Seitdem es Sprache gibt, gibt es auch Sprachen. Die größte Errungenschaft des menschlichen Geistes – seine Sprachbegabung – ist immer schon an ihren größten Widersacher gefesselt gewesen: die Sprachverwirrung. Verständnis und Missverständnis bedingen einander.
Übersetzerinnen und Übersetzern ist diese Doppelgesichtigkeit der Sprache bewusst wie nur wenigen. Schließlich gilt ihre alltägliche Arbeit dem Unterfangen, nicht Verstandenes in Verständliches umzumünzen und dabei Wort für Wort zwischen Verfremdung und Aneignung abzuwägen. Das Ziel jedes Übersetzens, so sollte man meinen, bleibt aber immer das gleiche: Verständnis zu schaffen, wo sonst Unverständnis regieren würde.
Diese Regel hat allerdings Ausnahmen. Manchmal werden Sprachen bewusst zur Abgrenzung konstruiert, also mit dem Ziel, von Außenstehenden gerade nicht verstanden zu werden. Daniel Heller-Roazens nun in der Übersetzung von Horst Brühmann auf Deutsch erschienenes Buch Dunkle Zungen wirft Schlaglichter auf derlei Fälle und zeigt, wie häufig sie im Alltag und in der Literatur vorkommen.
Heller-Roazens kursorischer, locker erzählter Essay beleuchtet in elf Kapiteln verschiedene Geheimsprachen in der (fast ausschließlich europäischen) Kulturgeschichte. Dabei geht es ihm weder um historische Vollständigkeit noch um ein erschöpfend dargelegtes linguistisches Argument. Heller-Roazen geht es vielmehr darum zu beschreiben, wie Sprachen immer schon kreativ manipuliert wurden, um den Zugang zu bestimmten sozialen Kreisen zu regeln. Seinen spielerischen Ausdruck findet dies in der Formulierung von Rätseln, die auf manchmal harmlose, manchmal todernste Weise (man denke an Ödipus!) einen Zirkel der Eingeweihten konstituieren – derer nämlich, die den in der Frage verborgenen Code knacken konnten.
Dieses Verhältnis von öffentlich zugänglicher Sprache einerseits und dem in ihr selbst verborgenen (Geheim-)Schlüssel andererseits ist allen Sprachen, die uns Heller-Roazen vorstellt, gemeinsam. Es handelt sich deshalb nicht um (öffentliche) Fremdsprachen, die potenziell jedem zugänglich wären, sondern um (private) Geheimsprachen, deren Verständnisschlüssel verborgen ist. Ob es um Göttersprache in der Ilias geht, um subkulturelle Gaunersprachen im mittelalterlichen Frankreich, um poetische Techniken in der altnordischen Dichtung oder um Interpretationsansätze zu lateinischen Inschriften – all diese Fälle teilen jenes grundlegende Verhältnis zwischen öffentlich zugänglichem Kodiermaterial und privatem Dekodierschlüssel.
So weit, so gut, könnte man sagen und Heller-Roazens gelehrsames Potpurri ohne klar durchargumentierte Generalthese an sich vorbeiziehen lassen. Wo aber liegt der Gewinn? Der zentrale (Weiter-)Denkanreiz ist die das ganze Buch subtil durchziehende Parallele zur Poesie. Denn – so die überraschende Konklusion, auf die bei der Lektüre sanft hingeführt wird – was oben über Rätsel gesagt wurde, lässt sich für jede Form der Dichtung verallgemeinern. Wer literarisch schreibt, bedient sich des gleichen Verfahrens, das eine durch das andere zu sagen, ohne den Schlüssel – sofern er überhaupt existiert – beizufügen.
Auf diese Weise bietet Heller-Roazens Essay, der oberflächlich betrachtet genau das Gegenteil einer guten Übersetzung ins Auge fasst – die Herstellung von Unverständnis nämlich –, letztendlich eine Perspektive auf Literatur, in der das Übersetzen die zentrale und allgegenwärtige Fertigkeit jedes schreibenden und lesenden Menschen bildet. Schließlich kodieren und dekodieren wir alle immerzu öffentlich Geschriebenes mithilfe öffentlicher oder privater Lektüreschlüssel.
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Welche De- und Rekodierung hat nun Horst Brühmann für die deutsche Fassung gefunden? Der Übersetzer ist erkennbar auf der Höhe des Inhalts. Der Band ist technisch hervorragend ins Deutsch übertragen, verfügt über ein Literaturverzeichnis, das – wo immer möglich – auf deutsche Übersetzungen bzw. Originale verweist, verwendet auch keine lieblosen Eigenübersetzungen fremdsprachlicher Zitate, sondern zitiert nach Möglichkeit auch im Fließtext entsprechend veröffentlichte deutschsprachige Ausgaben.
Sprachlich schafft Brühmann fast überall den entscheidenden Spagat zwischen Gelehrsamkeit und Erzählfluss. Einerseits widersteht er der Versuchung, durch übermäßige Partikelverwendung oder Abmilderung von Heller-Roazens zuweilen technischer Sprache einen Schaukelstuhl-Erzähler zu evozieren. Andererseits klingt die Erzählstimme bei ihm aber auch nicht zu wissenschaftlich trocken. Das Vorhaben, einen Mittelweg zwischen diesen beiden Sprachebenen zu finden, gelingt meistens sehr gut. Der folgende Satz mag exemplarisch für die Schwierigkeiten stehen, die Heller-Roazens zugleich akademischer und poetischer, manchmal dunkler Stil aufwirft:
This [poetry] is a language within language in which one can rename anything in skilled obscurity.Dichtung ist eine geheime Sprache in der Sprache, in der man alles durch geschickte Umbenennung verbergen kann.
Heller-Roazens (womöglich auch selbstbezügliche?) Formulierung „in skilled obscurity“ hätte hier viel Spielraum für verschiedene Übersetzungen gelassen. Eine poetisch-geschwollene Wiedergabe à la „wer die Kunst der Finsternis beherrscht, kann jeden Namen ändern“ hätte die Vorlage ebenso hergegeben wie (z.B.) eine nüchtern-technische Formulierung wie „professionelle Verunklarung“. Brühmanns Version bleibt auf angenehme Weise im Mittelfeld zwischen beiden Varianten und auf diese Weise nahe an seiner Vorlage.
Dass bei einem solchen Versuch, nah an der Originalsprache zu bleiben, nicht alles glücken kann, liegt in der Natur der Sache. Ein Satz wie der folgende verliert durch die wortgetreue Übersetzung leider seine Präzision:
In an experimental science, confirmation by numbers is double-edged.In einer Erfahrungswissenschaft ist die Erhärtung durch die Anzahl der Fälle zweischneidig.
Derlei sprachliche Wattebäusche sind aber verzeihlich. Problematisch wird die Übersetzung da, wo es zum harten Kern der Sache kommt. Texte, die sich in zentraler Weise mit Sprache und dem Sprechen beschäftigen, erfordern schließlich eine doppelte Anstrengung beim Übersetzen. Die Frage muss hier nicht nur lauten: „Was wollte der Autor uns sagen?“, sondern auch: „Zu welchem Publikum hat er es gesagt?“ Beispielsweise würde man ausführliche Erklärungen grammatischer Genera, wie sie für eine englische Leserschaft vielleicht angebracht wären, für eine deutsche oder französische Leserschaft sicher weglassen.
Der deutschen Übersetzung von Dark Tongues ist die Beschäftigung mit derlei Fragen allerdings nicht anzumerken. Anders ist nicht zu erklären, dass beispielsweise die deutsche Übersetzung eines altisländischen Zitats als „unflektiertes Englisch“ bezeichnet wird. Oder dass manche Rätsel ins Deutsche übersetzt, andere unübersetzt auf Englisch zitiert und wieder andere gar mit deutscher Frage und englischer Antwort wiedergegeben werden: „Was hat eine Gans mit einem Eiszapfen gemeinsam? Both grow down.“
An solchen Stellen gewinnt man leider den Eindruck, die Beteiligten hätten den Titel des Buches zum übersetzerischen Prinzip erkoren. Das ist schade, denn es schmälert die Freude an der ansonsten durchaus lobenswerten Leistung des Verlags und seines Übersetzers, die sich sichtlich um eine gut lesbare und zugleich akademisch fundierte Übersetzung bemüht haben. Man wünscht allen Beteiligten nach der Lektüre mehr Mut und Selbstbewusstsein, eine deutsche Übersetzung auch ein deutsches Buch sein zu lassen.
Daniel Heller-Roazen/Horst Brühmann: Dunkle Zungen. Geheimsprachen: Die Kunst der Gauner und Rätselfreunde. (Im englischen Original: Dark Tongues. The Art of Rogues and Riddlers.)
Fischer 2018 ⋅ 352 Seiten ⋅ 22 Euro