Am 28. Mai werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
Bei Apropos Casanova von Miklós Szentkuthy (1908–1988) haben wir es nicht mit einem herkömmlichen Roman zu tun, also einem Text, in dem ein Autor Figuren kreiert und eine Handlung spinnt. Es passiert viel in Szentkuthys Werk, literarische Figuren entstehen, ein Erzähler führt durch das Buch, doch der zugrundeliegende Plot, die Lebensgeschichte Giacomo Casanovas, wird nur aus zweiter Hand präsentiert und wir bekommen stattdessen (oder zusätzlich) eine lange philosophische, ironische Abhandlung über die Memoiren von Giacomo Casanova in der Form eines ungebremsten assoziativen Gedankenstroms serviert.
Der vorliegende ist der erste und bisher einzige auf Deutsch vorliegende Band des Zyklus Brevier des Heiligen Orpheus, den der ungarische Autor über einen vierzigjährigen Zeitraum im 20. Jahrhundert verfasste. Ursprünglich erschien der Band 1939, wurde jedoch mit Verweis auf „Obszönität“ und „Blasphemie“ zensiert und erst 1973 neu aufgelegt. Szentkuthy gilt noch heute als Geheimtipp, seine Werke mögen nicht massentauglich sein, aber er zählt zweifellos zu den interessantesten Schriftstellern der Moderne. Außerdem verdanken ihm ungarische Leserinnen und Leser Übersetzungen zahlreicher Klassiker, darunter Joyce’ Ulysses, Swifts Gullivers Reisen, Werke von Charles Dickens und Mark Twain sowie der bekannteste Roman des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness Sein eigener Herr (vermutlich über eine Relaissprache).
Doch zurück zum Buch: Apropos Casanova besteht aus zwei Teilen, angelehnt an kirchliche Textformen. Das Buch beginnt mit einer „Vita“, in der wir etwas über das Leben des Heiligen Alfonso erfahren. Darauf folgt die „Lectio“, also die „heilige Lektüre“, bestehend aus einem ausführlichen Kommentar zu den Memoiren des allseits bekannten Giacomo Casanova. Ein Erzähler liest und kommentiert darin den ersten Band von Casanovas Geschichte meines Lebens. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine Nacherzählung; die Lebensgeschichte Casanovas, beziehungsweise der literarischen Figur Casanovas, rückt in den Hintergrund und auf die Bühne tritt ein Erzähler, der zu allem seinen Senf dazugibt, abschweift, weit ausholt, und wild seine Assoziationen und Meinungen teilt. Die Form ist ungewöhnlich und originell, macht das Buch aber noch nicht zum Meisterwerk. Der ungarische Autor und Timea Tankó, die das Werk ins Deutsche gebracht hat, schreiben aber so sprachgewaltig, formulieren so präzise, so intelligent und intellektuell, elegant und extravagant, dass das Werk heraussticht und seinesgleichen sucht.
Mal geht der Kommentator Casanovas Text Wort für Wort durch, mal gar Silbe für Silbe, und dann überfliegt er ganze Abschnitte, nur um kurz darauf irgendeine andere Zeile akribisch auseinanderzupflücken. Auf 260 Seiten tobt er sich aus, reist durch die europäische Geschichte, stellt Behauptungen auf und macht Anspielungen auf diverse Heilige und weniger heilige Figuren der katholischen Kirche und große Komponisten der klassischen Musik. Der (kaum existente) Plot hält einen dabei nicht bei der Stange und manchmal verliert man sich beim Lesen im Wortschwall des stellenweise widersprüchlichen Erzählers und kann nicht mehr ganz folgen. Immer wieder holt einen aber ein pointierter Kommentar, eine überspitzte Bemerkung oder ein knappes Statement zurück.
Diese überspitzten Bemerkungen, obwohl literarischen Figuren in den Mund gelegt, lassen einen jedoch manchmal das sprachliche Feuerwerk des Romans vergessen und kopfschüttelnd das Buch vorübergehend beiseitelegen. Dass eine Frau nur Objekt sein kann, „hübscher, unbedeutender Schnörkel“, dass in der Gesellschaft eine Liebe nur befriedigend sein kann, wenn einer dient und der andere herrscht, dass es „großartig“ sei, dass es im 18. Jahrhundert noch Sklavinnen gab – solche Sätze lassen sich schwer ignorieren, egal, wie schön die Formulierungen oder wie ironisch der Unterton. Wer sich für die Gesellschaft im 18. Jahrhundert oder für die Lebensgeschichte Casanovas interessiert, sollte aber ohnehin zu anderen Werken greifen. Casanovas Leben ist lediglich Leinwand, auf der sich Szenthkuthy sprachkünstlerisch austobt.
Die Jurybegründung
In Szentkuthys Casanova-Fantasien blitzen Leidenschaften, strahlt Intellekt, glüht Elegisches. Timea Tankó hat dieses Wunder an Vitalität und Musikalität in ein so lebendiges und klingendes Deutsch gebracht, dass es den Leser mal mitreisst, mal schlicht umwirft.
Die Übersetzung
In einem Artikel auf Hungarian Literature Online wundert sich József J. Fekete im Jahr 2008, warum Szentkuthys Werke zum damaligen Zeitpunkt noch nicht auf Deutsch erschienen waren:
[Szentkuthy] wurde auch schon ins Spanische, Portugiesische, Rumänische und Slowakische übersetzt. Aber nicht ins Deutsche, obwohl gerade diese Sprache ungarische Literatur in der Vergangenheit mit offenen Armen empfangen hat […] Grund dafür könnte etwas sein, worauf auch Szentkuthy selbst angespielt hat – nämlich, dass Deutsch in erster Linie die ultra-präzise Sprache der Philosophie ist und sich für die differenzierte Reichhaltigkeit des künstlerischen Denkens nicht wirklich eignet. [Übersetzung: FM]
Wie viel Wahres in diesen Worten steckt, sei dahingestellt, klar ist: Timea Tankó stand vor einer riesengroßen Herausforderung. Der Text ist nicht nur inhaltlich komplex und angereichert mit Querverweisen und Referenzen in alle Richtungen, er überzeugt vor allem auf sprachlicher und klanglicher Ebene. Doch wer behauptet, die deutsche Sprache habe nicht die notwendigen Werkzeuge für einen Text wie Szentkuthys, wird nach dem Lesen von Timea Tankós Übersetzung seine Meinung ändern müssen.
Schon bei den ersten Sätzen ahnt man, dass es sich um eine außergewöhnliche Übersetzung handelt:
Der Heilige Alfonso starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch hatte man ihm, dem Verfasser unzähliger Bücher und Briefe, das Schreiben bereits im Alter von dreiundachtzig verboten, aus gesundheitlichen Gründen. Das Formulieren ging ihm leicht von der Hand, doch korrigierte er nichts, gar nichts, Gedanke und Gefühl rieselten nur so aus ihm heraus, mal in einfachem Stil, mal in barockem, wie unaufhörlicher Schnee, doch hinter seiner Stilsicherheit wüteten Leidenschaft, Kummer und Freude in Bezug auf das Schicksal Gottes, die Seele sowie den unergründlichen Körper des Menschen, das Ziel oder die inakzeptable Ziellosigkeit der Geschichte.
Timea Tankó navigiert gekonnt und scheinbar mühelos durch Szentkuthys komplexe Syntax. Ein Abgleich mit dem Original ist ohne Ungarisch-Kenntnisse nicht möglich, doch der Vergleich mit einem keineswegs missglückten und bereits 2015 erschienen Auszug des Buches in der Übersetzung Terézia Moras zeigt, wo Tankós Stärken liegen. Bei Mora klingt der Einstieg so:
Der Heilige Alfons starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch das Schreiben hatte man ihm, nachdem er unzählige Bücher und Briefe verfaßt hatte, aus gesundheitlichen Gründen bereits als Dreiundachtzigjährigem verboten; zwar gab es nichts, das ihm leichter gefallen wäre als das Formulieren, nie mußte er auch nur das Geringste korrigieren, Gedanken und Gefühle prasselten nur so aus ihm heraus, mal im schlichten, mal im barocken Stil, wie unablässiger Regen, doch hinter seinem unvergleichlichen Stilempfinden tobten große Leidenschaften, Gefühle der Trauer und der Freude über Gottes Schicksal, die Seele und den unenträtselbaren Körper des Menschen, das Ziel der Geschichte oder deren inakzeptable Ziellosigkeit.
Wendungen wie „ging ihm leicht von der Hand“ und Bilder à la „wie unaufhörlicher Schnee“ verdichten die Sprache in Tankós Übersetzung. Gepaart mit einem feinfühligen Gespür für den Rhythmus, unübersehbar an Stellen wie „nichts, gar nichts“, entsteht ein sprachlicher Sog, der durch den komplizierten Text leitet.
Syntaktisch hält Szentkuthys Schreiben viele Hürden für seine Übersetzerin bereit. Ironische Kommentare in Form von Einschüben in Klammern und rhetorische Fragen sind eine Sache, aber manche Sätze gehen über eine halbe Seite, während andere eindringliche Botschaften knapp und präzise in wenigen Worten wiedergeben werden und dadurch herausstechen. Das Geflecht von Bandwurmsätzen meistert Tankó problemlos, das hat schon das erste Beispiel gezeigt. Doch auch wenn Szentkuthy seinen Strom bremst, der Rhythmus langsamer wird und der Erzähler ein Argument anbringen will, sitzt in der Übersetzung jedes Wort und der inhaltlich komplexe Text erhält eine rhythmische Struktur:
Liebe ist immer die Beziehung von einer Lüge und einem Gegenstand – irgendjemand glaubt eine Augenwischerei, und eine Lampe ist just in dem Moment unfassbar genau eine Lampe.
Als wären das nicht schon genug Schwierigkeiten, hüpft der Erzähler auch noch wild durch alle möglichen Sprachregister. Er spricht von „sexy-sakralen Zügen“, „lässigem Liberalismus“ und einem „unsympathischen Bluff“ und bewegt sich damit in Tankós Übersetzung in einer modernen, von Anglizismen geprägten Ausdrucksweise, beschreibt aber auch Menschen in deutlich höherem Register als „durch und durch unpapieren“ und Sigmund Freud als „hypochondrischen Religionsstifter im Untergrund“. An einer anderen Stelle erzählt er von den „austarierten juristischen Subtilitäten diplomatischer Korrespondenz.“ Den Text trotzdem stimmig zu gestalten, ist eine große Kunst.
Timea Tankó löst sich in ihrer Übersetzung mutig von Kollokationen und klischeebehafteten Bildern. Daraus resultiert aber nicht etwa ein Gefühl von unsauberen Formulierungen und schiefen Bildern, das in solchen Fällen manchmal am Text haften bleibt, sondern eine Einladung zum Nachdenken und eine versteckte Aufforderung, sich gewisse Ausdrücke auf der Zunge zergehen zu lassen, bis man darauf kommt, was wohl genau gemeint ist, wenn Casanova „aromatische Sätze“ schreibt, was wohl „zitronenzynische Brüste“ sein mögen und wie die Zeit „schicksalsgeizig“ sein kann. Neologismen wie „Nachfaschingsbequemlichkeit (im Sinne von „Na, dann beichte ich es eben“), „Kummerekstase“, „Wildkastaniengeheimnis“ und „Venedigchromatik“ klingen ebenfalls lange nach. Hinzu kommen ganze Klangkompositionen wie „der weit fliegende, verschwenderisch schwirrende, irrende Geruch des Holunders im Mai“.
So sorgfältig das Buch übersetzt ist, so wohlüberlegt ist es auch gestaltet. In einem Beitrag auf der Verlagsseite geben die Gestalter einen Einblick in ihre Arbeit und beschreiben, wie sie versucht haben, der Komplexität des Textes eine reduzierte und abstrakte Gestaltung gegenüberzustellen:
Ohne ein zentrales Leitmotiv erwies es sich als passend, so wie Szentkuthy selbst, metaphorisch zu arbeiten, sprich: in der Typografie, im Satz und der Materialität des Buches indirekt auf inhaltliche Aspekte anzuspielen statt graphische Illustrationselemente wiederkehrend einzusetzen.
Alles in allem liegt ein sprachgewaltiges und sorgfältig erarbeitetes Buch vor, das dennoch Geduld, Vorwissen und Freude an der Abschweifung und intellektuellem Humor erfordert. Wer auf eine Pointe wartet, wird lange lesen und am Ende vermutlich eine Enttäuschung einstecken müssen. An Timea Tankós Übersetzung liegt es aber nicht, denn die steuert einen zielgenau durch den komplexen Text. Das Buch ist in vielerlei Hinsicht überwältigend und auch ohne den Blick in das ungarische Original ist klar, vor welche großen Herausforderungen es die Übersetzerin gestellt hat. Entstanden ist ein Werk, das die Grenzen der deutschen Sprache auslotet und sie stellenweise sogar ein wenig ausdehnt.
Lieblingsstelle
„Die Sprache ist etwas Großes; derlei kann in ihr entstehen: ‚Der Docht schwimmt im Öl‘ – Docht und Öl: Wörter von solchem Klang sind wirklicher als die Wirklichkeit.“
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.