Das literarische Übersetzen ist zweifelsohne eine anspruchsvolle kulturelle Technik. Es ist aber auch zugleich körperlos, geradezu unfassbar. Wie ein schimmerndes Spiegelbild im See wird es umso unklarer, je näher man ihm kommt, und zerrinnt beim Versuch, es zu fassen, zwischen den Fingern. Was von Ferne eindeutig erscheint – Wörterbücher!, Lexikonartikel!, Kompendien! – verflüssigt sich bei genauerem Hinsehen bis zur völligen Auflösung. Und so scheitern Übersetzerinnen und Übersetzer mit schöner Regelmäßigkeit daran, das Geheimnis ihres Tuns Außenstehenden zu erklären, die dann den Kopf schütteln, verwundert darüber, dass man so lange über seinen Texten brütet, wenn man doch – „heutzutage“ – auch einfach alles bei Google oder DeepL eingeben könne.
Solchen Kopfschüttlern ist es wohl zu verdanken, dass das Übersetzen bis heute die einzige künstlerische Disziplin ohne Geschichte geblieben ist. Man kann das Übersetzen inzwischen studieren (an zwei Universitäten in Deutschland, und länger als dreißig Jahre ist auch das nicht her), aber eine Geschichte des Literarischen Übersetzens wird man in den dortigen Studienplänen vergeblich suchen.
Wenn überhaupt, dann verwechselt man dort die Geschichte der Theorie des Übersetzens mit der Geschichte des Übersetzens selbst; ein seltsamer Kategorienfehler, denn schließlich ist Literaturgeschichte doch etwas ganz anderes als die Geschichte der Literaturwissenschaft. Nur beim Übersetzen wird das unrichtigerweise gleichgesetzt.
Über die Gründe für diese bei genauerem Hinsehen unglaubliche Leerstelle im literarischen Gedächtnis kann man lange sinnieren. Sinnvoller aber, ungleich produktiver, kann man seine Zeit aber mit eigenen Erkundungsgängen durch die reiche Geschichte des literarischen Übersetzens verbringen. Hier findet der geneigte Leser schier unglaubliche ungehobene Schätze, die neugierige Philologin riesige unerschlossene Forschungsgebiete und die weltzugewandten Übersetzer einen unerschöpflichen Vorrat an Vorbildern und Anknüpfungspunkten.
Zwölf solcher Erkundungsgänge liegen nun in dem im Verlag Matthes & Seitz erschienenen Band „Zaitenklänge. Geschichten aus der Geschichte der Übersetzung“ vor, der von Marie Luise Knott, Thomas Brovot, Ulrich Blumenbach und Jürgen Jakob Becker herausgegeben wurde.
Drei Übersetzerinnen und fünf Übersetzer, eine Schriftstellerin, ein Historiker, eine Künstlerin und ein Rechtsanwalt bieten in dem Sammelband Einblicke in die Geschichte des Übersetzens, nach deren Lektüre es jeder Leserin, jedem Leser in den Ohren sausen und brausen wird.
Man stelle sich vor, einige Schriftstellerinnen und Schriftsteller fänden sich zusammen, eine Anthologie mit „Geschichten aus der Geschichte der Literatur“ zu verfassen. Bei einem solchen Vorhaben mutierte wohl jeder selbst zu einem der eingangs kritisierten Kopfschüttler, und das angesichts etlicher Regalkilometer Literaturgeschichtsschreibung wohl zu Recht. Hier aber ist es anders. Diese mutigen zwölf sind Pioniere, die in weitestgehend unerforschtes Gelände vorstoßen. Entsprechend regelmäßig wird auf „magere Überlieferung“ oder weitergehende Forschung, die es „leider nicht gibt“, verwiesen.
Und so entbehren die Beiträge, die sich mit Übersetzungsgeschichten aus vier Jahrhunderten befassen, glücklicherweise jener akademischen Schraub- (nein, Leerlauf-)Sprache, die in den taumelkreiselnd sinnkriselnden Geisteswissenschaften mehr und mehr um sich greift. Stattdessen entdeckt man in den Geschichten von früher etwas Überraschendes: Praxis! Gegenwartsbezug! Anwendbarkeit!
Was der universitär betriebenen sogenannten Translations-Wissenschaft entgehen musste, andererseits aber jenen, die – wie die in diesem Band Versammelten – selbst Tag für Tag an der Sprache werkeln und feilen, gar nicht entgehen konnte, rückt hier in den Mittelpunkt: Übersetzen, das ist in erster Linie ein Tun.
Und in etwa so wie die Architekturgeschichte eines Maurers, der sich weniger dafür interessiert, welche „sozio-ästhetischen Paradigmata historischer Materialität“ sich an einem Giebel manifestieren, sondern eher, sagen wir, wie man damals die Kelle gehalten hat, muss man sich auch dieses Unterfangen vorstellen.
Genauso, wie ein Maurer des 21. Jahrhunderts mehr mit einem Maurer des 17. zu besprechen hätte als ein Architekturhistoriker, so hat der Band dort seine Stärken, wo die Beiträge das Heute und das Früher ins Gespräch bringen. Exemplarisch führt dies die Übersetzerin Susanne Lange durch, die in ihrem Portrait der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ aus dem 17. Jahrhundert ein jahrhunderteübergreifendes Übersetzertreffen herbeiimaginiert und zu dem Schluss kommt:
Vielleicht ist das Vorbild der Fruchtbringenden Gesellschaft auch ein Hinweis darauf, was heute ein Übersetzerfonds leisten könnte: den Austausch nicht nur der Übersetzer, sondern auch der Schriftsteller und anderen Sprachwerker – über die Zeiten und Sprachen hinweg –, damit in ein vielleicht allzu verfestigtes Sprachgebäude wieder Leben und Wandel kommt.
Dass das hier so konkret formuliert wird, hat einen Grund: Anlass für die Sammlung dieser höchstpersönlichen Stichproben in den Tiefenschichten des Übersetzerwesens war nämlich das 20. Jubiläum besagten Übersetzerfonds. Manche der Beiträge wurden dort auf der Bühne vorgetragen oder vorgestellt.
Man spürt den typisch übersetzerischen Geist dieses Festaktes noch nach über einem Jahr durch dieses Buch wehen. Fast fühlt man sich in die Feierstunde selbst zurückversetzt: Lehrreich liest sich das alles (Gelehrsamkeit steht Übersetzerinnen und Übersetzern nie schlecht zu Gesicht), aber heiter (wer sich selbst zu ernst nimmt, hat noch nie gut übersetzt).
So hebt der Band an mit einer Ehrenrede der Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die ein Loblied auf die Tölpel singt und erstaunliche Parallelen zur Zunft der interpreter/intölpelter zu konstruieren weiß:
Kann es ein schöneres Wappentier geben für eine Zunft, die, weltweit vertreten, seit ewigen Zeiten fliegend und schwimmend mit sämtlichen Elementen auf einmal kämpft und dabei keine Sekunde ihre Aussicht auf Beute aus den Augen verliert; eine bekanntlich ziemlich schlüpfrige Beute, denn welcher Dichterfisch will schon gefangen werden?
Mit dieser furiosen Einleitung ist der Ton gesetzt für elf weitere Beiträge, die wirklich alles austesten, was zwischen zwei Sachbuchdeckeln so denkbar ist.
Das stabile Gerüst des klug zusammengestellten Sammelbandes bilden die äußerst geschichtskundigen Analysen aus vier Jahrhunderten Übersetzungshistorie. Es beginnt (der sonst omnipräsenten Luther war schon in einem früheren Band der Beteiligten das zentrale Thema gewesen) bei Susanne Langes schon erwähntem Beitrag über die Fruchtbringende Gesellschaft, die im 17. Jahrhundert die Kunst der Übersetzung als wichtige Kulturinjektion für den deutschen Sprachraum betrachteten und das Übersetzen als sprachspielerische und vor allem ‑schöpferische Angelegenheit betrachteten. Den Denckring, den wir zur Illustration dieses Beitrags verwendet haben, entstammt der Übersetzerwerkstatt.
Chronologisch folgt Josef Winigers Text über Moses Mendelssohn und Lessing, die mit ihren Briefen, die neueste Literatur betreffend im 18. Jahrhundert zum ersten Mal auch systematisch Übersetzungskritik betrieben (ein TraLaLit avant la lettre, gewissermaßen). Christian Adam gibt ein Überblick über die kuriose Rolle übersetzter Literatur im NS-Regime und Ferdinand Melichar berichtet, teils aus eigener Erfahrung, über die Geschichte des Urheberrechts und wie es dazu kam, dass Übersetzerinnen und Übersetzer den Autorinnen heutzutage zumindest urheberrechtlich gleichgestellt sind.
Rund um diese informativen Beiträge gruppieren sich persönliche Hommagen und Biografien von Übersetzerpersönlichkeiten aus der Vergangenheit. Andreas Tretners liebevoll-minutiöses Porträt der Russisch-Übersetzerin Hilde Angarowa, Uljana Wolfs gelehrt raunendes Loblied auf den Sprachexperimentator John Hulme und Marie Luise Knotts Einführung in Peter Urbans Übersetzernachlass fallen in diese Kategorie. Sie führen eindrücklich vor Augen, dass die, die sich mit der Neuschöpfung von Sprache beschäftigen, höchst interessante Persönlichkeiten sind, an denen die Literaturgeschichtsschreibung zu oft geflissentlich vorbeigesehen hat.
Und damit keiner glaube, Übersetzer seien zu keiner eigenen Schöpfung in der Lage, rundet eine dritte „Kategorie“ von Beiträgen den Band ab, die sich kaum kategorisieren lässt. Sie alle spielen mit dem sprachwissenschaftlichen Gestus der umgebenden Bände, heben sich aber zugleich von ihm ab. Andreas Jandl betreibt mit seiner Korrelationsanaylse zwischen Brückenarchitektur und Literaturübersetzung unterhaltsamen Nerd-Nonsens. Christian Hansen träumt sich aus seinem Kulturschaffendendasein so weit weg, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, wo man ist. Ulf Stolterfoht dekonstruiert in seinem Gedichtzyklus dicke hose dahlem im Handumdrehen 300 Jahre Übersetzungstheorie (der Titel dieser Rezension entstammt dem letzten Vers im letzten Gedicht des Bandes). Und die Künstlerin Nanne Meyer greift den sprachspielerischen Unterton in ihrem grafischen Essay Ver-Zeichnungen auf.
Das ist bunt, das ist lebendig, das ist vielfältig, das sprengt die Grenzen des Genres „Sammelband“, und das Wichtigste: Das ist auf keiner Seite langweilig, weil die Autorinnen und Autoren sich im besten Sinne mit ihrer Sache gemein machen. In diesem Fall der Sprach-Sache. Sie haben ja auch einiges gemein mit den Übersetzerinnen und ‑ern, über die sie da schreiben: Die Sprache – und die Sache.
Den von Susanne Lange erhobenen Anspruch, „in ein vielleicht allzu verfestigtes Sprach-[und ich möchte hinzufügen: Gedanken-]gebäude wieder Leben und Wandel zu bringen“, den löst dieser Sammelband schon im Alleingang ein. Wenn das der Auftakt für zwanzig weitere Jahre Deutscher Übersetzerfonds gewesen ist, dürfte noch so manches Gebäude ins Leben, Wandeln und vielleicht sogar Wanken kommen.
Marie Luise Knott, Thomas Brovot, Ulrich Blumenbach, Jürgen Jakob Becker (Hrsg.): Zaitenklänge. Geschichten aus der Geschichte der Übersetzung
Matthes & Seitz 2018 ⋅ 264 Seiten ⋅ 20 Euro