
In Ivica Prtenjačas Roman Der Berg begibt sich ein Mann aus der Zagreber Kulturszene einen Sommer lang in die Einsamkeit einer kroatischen Insel und kehrt als ein anderer zurück. Klaus Detlef Olof macht die Umbruchstimmung in der Übersetzung gekonnt spürbar und hat den Roman eindrucksvoll aus dem Kroatischen ins Deutsche übertragen.
Was beim Lesen passiert, gleicht einer Autofahrt raus aus der Stadt. Wo sich zu Beginn ein Haus an das andere reiht, wechseln sich beim Ich-Erzähler zunächst noch die Erinnerungen und Gedanken an vergangene Tage in der Zivilisation ab – der verstörende Blickwechsel mit einem Unfallopfer, der ihm nachts den Schlaf raubt, die gescheiterte Ehe, die hochkante Kündigung wegen einer vermasselten Ausstellung mit seiner launigen Rede zum krönenden Abschluss:
Ich tat das mit jenem Genuss, mit dem man nicht durchdachte, aber befreiende Dinge tut. Schon Monate später war ich ganz woanders, eigentlich überall, nur nicht mehr auf solchen Ausstellungen.
So frei wie bedrückt lässt der Mann, der im Roman namenlos bleiben wird, seinen bürgerlichen Alltag hinter sich, um sich einen Sommer lang auf eine kleine Adriainsel zurückzuziehen. Sinnleeren Smalltalk, der noch aus Vernissagen bei ihm nachklingt, tauscht er gleich nach der Ankunft im verschlafenen Inseldörfchen gegen einsilbige Dialoge mit Einheimischen und begibt sich in der neuen Rolle als Brandwächter hinauf auf den Hausberg des Eilands. Die oben versteckte Karaule, ein alter Wachturm mit Blick auf Meer und Wälder, wird die neue Unterkunft von einem, der froh ist, seiner alten Welt entkommen zu sein, weil er ihr zunehmend müde geworden ist.
Der Überdruss, der ihn dorthin gebracht hat, weicht schnell banalen Tätigkeiten in der Natur und dem, was dort, fast wie der Zeit enthoben, geschieht. Skorpione, Panzerschleichen und Spinnen lassen ihn nachts aufschrecken und scheinen jede Ritze seines Bergverstecks zu kennen. Ein Glück, dass es zumindest den Pilgern, die Wallfahrt zur nahen Kapelle machen, verborgen bleibt und auch anderen, die es gelegentlich dorthin verschlägt, wie verschwitzten Bikern und Esoterikern, die Türme aus kleinen Steinchen auf den Wanderwegen hinterlassen. Der Ich-Erzähler tritt sie alle wütend um. Auf täglichen Rundgängen mit Esel Visconti, der ihm dort oben treuer und einziger Gefährte, manchmal auch geschätzter wie stummer Ansprechpartner ist, verschenkt er an anderen Tagen selbstgebackenes Brot, an die, die seinen Weg kreuzen: „Ich habe Angst, nicht mehr mit Menschen leben zu können, aber ebenso nicht mehr ohne sie.“
Manchmal trifft er auf den Kriegsveteranen Tomo, ein Waffennarr, der zusammen mit seinem Neffen Zoe Jagd auf Wildschweine macht. Er gewinnt den vom Jugoslawien-Krieg gezeichneten Eigenbrötler lieb und wird, noch ehe er das selbst begreift, von einer Familientragödie erschüttert, die Tomo das Leben kostet. Das Geschehen im Außen, in der Erzählung, gewinnt an Dynamik. Im Inneren des Erzählers aber wird es zunehmend ruhiger. Das unaufgeregte Wahrnehmen der Gegenwart, das Wegfallen der Rückblenden und Gedanken – die Fahrt aus der Stadt rollt langsam aus. Der Berg mit seiner Karaule ist der Transformationsraum, in dem sich Anhalten vollzieht und Stille einkehrt.
Als wären mir plötzlich die Augen aufgegangen, stehe ich mitten in dieser Stube und kehre in die Welt der Menschen zurück, ich begreife, wie all das, mein Aufenthalt hier, so blödsinnig, so verrückt ist, wie sehr er außerhalb aller Regeln ist, die ich gekannt habe. Noch gestern hätte ich gesagt, dass ich das nicht kann. Noch gestern wäre ich vor diesem Ort geflohen wie von einer Hinrichtungsstätte. Aus diesem Zerfall, dieser Einsamkeit und Einöde. Aus dieser Wildnis, die ich vorgefunden habe und die mich ins Leben zurückgebracht hat, dass ich es erneut spüre.
Einer der spirituellen Königswege wird hier so unaufgeregt wie beiläufig beschrieben, wie es auch zum Stil des schmalen Bandes passt, der gänzlich ohne Pathos und abgegriffene Bilder auskommt. In der Übersetzung kommt dieser Kunstgriff so meisterlich wie bescheiden zum Ausdruck, die dichte und klare Sprache erfrischt und geht dabei immer auch tief. Dass der 1969 in Rijeka geborene Autor Ivica Prtenjača mit Gedichten bekannt wurde, die mehrfach ausgezeichnet und mittlerweile in 15 Sprachen übersetzt wurden, überrascht nicht. Vielmehr schon, dass Der Berg die erste Übersetzung ins Deutsche ist. Klaus Detlef Olof erweist sich dabei als Glücksfall für den Roman, als er nicht nur Prtenjačas geradlinigen Stil, sondern auch zentrale Wörter wie „Karaule“ im Kroatischen wiedergibt, was wie eine Brise über Seiten hinweg die Atmosphäre der kleinen Welt im Mittelmeer erfahrbar macht. Der Mensch, der zu Beginn der Erzählung in diese eingetaucht ist, steht am Ende auf derselben Fähre, die ihn hergebracht hat. Die verwaiste Hündin von Tomo mit dabei, von ihm selbst „ist nur ganz wenig geblieben, nur Nebensächlichkeiten.“

Ivica Prtenjača/Klaus Detlef Olof: Der Berg (im kroatischen Original: Brdo)
Folio 2021 ⋅ 163 Seiten ⋅ 22 Euro