Am 28. Mai werden die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben, unter anderem in der Kategorie Übersetzung. Auf TraLaLit stellen wir die Nominierten vor. Alle Beiträge der Reihe sind hier zu finden.
Das Buch
John Dos Passos’ USA-Trilogie ist ein Klassiker der modernen amerikanischen Literatur und wurde 1998 von der Modern Library auf Platz 23 der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts gewählt. Rowohlt hat 2020 eine Neuübersetzung der imposanten Romantrilogie in einer 1600-seitigen Dünndruckausgabe – mit vier Lesebändchen in den Farben der US-Flagge – herausgebracht. Das ist folgerichtig, denn Der 42. Breitengrad (The 42nd Parallel, 1930), 1919 (Nineteen Nineteen, 1932) und Das große Geld (The Big Money, 1936) müssen zusammen gelesen werden: Erst in ihrer Gesamtheit formen die dutzenden Mosaiksteinchen, aus denen die drei Bände zusammengesetzt sind, ein Bild der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Amerika.
Der Montageroman umfasst vier Erzählstile: Die „Wochenschau“ („Newsreel“) beleuchtet die Epoche in Collagen aus authentischen Schlagzeilen, Zeitungsartikeln und populären Liedern; kurze Biographien widmen sich historischen Persönlichkeiten wie Henry Ford, Thomas Edison, Jack Reed oder Isadora Duncan; in „Das Auge der Kamera“ („The Camera Eye“) vollzieht Dos Passos in einem enigmatischen stream of consciousness seinen eigenen Werdegang vom Kind zum politisch engagierten Autor nach; den Hauptteil bilden die in Fortsetzungen erzählten Lebensgeschichten von zwölf fiktionalen Figuren. Diese versuchen mehr oder minder erfolgreich, ihren Platz in der neuen amerikanischen Gesellschaft zu finden, wobei sich manche von ihnen unterwegs begegnen oder über die zahlreichen Nebenfiguren miteinander verbunden sind.
Als erstes treffen wir den früh verwaisten Mac (eigentlich Fenian O’Hara McCreary) aus Connectitut, einen gelernten Drucker schottisch-irischer Abstammung, der sich als fahrender Händler, Tellerwäscher, Landstreicher und Bahnarbeiter durchs ganze Land schlägt und dabei halbherzige Versuche unternimmt, die amerikanische Arbeiterrevolution zu unterstützen. Weil seine Frau Maisie, die er heiraten musste, nachdem er sie geschwängert hatte, gegen die Gewerkschaftsarbeit ist und stattdessen lieber sozial aufsteigen will, verlässt er sie und ihre beiden Kinder und schließt sich der Arbeiterrevolution in Mexiko an. Mac lässt sich durch’s Leben treiben und bleibt nie lang an einem Ort, Zufallsbekanntschaften begleiten ihn ein Stück des Weges und verschwinden dann sang- und klanglos und auf Nimmerwiedersehen. Das alles scheint ihn emotional völlig unberührt zu lassen, als ginge es gar nicht um sein eigenes Leben. Diese Entfremdung von sich selbst, die Kluft zwischen Arbeit und Lebenssinn ist auch in der Erzählung spürbar und verhindert, dass man beim Lesen eine wirkliche Bindung zu Mac aufbaut.
Sympathischer sind da schon Janey Williams, eine junge Stenographin aus Washington, die sich durch harte Arbeit aus ihrer engen Herkunft befreien will, und ihr Bruder Joe, ein rauer, einfach gestrickter Kerl, der als Jugendlicher von zu Hause abhaut, um zur See zu fahren. Janeys Chef J. Ward Moorehouse ist ein ehrgeiziger Aufsteiger, der es „vom Zeitungsjungen zum Präsidenten“ bringen will. Dafür nimmt der Self-made Man sein Schicksal selbst in die Hand, heiratet zweimal vorteilhaft und stößt die Ehegattin ebenso vorteilhaft wieder ab, sobald sie seinen Karriereplänen nicht mehr förderlich ist. Die emotionalen Kollateralschäden für seine Mitmenschen lassen den manipulativen Fuchs völlig kalt, und sein skrupelloser Karrierewillen ruft beim Lesen eine gewisse Empörung hervor – doch das ist immerhin besser als die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Arbeiters Mac.
Für Dos Passos stand Einfühlung in seine Figuren wohl auch nicht im Vordergrund, vielmehr wollte er die sozialen und ökonomischen Kräfte darstellen, die das moderne Amerika antreiben, das Verhältnis von Arbeit und Kapital, die Macht der Werbung und die Jagd nach dem „großen Geld“. Und so beeindruckt die Trilogie zumindest in den Lebensgeschichten eher durch Umfang und Beobachtungsgabe als durch ausgefeilten Stil. Aber auch wenn John Dos Passos (1896–1970) nicht der literarischste unter seinen Zeitgenossen war, so gilt er doch neben Hemingway, Faulkner und Fitzgerald als einer der bedeutendsten Vertreter der amerikanischen Moderne. Sein Roman Manhattan Transfer (1925) inspirierte unter anderem Alfred Döblin zu Berlin Alexanderplatz, und auch in der USA-Trilogie nimmt der Autor seine Zeit mit dem scharfen Blick des Reporters unter die Lupe.
Die Jurybegründung
„Dos Passos hat eine schillernde Trilogie über eine Nation auf der Überholspur geschrieben. Das Spektrum des Erzählens reicht von der treibend rhythmisierten Erzählung über die Zeitungsschlagzeile, das Kameraauge bis hin zu pointierten Portraits zur Zeitgeschichte.“
Die Übersetzung
Nach der Erstübersetzung von Paul Baudisch aus dem Jahr 1979 hat der Rowohlt Verlag die preisgekrönten Übersetzer Dirk van Gunsteren (u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis 2007) und Nikolaus Stingl (u. a. Ledig-Rowohlt-Preis 1995, Paul-Celan-Preis 2007) mit dieser wichtigen Neuübersetzung beauftragt und damit eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Die beiden haben sich die Arbeit aufgeteilt (Teil 1: van Gunsteren, Teil 2: Stingl, Teil 3: beide) und eine flüssige, sehr gut lesbare Übersetzung wie aus einem Guss geschaffen. Das war sicher nicht immer leicht, denn neben den vier Haupterzählstilen und Figurenreden aus unterschiedlichen Registern mussten zahlreiche Termini aus Militärwesen und Seefahrt recherchiert werden, damit der Soldat John Doe oder der Seemann Joe Williams authentisch reden und denken. Auf 45 Seiten Anmerkungen geben die Übersetzer zudem Informationen zu den wichtigsten historischen Hintergründen.
Der Erzählstil ist nüchtern und sachlich, selbst über Schicksalsschläge wie den Tod der eigenen Eltern wird emotionslos und distanziert berichtet. Dabei bildet die deutsche Version oft die im Englischen üblichen Aneinanderreihungen mit „und“ nach, wodurch der schlichte, unaufgeregte Erzählgestus erhalten bleibt.
Doch natürlich taucht in diesem Panorama der amerikanischen Gesellschaft auch das ganze Spektrum sozialer Zugehörigkeiten auf. Allein schon den zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren, die die drei Bände bevölkern, eine eigene Stimme zu verleihen, ist eine große übersetzerische Leistung. Dabei fällt auf, dass umgangssprachliche Elemente leicht neutralisiert werden: Aus Wortwechseln wie „Say, bo, where’s the office of the Nevada Workman?“ – „What the hell d’you wanter know for?“ wird im Deutschen: „Sag mal, wo ist denn hier das Büro des Nevada Workman?“ – „Wozu willst du das denn wissen?“ Das klingt um einiges förmlicher als die englische Version. Doch auf Dauer wäre eine bemüht konstruierte Umgangssprache mit Verkürzungen und Auslassungen wohl eher anstrengend zu lesen gewesen. Und vielleicht haben die Übersetzer sich bewusst gegen eine allzu deutlich markierte Umgangssprache (sei es eine aktuelle oder künstlich patinierte) entschieden, damit dem deutschen Text nicht in wenigen Jahren das widerfährt, was dem New York Times-Rezensenten Richard Gilman in Bezug auf das Original schon 1997 unangenehm aufgefallen ist – nämlich die Fülle an hoffnungslos veralteten umgangssprachlichen Wendungen: „Something that […] pops out now is the presence of a large, fatally dated body of slang and colloquialisms: swell, grub, hunky-dory, lettuce and kale (for money), fresh (for impertinent).“ So gesehen, ist eine neutrale Sprache vermutlich die nachhaltigere Strategie. Und ihr Gespür für den richtigen Tonfall und Schlusspointen stellen die Übersetzer trotzdem eindrucksvoll unter Beweis:
Down at the end a big man with walrus whiskers was standing at the bar talking fast in a drunken whining voice, „If they’d only give me my head I’d run the bastards outa town soon enough. Too goddam many lawyers mixed up in this. Run the sonsobitches out. If they resists shoot ’em, that’s what I says to the Governor, but they’re all these sonsobitches a lawyers fussin’ everythin’ up all the time with warrants and habeas corpus and longwinded rigmarole. My ass to habeas corpus.“
Am Ende der Theke stand ein großer Mann mit Walrossbart und schwang mit betrunkener, klagender Stimme Reden. „Wenn sie mich nur machen lassen würden, hätte ich diese Scheißkerle schnell aus der Stadt gejagt. Da haben zu viele verdammte Anwälte die Finger im Spiel. Schmeißt diese Stinker einfach raus. Wenn sie nicht wollen, schießen wir sie einfach übern Haufen, das hab ich dem Gouverneur auch gesagt, aber jetzt kommen diese gottverdammten Anwälte und veranstalten ihren Zirkus von wegen richterlicher Verfügung und Habeas Corpus und dem ganzen langatmigen Gewäsch. Habeas Corpus kann mich mal.“
Das „Auge der Kamera“ ist in seiner Diffusität schwer greifbar. Wie in einem Bewusstseinsstrom liefert es elliptische Informationsfetzen ohne Punkt und Komma, zunächst aus kindlicher, dann aus immer erwachsenerer Sicht. Das ist äußerst verwirrend, und manchmal fragt man sich, wer da eigentlich gerade mit wem spricht – wie bei dieser Droschkenfahrt des Jungen Jack mit seiner Mutter und einem anonymen Mann über den Schuylkill-Fluss:
why that’s the Schuylkill ⋅ the horse’s hoofs rattle sharp on smooth wet asphalt after cobbles ⋅ through the gray streaks of rain the river shimmers ruddy with winter mud ⋅ When I was your age Jack I dove off this bridge through the rail of the bridge we can look way down into the cold rainyshimmery water ⋅ Did you have any clothes on? ⋅ Just my shirt
oh da ist der Schuylkill ⋅ auf dem nassen glatten Asphalt klingt das Klappern der Pferdehufe schärfer als auf dem Kopfsteinpflaster ⋅ durch die grauen Regenschwaden schimmert der Fluss rötlich vom winterlichen Schlamm ⋅ Als ich so alt war wie du Jack bin ich von dieser Brücke gesprungen durch die Geländer kann man das kalte verregnet schimmernde Wasser sehen ⋅ Hattest du was an? ⋅ Nur mein Hemd
„Verregnet schimmerndes Wasser“ klingt etwas erwachsener als „rainyshimmery water“, man hätte hier durchaus mit „regenschimmerndem“ oder „regenschimmrigem“ Wasser kindliche Sprachmuster nachbilden und so den Sprecherwechsel mitten im Satz deutlicher markieren können. Andererseits ist gerade das unmerkliche Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Sprechern charakteristisch für das „Auge der Kamera“.
Auch die „Wochenschau“ ist nicht ohne, denn manchmal bestehen die Absätze, die aus wirklichen Zeitungsartikeln jener Zeit stammen, nur noch aus wild zusammengestückelten Satzschnipseln:
say circus animals only eat Chicago horsemeat Taxsale of Indiana lots marks finale of World’s Fair boom uses flag as ragbag killed on cannibal isle keeper falls into water and sealions attack him.
sagen, dass die Zirkustiere ausschließlich Pferdefleisch aus Chicago fressen Zwangsversteigerungen von Grundstücken in Indiana markiert das Ende des durch die Weltausstellung ausgelösten Booms benutzt Fahne als Putzlumpen auf einer Kannibaleninsel getötet Wärter fällt ins Wasser und wird von Seelöwen angegriffen.
Da muss man beim Lesen erstmal durchsteigen, bevor man es angemessen übersetzen kann.
Stilistischer Höhepunkt der Trilogie sind die Biographien, die in teils ellenlangen, aber eloquenten Sätzen das Leben echter Persönlichkeiten beschreiben. Der bekannteste Text, der auch in vielen Anthologien steht, ist „Die Leiche eines Amerikaners“ („The Body of an American“) am Ende von 1919. Er schildert den Tod des unbekannten Soldaten „John Doe“ im Ersten Weltkrieg und die feierliche Beisetzung dessen, was von ihm übrig ist (viel ist es nicht), auf dem Militärfriedhof von Arlington. Der Abriss beeindruckt durch den scharfen Kontrast: Hier die feierliche Trauerrede des amerikanischen Präsidenten, der mit seinem salbadernden Ton (Ü: „der Name dessen, der hier vor uns liegt, ist mit seiner unsterblichen Seele entflohen …“, O: „the name of him whose body lies before us took flight with his imperishable soul …“) die feinen Damen der Washingtoner Gesellschaft zu Tränen rührt, dort das tatsächliche, sehr kurze Leben des John Doe, das so gar nichts Feierliches oder Schönes an sich hatte, sondern im Dreck der französischen Schützengräben ein abruptes Ende fand.
Naked he went into the army;
they weighed you, measured you, looked for flat feet, squeezed your penis to see if you had clap, looked up your anus to see if you had piles, counted your teeth, made you cough, listened to your heart and lungs, made you read the letters on the card, charted your urine and your intelligence,
gave you a service record for a future (imperishable soul)
and an identification tag stamped with your serial number to hang around your neck, issued O.D. regulation equipment, a condiment can and a copy of the articles of war.
Atten’SHUN such in your gut you c–r wipe that smile off your face eyes right wattja tink dis is a choirch-social? For-ward‑D’ARCH.
Nackt trat er in die Armee ein;
sie wogen dich, maßen dich, untersuchten dich auf Plattfüße, drückten deinen Penis, um festzustellen, ob du Tripper hast, schauten in deinen Hintern, um festzustellen, ob du Hämorrhoiden hast, zählten deine Zähne, ließen dich husten, hörten dein Herz und deine Lunge ab, ließen dich die Buchstaben von der Karte ablesen, erfassten deinen Urin und deine Intelligenz,
gaben dir für die Zukunft (unsterbliche Seele) einen Wehrpass
und zum Um-den-Hals-Hängen eine Erkennungsmarke, in die deine Kennziffer eingeprägt war, händigten dir eine olivgrüne Ausrüstung, ein Essgeschirr und ein Exemplar der Kriegsartikel aus,
AaaaachTUNG, Bauch rein, du Schwanzlutscher, grins nicht so dämlich, Augeeeen rechts, wir sind doch hier nicht beim Kirchenkränzchen! Vorwääärts-MARSCH.
Im Original kommt der Rhythmus durch die vielen im Englischen üblichen bzw. möglichen ein- und zweisilbigen Wörter, Parallelkonstruktionen und Gleichklänge noch stärker zum Ausdruck, doch auch die Übersetzung zieht sprachlich die passenden Register. Das militärische „O.D. [olive drab] regulation equipment“ wird elegant zur „olivgrünen Ausrüstung“ aufgelöst und der Armeeneuling sehr überzeugend angeschnauzt, wobei die standardsprachliche Übertragung von „wattja tink dis is“ dadurch mehr als kompensiert wird, dass das Schimpfwort ausgeschrieben und nicht nur angedeutet wird – was beim Erscheinen des Originals 1932 wohl kaum möglich war.
Die Übersetzung von John Dos Passos’ Mammutwerk mit all seinen verschiedenen Erzählstilen, Satzfragmenten und Anspielungen auf die amerikanische Geschichte ist eine enorme Herausforderung, die Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl souverän gemeistert haben und damit fraglos würdige Anwärter auf den Preis der Leipziger Buchmesse sind.
Lieblingssatz
„Meine Zukunft hab ich schon hinter mir.“