Unga­ri­sche Tänze

György Dragománs Novellenband „Löwenchor“ erzählt von der Musik in all ihren Facetten. Die stilsichere Interpretation von Timea Tankó ist jetzt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Von

Am 21. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir in den Wochen vor der Buch­mes­se alle fünf Nomi­nier­ten vor. Alle Fol­gen der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Der in Rumä­ni­en gebo­re­ne unga­ri­sche Autor Györ­gy Dra­gomán ist vor allem für sei­nen 2005 erschie­nen Roman A fehér kirá­ly über das Rumä­ni­en der Ceaușes­cu-Spät­zeit bekannt. Die­ser Roman wur­de in unzäh­li­ge Spra­chen über­setzt (deutsch 2008 in der Über­set­zung von Lasz­lo Kor­nit­zer unter dem Titel Der wei­ße König erschie­nen) und auch hier­zu­lan­de enthu­si­as­tisch rezi­piert. Dra­gomán arbei­tet auch als Über­set­zer. Er hat u. a. die gro­ßen eng­lisch­spra­chi­gen Dich­ter der Moder­ne – James Joy­ce und Samu­el Beckett – ins Unga­ri­sche über­tra­gen. Vor Kur­zem ist nun sei­ne Novel­len­samm­lung Löwen­chor (Oroszlán­kórus) auf Deutsch erschie­nen, die durch ihr unkon­ven­tio­nel­les Leit­mo­tiv besticht: In sämt­li­chen Erzäh­lun­gen geht es um die Musik, in allen For­men und Farben.

Musik ist in Györ­gy Dra­gománs Welt poli­tisch, und das nicht nur in ihrer öffent­lich­keits­wirk­sa­men Funk­ti­on, in Form von rhyth­mi­schen Pro­test­ru­fen, son­dern auch im Pri­va­ten, im Inne­ren sei­ner Figu­ren. Sie stif­tet Gemein­schaft und sym­bo­li­siert Frei­heit, Rebel­li­on, Lebens­freu­de. Die Musik ist nie­mals ein­di­men­sio­nal. Sie dient auch als Abgren­zung vom Ande­ren, als Instru­ment der Unter­drü­ckung. Sie erlöst eini­ge von Dra­gománs Figu­ren von inne­ren Zwän­gen, ande­re über­wäl­tigt sie, sie befreit und erstickt, ver­bin­det und entzweit.

Dra­gomán kon­zen­triert sich in die­sen zwan­zig Novel­len  nicht nur auf die Funk­ti­on der Musik als Leit­mo­tiv oder deren emo­tio­na­le Kraft. Für ihn und sei­ne Figu­ren ist Musik essen­ti­el­ler Bestand­teil der mensch­li­chen Erfah­rung. Daher ist sie in den Geschich­ten des Löwen­chors nicht nur auf den gro­ßen Büh­nen zu fin­den, son­dern vor allem in der schein­ba­ren Mono­to­nie des All­tags – im takt­an­ge­ben­den Wip­pen des Schau­kel­stuhls, in dem wie das Meer tosen­den Publi­kum oder in der röh­ren­den Har­ley David­son. Musik ent­steht erst durch den Men­schen, sie wird von ihm geschaf­fen und geprägt, so wie der Mensch auch sei­ne zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen formt und prägt. Dra­gomán inter­es­sie­ren vor­nehm­lich die fami­liä­ren Bin­dun­gen, deren Kom­ple­xi­tät und die tona­len Nuan­cen der per­sön­li­chen Wahr­neh­mung. Sei­ne Novel­len erzäh­len von väter­li­cher Stren­ge, auf­säs­si­gen Groß­el­tern und emp­find­sa­men Enkeln, Ehen, die durch Musik ent­ste­hen oder an die­ser scheitern.

Nicht alle Novel­len in Löwen­chor sind tech­nisch so bril­lant gestal­tet wie die Ein­gangs­ge­schich­te Der eiser­ne Bogen, die mit ein­dring­li­cher Schär­fe die Trau­ma­ta musi­ka­li­scher Früh­erzie­hung ver­ar­bei­tet. Ins­ge­samt bie­tet die Samm­lung jedoch eine höchst abwechs­lungs­rei­che Lek­tü­re, deren rasche Tem­po­wech­sel und ver­schie­de­nen Sprach­ebe­nen jeg­li­cher Lang­at­mig­keit vor­beu­gen. Gekonnt arbei­tet Dra­gomán mit den unter­schied­lichs­ten musi­ka­li­schen Gen­res (von Jazz bis Hea­vy-Metal), lotet ver­schie­de­ne poli­ti­sche Ebe­nen aus (Das Sys­tem und sei­ne Fein­de) und zeigt wenig Scheu vor zag­haf­ten Aus­flü­gen ins Sci­ence-Fic­tion-Gen­re (Post­hu­ma­nes Date).

Die Jury­be­grün­dung

„Zwan­zig durch das Motiv der Musik ver­bun­de­ne Novel­len, die Ungarns kraft­volls­ter jun­ger Erzäh­ler zu einem wah­ren „Löwen­chor“ zusam­men­ge­stellt hat. Timea Tan­kó macht ihn mit allen Zwi­schen­tö­nen hörbar.“

Die Über­set­zung

Das Inter­es­san­te an Erzähl­bän­den ist, wie viel Raum und Mög­lich­kei­ten sie Autoren zum Expe­ri­men­tie­ren geben. Auch Györ­gy Dra­gomán nutzt die Gele­gen­heit, sich aus­zu­pro­bie­ren: Mal wird aus der Per­spek­ti­ve des Man­nes, mal aus Sicht der Frau erzählt, die Sät­ze sind mal kür­zer, mal län­ger, mal strot­zen die Geschich­ten vor minu­tiö­sen Beschrei­bun­gen, mal geben kar­ge Dia­lo­ge das Tem­po vor. Das Gan­ze zu über­set­zen, dürf­te wohl für jede Über­set­ze­rin eine will­kom­me­ne Her­aus­for­de­rung sein, um ihr Kön­nen unter Beweis zu stel­len –  was jemand wie Timea Tan­kó aller­dings nicht unbe­dingt nötig haben soll­te. Die Über­set­ze­rin über­setzt schon seit Jah­ren Autoren wie Ist­ván Kemé­ny, Antal Szerb und zuletzt Andor End­re Gel­lé­ri sehr erfolg­reich aus dem Unga­ri­schen ins Deutsche.

In gewis­ser Wei­se ver­sucht Dra­gomán in die Musik, oder zumin­dest Ele­men­te die­ser, in die Spra­che der Lite­ra­tur zu über­tra­gen. Sei­ne zahl­rei­chen Tem­po­wech­sel, rhyth­mi­schen Spie­le­rei­en und ver­schie­de­nen tona­len Sprün­ge in ein ele­gan­tes Deutsch zu brin­gen, ist eine gro­ße Kunst, die Tan­kó mühe­los beherrscht. Bereits die ers­te Erzäh­lung Der Eiser­ne Bogen imi­tiert in einem so wag­hal­si­gen Tem­po das ver­zwei­fel­te Gefie­del eines jun­gen Gei­gers, dass Leser unter der Füh­rung einer weni­ger sou­ve­rä­nen Über­set­ze­rin schnell Gefahr lau­fen könn­ten, sich in die­sen kom­ma­las­ti­gen, Sei­ten umfas­sen­den Sät­zen ver­lie­ren. Man hofft auf eine Pau­se, ein Zei­chen, dass der Satz end­lich zu Ende ist, doch die Sät­ze sind gnadenlos:

Mein Vater sitzt im Schau­kel­stuhl, fuch­telt mit dem alten Bogen, diri­giert mich, sagt, ich soll auf­hö­ren und von vor­ne anfan­gen, oder er sagt, ich spie­le falsch, ganz falsch, ob ich denn nicht mer­ke, dass es falsch ist, ich soll end­lich rich­tig hin­hö­ren, schließ­lich bin ich sein Sohn, ich kann doch nicht taub sein.

Sol­che Rei­hun­gen fin­den sich oft in Geschich­ten mit einer prä­gnan­ten Erzähl­stim­me, sie imi­tie­ren unge­fil­ter­te Gedan­ken­strö­me, die den Ein­druck von Unmit­tel­bar­keit erzeu­gen sol­len. Dabei wird dar­auf ver­zich­tet, Äuße­run­gen außen­ste­hen­der Figu­ren in ein­zel­ne Sät­ze zu bet­ten oder in indi­rek­ter Rede zu ver­ar­bei­ten. Statt­des­sen rei­hen sich Gedan­ken und ver­ba­le Äuße­run­gen anein­an­der, Haupt­sät­ze dür­fen Haupt­sät­zen fol­gen. Damit das funk­tio­niert und die Les­bar­keit nicht geschmä­lert wird, bedarf es gro­ßer Kon­trol­le über die Spra­che von Sei­ten der Über­set­ze­rin. Der anschlie­ßen­de Wech­sel zu deut­lich gedie­ge­ne­ren Tem­pi gelingt Tan­kó spielend.

Eben­so beein­dru­ckend sind auch die Über­gän­ge in ande­re Sprach­ebe­nen. An den ent­schei­den­den Stel­len wirkt Tan­kós Spra­che zeit­los, an ande­ren modern bis umgangs­sprach­lich. Wäh­rend eini­ge Novel­len, wie bei­spiels­wei­se Die Erb­schaft oder Fisch­sup­pe, mit einer eher schlich­ten, unauf­ge­reg­ten Spra­che arbei­ten, strotzt die Novel­le Hea­vy Metal vor Aus­drü­cken wie „Ey, Alter“ oder „scheiß­egal“ und mar­kiert in ihrer radi­ka­len Nach­ah­mung der Münd­lich­keit einen deut­li­chen Bruch:

„Kennst du Hea­vy Metal? Iron Mai­den? Rich­tig, Iron Mai­den, das ist Hea­vy Metal. Von Iron Mai­den hast du also schon gehört. Ja? Okay, du kennst dich nicht aus, aber das weißt sogar du, dass Iron Mai­den die bes­te Metal Band ist? Iron Mai­den? Ey, Alter, ver­schon mich, ich sag ja nicht, dass sie schei­ße sind, schei­ße sind sie nicht, es gab Zei­ten, da hab ich nichts ande­res gehört…“

Der Stil­si­cher­heit der Über­set­ze­rin ist zu ver­dan­ken, dass die ver­schie­de­nen sprach­li­chen Ebe­nen auch in der Über­set­zung funk­tio­nie­ren und sol­che umgangs­sprach­li­che Ele­men­te in die­ser Samm­lung weder gänz­lich deplat­ziert noch zu abge­dro­schen wir­ken. Statt­des­sen erwe­cken sie den Ein­druck sprach­li­cher Authen­ti­zi­tät und über­schat­ten so weder die Prä­gnanz der Erzähl­stim­me noch die Hand­lung der Novelle.

Die gelun­ge­nen Geschwin­dig­keits­wech­sel und das selbst­be­wuss­te Gespür der Über­set­ze­rin für tona­le Fär­bun­gen wir­ken Dra­gománs gele­gent­lich durch­schim­mern­dem Hang zum Rühr­se­li­gen ent­ge­gen. Die Ten­denz zum Kitsch wird in Novel­len wie Karcsi­ka oder Ohren­ses­sel beson­ders deut­lich – in letz­te­rer zieht bei­spiels­wei­se der unschul­di­ge Enkel­sohn den Frack sei­nes Groß­va­ters an und beginnt mit sei­ner Groß­mutter vorm fla­ckern­den Fern­se­her zu tan­zen. Damit sol­che Novel­len funk­tio­nie­ren, sind Dra­gománs Figu­ren mit einem schar­fen Blick für die Details aus­ge­stat­tet, die für kom­ple­xe­re Nuan­cen sor­gen als es die Hand­lung allein ver­mocht hätte.

Letzt­lich ist es aber vor allem die Spra­che, die unab­hän­gig vom Inhalt für eine anspruchs­vol­le Lek­tü­re sorgt und glück­li­cher­wei­se auch in der deut­schen Über­set­zung ohne jeg­li­ches Pathos daher­kommt. Die Lese­rin­nen und Leser der deut­schen Fas­sung dür­fen sich hier­für bei einer kun­di­gen, sprach­mu­si­ka­li­schen Über­set­ze­rin bedan­ken, die die Nomi­nie­rung für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se mehr als ver­dient hat.

Lieb­lings­satz

„Als ich zum ers­ten Mal die Büh­ne betrat, rausch­te und tos­te das Publi­kum wie das Meer, und mir kam es vor, als stün­de ich am Ufer, und eine schäu­men­de Wel­le roll­te auf mich zu, ergriff mich, wir­bel­te mich her­um und schleu­der­te mich gegen die Fel­sen, ich spür­te es ging nicht, ich wür­de kei­nen Ton her­aus­brin­gen, und das war es dann, ich bin am Ende.“

Zwei Fra­gen an die Nominierte

Was macht das Buch aus?
Wie Titel und Umschlag schon andeu­ten, han­delt es sich bei Löwen­chor um ein eng mit Musik ver­floch­te­nes Buch. Alle der fast drei­ßig Novel­len des Ban­des zeich­nen sich durch eine ande­re Melo­die, vor allem aber durch einen ganz eige­nen Rhyth­mus aus. Es galt also, sich jeden Tag auf einen neu­en Groo­ve einzulassen.

Ursprüng­lich hat­te ich die Tex­te in der Rei­hen­fol­ge über­set­zen wol­len, in der sie im Ori­gi­nal­band und nun auch in der deut­schen Aus­ga­be ste­hen, davon bin ich aber bald abge­kom­men. Es hät­te viel­leicht am Ende kei­nen gro­ßen Unter­schied gemacht, aber es gab eben die Tage, an denen mir mehr nach einem stark durch­rhyth­mi­sier­ten Text wie Der Besen war, und die, die mehr zu einem lang­sa­me­ren, gefühl­vol­le­ren wie Limon con sal passten.

Es gab den Tag für den Herz­schlag­rhyth­mus von Ultra­schall, für die galop­pie­ren­den Pfer­de in Der­by, für den Boxer­text Bären­tanz. Neben dem Rhyth­mus ist auch wich­tig, dass selbst die zusam­men­hän­gen­den Novel­len, die den- oder die­sel­ben Prot­ago­nis­ten haben, meist von einer ganz unter­schied­li­chen Dyna­mik geprägt sind.

Was haben Sie beim Über­set­zen gelernt?
Ich habe auf jeden Fall gelernt, mich dem Atem­rhyth­mus der ver­schie­de­nen Erzäh­ler anzu­pas­sen oder viel­mehr noch, die­sen auch dann aus­zu­hal­ten, wenn er nicht unbe­dingt ange­nehm ist. Meist geschieht die­se Anpas­sung beim Über­set­zen ja ganz auto­ma­tisch, ohne dass man sich des­sen bewusst wird. Der eige­ne Atem fließt im Rhyth­mus der Erzäh­lung. Doch wenn der Atem des Erzäh­lers nicht fließt, son­dern vor Todes­angst rast (Der eiser­ne Bogen) oder man merkt, dass er alle Kraft zusam­men­nimmt, um das, was aus ihm her­aus­bre­chen will, eben dar­an zu hin­dern, und dabei den Atem bis zur Ohn­macht zurück­hält (Extra brut), wird für die Über­set­ze­rin die Ver­lo­ckung groß, zwi­schen­durch doch mal heim­lich tief durch­zu­at­men. Die­ser soll­te man wohl auch nicht wider­ste­hen, nach der erfolg­ten Sau­er­stoff­zu­fuhr dann aber wie­der zum Atem­rhyth­mus des Erzäh­lers zurückfinden.


Györ­gy Dragomán/Timea Tan­kó: Löwen­chor (Im unga­ri­schen Ori­gi­nal: Oroszlán­kórus)

Suhr­kamp 2019 ⋅ 269 Sei­ten ⋅ 24 Euro

www.suhrkamp.de/buecher/loewenchor-gyoergy_dragoman_42851.html




Anm. d. Red.: Die­se Rezen­si­on wur­de ohne Berück­sich­ti­gung des Ori­gi­nal­tex­tes ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.

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