in West­eu­ro­pa und jen­seits des Atlan­tiks an Lite­ra­tur erscheint. Man­ches ist schlicht Weltklasse.

Was soll­te man unbe­dingt gele­sen haben?

Natür­lich Wer­ke des Nobel­preis­trä­gers Imre Ker­té­sz, vor allem Roman eines Schick­sal­lo­sen, der von sei­nen Erfah­run­gen als jugend­li­cher KZ-Häft­ling han­delt. Dann Péter Ester­há­zys gran­dio­sen Fami­li­en­ro­man Har­mo­nia Cae­les­tis, Péter Nádas’ Par­al­lel­ge­schich­ten, László Kraszn­ahor­kais Erzähl­band Sei­obo auf Erden, Bücher von Györ­gy Kon­rád, Atti­la Bar­tis und László Dar­va­si, die hin­reis­sen­de Fibel für Erwach­se­ne Abend­schu­le von Zsó­fia Bán, die auch wich­ti­ge Essays zum heu­ti­gen Ungarn ver­fasst hat (Der Som­mer uns­res Miss­ver­gnü­gens). Die Lis­te lies­se sich belie­big erwei­tern, auch in Rich­tung Ver­gan­gen­heit, zu den moder­nen Klas­si­kern Dez­ső Kosz­tolá­nyi (Anna, Ler­che) und Sán­dor Márai (Die Glut). Eines mei­ner Lieb­lings­bü­cher stammt von Ist­ván Örké­ny und heisst Minu­ten­no­vel­len. Tat­säch­lich han­delt es sich um ganz kur­ze Tex­te über Gott und die Welt, wun­der­bar über­setzt von Teré­zia Mora.

Was ist noch nicht übersetzt?

In jün­ge­rer Zeit haben sich vie­le Autorin­nen zu Wort gemel­det, die noch kaum über­setzt sind: die Erzäh­le­rin­nen Zsuz­sa Sely­em, Andrea Tom­pa oder Rita Halá­sz und die ful­mi­nan­te Lyri­ke­rin Virág Erdős, die in ihren rap-arti­gen Lang­ge­dich­ten sprach­mäch­tig gegen poli­ti­sche Miss­stän­de anschreibt. Gera­de bei den Frau­en liegt viel Poten­zi­al und in ihren uner­schro­cke­nen Tex­ten ordent­lich Zündstoff.

Was sind die gröss­ten Schwie­rig­kei­ten beim Über­set­zen aus dem Ungarischen?

Das Unga­ri­sche kennt kein gram­ma­ti­sches Geschlecht. Das Per­so­nal­pro­no­men „ő“ kann sich auf Män­ner, Frau­en, Sachen bezie­hen, meis­tens geht aus dem Kon­text her­vor, wer oder was gemeint ist. Doch gibt es Autoren wie Péter Nádas, die mit der sprach­li­chen Unschär­fe ihr Spiel trei­ben und Kon­tex­te so ver­schlei­ern, dass ich als Über­set­ze­rin nicht wei­ter weiss. Ein­mal war ich gezwun­gen, den Autor anzu­ru­fen, weil ich einen Dia­log zwi­schen zwei Per­so­nen nicht über­set­zen konn­te, ohne über ihre Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit Gewiss­heit zu haben.

Aus­ser­dem unter­schei­det das Unga­ri­sche nicht zwi­schen direk­ter und indi­rek­ter Rede, wäh­rend letz­te­re im Deut­schen durch den Kon­junk­tiv mar­kiert ist. Also gilt es zu erken­nen, was im Unga­ri­schen der Fall ist, um es im Deut­schen kor­rekt wie­der­zu­ge­ben. Eine wei­te­re Schwie­rig­keit liegt dar­in, dass das Unga­ri­sche nur über drei Zei­ten ver­fügt: Prä­sens, Imper­fekt, Futur. Da das Deut­sche drei Ver­gan­gen­heits­for­men kennt und auch eine Vor­zei­tig­keit aus­zu­drü­cken ver­mag, muss damit ope­riert wer­den. Es ist schlicht falsch, jedes unga­ri­sche Imper­fekt mit einem deut­schen Imper­fekt wiederzugeben.

Zu den gröss­ten Schwie­rig­kei­ten des Über­set­zens gehört es jedoch, das Kli­ma, die Tem­pe­ra­tur einer Spra­che zu über­tra­gen. Das Unga­ri­sche erscheint mir emo­tio­na­ler, durch zahl­rei­che Dimi­nu­ti­va und Wort­spie­le „zärt­li­cher“, durch Schimpf­wör­ter zugleich „grö­ber“ als das Deut­sche. Man neh­me als Bei­spiel die unga­ri­schen Volks­mär­chen. Ein Kunst­stück, ihr rei­ches Tim­bre halb­wegs adäquat wiederzugeben!

Was kann Unga­risch, was Deutsch nicht kann?

Das Unga­ri­sche ver­fügt über eine viel fle­xi­ble­re Syn­tax als das Deut­sche, man kann die Sät­ze im Grun­de belie­big bau­en. Das geht im Deut­schen nicht. In der Wort­bil­dung ver­blüfft die Fähig­keit des Unga­ri­schen, Ver­ben mit einer Art  Dimi­nu­tiv­suf­fix zu ver­se­hen, um aus­zu­drü­cken, dass man „ein biss­chen“ trinkt, isst, schreibt etc. Sehr charmant.

Auch in Sachen Kür­ze ist das Unga­ri­sche mit­un­ter beacht­lich. Der deut­sche Satz „Ich lie­be dich“ besteht im Unga­ri­schen aus einem ein­zi­gen Wort: „sze­ret­lek“, wobei „sze­ret“ den Verb­stamm bil­det und die Nach­sil­be „lek“ die Rela­ti­on „ich – dich“ aus­drückt. Sol­che Kom­pakt­heit ver­dankt sich dem Prin­zip der Agglu­ti­na­ti­on, d. h. dem Anhän­gen von Mor­phe­men an den Stamm.

Wir suchen für die Rubrik „Gro­ße klei­ne Spra­che“ Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die Lust haben, ihre „klei­ne“ Spra­che mit unse­rem Fra­ge­bo­gen vor­zu­stel­len. Wenn du dich ange­spro­chen fühlst, mel­de dich ger­ne unter redaktion@tralalit.de.
Ilma Rakusa (©Gior­gio von Arb)

Ilma Rakusa, gebo­ren 1946 als Toch­ter einer Unga­rin und eines Slo­we­nen in Rimavs­ká Sobo­ta (Slo­wa­kei), stu­dier­te Sla­wis­tik und Roma­nis­tik in Zürich, Paris und St. Peters­burg. Sie lebt als Schrift­stel­le­rin, Publi­zis­tin und Über­set­ze­rin aus dem Unga­ri­schen (Péter Nádas, Imre Ker­té­sz), Rus­si­schen (Mari­na Zweta­je­wa, Ale­xej Remisow, Anton Tschechow u. a.), Ser­bo­kroa­ti­schen (Dani­lo Kiš) und Fran­zö­si­schen (Mar­gue­ri­te Duras, Les­lie Kaplan) in Zürich. Für ihre Über­set­zun­gen und ihr viel­sei­ti­ges lite­ra­ri­sches Werk, das Gedich­te, Erzäh­lun­gen, Essays und das Erin­ne­rungs­buch Mehr Meer umfasst, erhielt sie u. a. den Petrar­ca-Über­set­zer­preis, den Adel­bert-von-Cha­mis­so-Preis, den Schwei­zer Buch­preis, den Ber­li­ner Lite­ra­tur­preis und 2019 den Kleist-Preis. Sie ist Mit­glied der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung (www.ilmarakusa.info).

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