Über­set­zen ins Ungewisse

Wer übersetzt, versucht üblicherweise, sich anderen verständlich zu machen. Das gegensätzliche Unterfangen erkundet Daniel Heller-Roazen in seinem Essay "Dunkle Zungen", übersetzt von Horst Brühmann: Was, wenn man eine Sprache sucht, in der man gerade nicht verstanden wird? Von

Geheime Botschaften oder tote Sprache? Ferdinand de Saussure glaubte, in den altlateinischen Saturniern – hier z. B. in der Grabstätte der Scipionen in Rom – einen geheimen Sinn erkannt zu haben. Seitdem seine Thesen von mathematischen Analysen zerschlagen wurden, sind sie vernachlässigt worden und spuken höchstens noch durch die Katakomben der Sprachwissenschaft. © Ilya Shurygin 2012

Seit­dem es Spra­che gibt, gibt es auch Spra­chen. Die größ­te Errun­gen­schaft des mensch­li­chen Geis­tes – sei­ne Sprach­be­ga­bung – ist immer schon an ihren größ­ten Wider­sa­cher gefes­selt gewe­sen: die Sprach­ver­wir­rung. Ver­ständ­nis und Miss­ver­ständ­nis bedin­gen einander.

Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern ist die­se Dop­pel­ge­sich­tig­keit der Spra­che bewusst wie nur weni­gen. Schließ­lich gilt ihre all­täg­li­che Arbeit dem Unter­fan­gen, nicht Ver­stan­de­nes in Ver­ständ­li­ches umzu­mün­zen und dabei Wort für Wort zwi­schen Ver­frem­dung und Aneig­nung abzu­wä­gen. Das Ziel jedes Über­set­zens, so soll­te man mei­nen, bleibt aber immer das glei­che: Ver­ständ­nis zu schaf­fen, wo sonst Unver­ständ­nis regie­ren würde.

Die­se Regel hat aller­dings Aus­nah­men. Manch­mal wer­den Spra­chen bewusst zur Abgren­zung kon­stru­iert, also mit dem Ziel, von Außen­ste­hen­den gera­de nicht ver­stan­den zu wer­den. Dani­el Hel­ler-Roazens nun in der Über­set­zung von Horst Brüh­mann auf Deutsch erschie­ne­nes Buch Dunk­le Zun­gen wirft Schlag­lich­ter auf der­lei Fäl­le und zeigt, wie häu­fig sie im All­tag und in der Lite­ra­tur vorkommen.

Hel­ler-Roazens kur­so­ri­scher, locker erzähl­ter Essay beleuch­tet in elf Kapi­teln ver­schie­de­ne Geheim­spra­chen in der (fast aus­schließ­lich euro­päi­schen) Kul­tur­ge­schich­te. Dabei geht es ihm weder um his­to­ri­sche Voll­stän­dig­keit noch um ein erschöp­fend dar­ge­leg­tes lin­gu­is­ti­sches Argu­ment. Hel­ler-Roazen geht es viel­mehr dar­um zu beschrei­ben, wie Spra­chen immer schon krea­tiv mani­pu­liert wur­den, um den Zugang zu bestimm­ten sozia­len Krei­sen zu regeln. Sei­nen spie­le­ri­schen Aus­druck fin­det dies in der For­mu­lie­rung von Rät­seln, die auf manch­mal harm­lo­se, manch­mal tod­erns­te Wei­se (man den­ke an Ödi­pus!) einen Zir­kel der Ein­ge­weih­ten kon­sti­tu­ie­ren – derer näm­lich, die den in der Fra­ge ver­bor­ge­nen Code kna­cken konnten.

Die­ses Ver­hält­nis von öffent­lich zugäng­li­cher Spra­che einer­seits und dem in ihr selbst ver­bor­ge­nen (Geheim-)Schlüssel ande­rer­seits ist allen Spra­chen, die uns Hel­ler-Roazen vor­stellt, gemein­sam. Es han­delt sich des­halb nicht um (öffent­li­che) Fremdspra­chen, die poten­zi­ell jedem zugäng­lich wären, son­dern um (pri­va­te) Geheimspra­chen, deren Ver­ständ­nis­schlüs­sel ver­bor­gen ist. Ob es um Göt­ter­spra­che in der Ili­as geht, um sub­kul­tu­rel­le Gau­ner­spra­chen im mit­tel­al­ter­li­chen Frank­reich, um poe­ti­sche Tech­ni­ken in der alt­nor­di­schen Dich­tung oder um Inter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze zu latei­ni­schen Inschrif­ten – all die­se Fäl­le tei­len jenes grund­le­gen­de Ver­hält­nis zwi­schen öffent­lich zugäng­li­chem Kodier­ma­te­ri­al und pri­va­tem Dekodierschlüssel.

So weit, so gut, könn­te man sagen und Hel­ler-Roazens gelehr­sa­mes Pot­pur­ri ohne klar durch­ar­gu­men­tier­te Gene­ral­the­se an sich vor­bei­zie­hen las­sen. Wo aber liegt der Gewinn? Der zen­tra­le (Weiter-)Denkanreiz ist die das gan­ze Buch sub­til durch­zie­hen­de Par­al­le­le zur Poe­sie. Denn – so die über­ra­schen­de Kon­klu­si­on, auf die bei der Lek­tü­re sanft hin­ge­führt wird – was oben über Rät­sel gesagt wur­de, lässt sich für jede Form der Dich­tung ver­all­ge­mei­nern. Wer lite­ra­risch schreibt, bedient sich des glei­chen Ver­fah­rens, das eine durch das ande­re zu sagen, ohne den Schlüs­sel – sofern er über­haupt exis­tiert – beizufügen.

Auf die­se Wei­se bie­tet Hel­ler-Roazens Essay, der ober­fläch­lich betrach­tet genau das Gegen­teil einer guten Über­set­zung ins Auge fasst – die Her­stel­lung von Unver­ständ­nis näm­lich –, letzt­end­lich eine Per­spek­ti­ve auf Lite­ra­tur, in der das Über­set­zen die zen­tra­le und all­ge­gen­wär­ti­ge Fer­tig­keit jedes schrei­ben­den und lesen­den Men­schen bil­det. Schließ­lich kodie­ren und deko­die­ren wir alle immer­zu öffent­lich Geschrie­be­nes mit­hil­fe öffent­li­cher oder pri­va­ter Lektüreschlüssel.

Wel­che De- und Reko­die­rung hat nun Horst Brüh­mann für die deut­sche Fas­sung gefun­den? Der Über­set­zer ist erkenn­bar auf der Höhe des Inhalts. Der Band ist tech­nisch her­vor­ra­gend ins Deutsch über­tra­gen, ver­fügt über ein Lite­ra­tur­ver­zeich­nis, das – wo immer mög­lich – auf deut­sche Über­set­zun­gen bzw. Ori­gi­na­le ver­weist, ver­wen­det auch kei­ne lieb­lo­sen Eigen­über­set­zun­gen fremd­sprach­li­cher Zita­te, son­dern zitiert nach Mög­lich­keit auch im Fließ­text ent­spre­chend ver­öf­fent­lich­te deutsch­spra­chi­ge Ausgaben.

Sprach­lich schafft Brüh­mann fast über­all den ent­schei­den­den Spa­gat zwi­schen Gelehr­sam­keit und Erzähl­fluss. Einer­seits wider­steht er der Ver­su­chung, durch über­mä­ßi­ge Par­ti­kel­ver­wen­dung oder Abmil­de­rung von Hel­ler-Roazens zuwei­len tech­ni­scher Spra­che einen Schau­kel­stuhl-Erzäh­ler zu evo­zie­ren. Ande­rer­seits klingt die Erzähl­stim­me bei ihm aber auch nicht zu wis­sen­schaft­lich tro­cken. Das Vor­ha­ben, einen Mit­tel­weg zwi­schen die­sen bei­den Sprach­ebe­nen zu fin­den, gelingt meis­tens sehr gut. Der fol­gen­de Satz mag exem­pla­risch für die Schwie­rig­kei­ten ste­hen, die Hel­ler-Roazens zugleich aka­de­mi­scher und poe­ti­scher, manch­mal dunk­ler Stil aufwirft:

This [poet­ry] is a lan­guage within lan­guage in which one can rena­me any­thing in skil­led obscurity.
Dich­tung ist eine gehei­me Spra­che in der Spra­che, in der man alles durch geschick­te Umbe­nen­nung ver­ber­gen kann.

Hel­ler-Roazens (womög­lich auch selbst­be­züg­li­che?) For­mu­lie­rung „in skil­led obscu­ri­ty“ hät­te hier viel Spiel­raum für ver­schie­de­ne Über­set­zun­gen gelas­sen. Eine poe­tisch-geschwol­le­ne Wie­der­ga­be à la „wer die Kunst der Fins­ter­nis beherrscht, kann jeden Namen ändern“ hät­te die Vor­la­ge eben­so her­ge­ge­ben wie (z.B.) eine nüch­tern-tech­ni­sche For­mu­lie­rung wie „pro­fes­sio­nel­le Ver­un­k­la­rung“. Brüh­manns Ver­si­on bleibt auf ange­neh­me Wei­se im Mit­tel­feld zwi­schen bei­den Vari­an­ten und auf die­se Wei­se nahe an sei­ner Vorlage.

Dass bei einem sol­chen Ver­such, nah an der Ori­gi­nal­spra­che zu blei­ben, nicht alles glü­cken kann, liegt in der Natur der Sache. Ein Satz wie der fol­gen­de ver­liert durch die wort­ge­treue Über­set­zung lei­der sei­ne Präzision:

In an expe­ri­men­tal sci­ence, con­fir­ma­ti­on by num­bers is double-edged.
In einer Erfah­rungs­wis­sen­schaft ist die Erhär­tung durch die Anzahl der Fäl­le zweischneidig.

Der­lei sprach­li­che Wat­te­bäu­sche sind aber ver­zeih­lich. Pro­ble­ma­tisch wird die Über­set­zung da, wo es zum har­ten Kern der Sache kommt. Tex­te, die sich in zen­tra­ler Wei­se mit Spra­che und dem Spre­chen beschäf­ti­gen, erfor­dern schließ­lich eine dop­pel­te Anstren­gung beim Über­set­zen. Die Fra­ge muss hier nicht nur lau­ten: „Was woll­te der Autor uns sagen?“, son­dern auch: „Zu wel­chem Publi­kum hat er es gesagt?“ Bei­spiels­wei­se wür­de man aus­führ­li­che Erklä­run­gen gram­ma­ti­scher Gene­ra, wie sie für eine eng­li­sche Leser­schaft viel­leicht ange­bracht wären, für eine deut­sche oder fran­zö­si­sche Leser­schaft sicher weglassen.

Der deut­schen Über­set­zung von Dark Ton­gues ist die Beschäf­ti­gung mit der­lei Fra­gen aller­dings nicht anzu­mer­ken. Anders ist nicht zu erklä­ren, dass bei­spiels­wei­se die deut­sche Über­set­zung eines alt­is­län­di­schen Zitats als „unflek­tier­tes Eng­lisch“ bezeich­net wird. Oder dass man­che Rät­sel ins Deut­sche über­setzt, ande­re unüber­setzt auf Eng­lisch zitiert und wie­der ande­re gar mit deut­scher Fra­ge und eng­li­scher Ant­wort wie­der­ge­ge­ben wer­den: „Was hat eine Gans mit einem Eis­zap­fen gemein­sam? Both grow down.

An sol­chen Stel­len gewinnt man lei­der den Ein­druck, die Betei­lig­ten hät­ten den Titel des Buches zum über­set­ze­ri­schen Prin­zip erko­ren. Das ist scha­de, denn es schmä­lert die Freu­de an der ansons­ten durch­aus lobens­wer­ten Leis­tung des Ver­lags und sei­nes Über­set­zers, die sich sicht­lich um eine gut les­ba­re und zugleich aka­de­misch fun­dier­te Über­set­zung bemüht haben. Man wünscht allen Betei­lig­ten nach der Lek­tü­re mehr Mut und Selbst­be­wusst­sein, eine deut­sche Über­set­zung auch ein deut­sches Buch sein zu las­sen.


Dani­el Hel­ler-Roazen/Horst Brüh­mann: Dunk­le Zun­gen. Geheim­spra­chen: Die Kunst der Gau­ner und Rät­sel­freun­de. (Im eng­li­schen Ori­gi­nal: Dark Ton­gues. The Art of Rogues and Riddlers.)

Fischer 2018 ⋅ 352 Sei­ten ⋅ 22 Euro

www.fischerverlage.de/buch/dunkle_zungen/9783100022530

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