Das Buch
Der in Rumänien geborene ungarische Autor György Dragomán ist vor allem für seinen 2005 erschienen Roman A fehér király über das Rumänien der Ceaușescu-Spätzeit bekannt. Dieser Roman wurde in unzählige Sprachen übersetzt (deutsch 2008 in der Übersetzung von Laszlo Kornitzer unter dem Titel Der weiße König erschienen) und auch hierzulande enthusiastisch rezipiert. Dragomán arbeitet auch als Übersetzer. Er hat u. a. die großen englischsprachigen Dichter der Moderne – James Joyce und Samuel Beckett – ins Ungarische übertragen. Vor Kurzem ist nun seine Novellensammlung Löwenchor (Oroszlánkórus) auf Deutsch erschienen, die durch ihr unkonventionelles Leitmotiv besticht: In sämtlichen Erzählungen geht es um die Musik, in allen Formen und Farben.
Musik ist in György Dragománs Welt politisch, und das nicht nur in ihrer öffentlichkeitswirksamen Funktion, in Form von rhythmischen Protestrufen, sondern auch im Privaten, im Inneren seiner Figuren. Sie stiftet Gemeinschaft und symbolisiert Freiheit, Rebellion, Lebensfreude. Die Musik ist niemals eindimensional. Sie dient auch als Abgrenzung vom Anderen, als Instrument der Unterdrückung. Sie erlöst einige von Dragománs Figuren von inneren Zwängen, andere überwältigt sie, sie befreit und erstickt, verbindet und entzweit.
Dragomán konzentriert sich in diesen zwanzig Novellen nicht nur auf die Funktion der Musik als Leitmotiv oder deren emotionale Kraft. Für ihn und seine Figuren ist Musik essentieller Bestandteil der menschlichen Erfahrung. Daher ist sie in den Geschichten des Löwenchors nicht nur auf den großen Bühnen zu finden, sondern vor allem in der scheinbaren Monotonie des Alltags – im taktangebenden Wippen des Schaukelstuhls, in dem wie das Meer tosenden Publikum oder in der röhrenden Harley Davidson. Musik entsteht erst durch den Menschen, sie wird von ihm geschaffen und geprägt, so wie der Mensch auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen formt und prägt. Dragomán interessieren vornehmlich die familiären Bindungen, deren Komplexität und die tonalen Nuancen der persönlichen Wahrnehmung. Seine Novellen erzählen von väterlicher Strenge, aufsässigen Großeltern und empfindsamen Enkeln, Ehen, die durch Musik entstehen oder an dieser scheitern.
Nicht alle Novellen in Löwenchor sind technisch so brillant gestaltet wie die Eingangsgeschichte Der eiserne Bogen, die mit eindringlicher Schärfe die Traumata musikalischer Früherziehung verarbeitet. Insgesamt bietet die Sammlung jedoch eine höchst abwechslungsreiche Lektüre, deren rasche Tempowechsel und verschiedenen Sprachebenen jeglicher Langatmigkeit vorbeugen. Gekonnt arbeitet Dragomán mit den unterschiedlichsten musikalischen Genres (von Jazz bis Heavy-Metal), lotet verschiedene politische Ebenen aus (Das System und seine Feinde) und zeigt wenig Scheu vor zaghaften Ausflügen ins Science-Fiction-Genre (Posthumanes Date).
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Das Interessante an Erzählbänden ist, wie viel Raum und Möglichkeiten sie Autoren zum Experimentieren geben. Auch György Dragomán nutzt die Gelegenheit, sich auszuprobieren: Mal wird aus der Perspektive des Mannes, mal aus Sicht der Frau erzählt, die Sätze sind mal kürzer, mal länger, mal strotzen die Geschichten vor minutiösen Beschreibungen, mal geben karge Dialoge das Tempo vor. Das Ganze zu übersetzen, dürfte wohl für jede Übersetzerin eine willkommene Herausforderung sein, um ihr Können unter Beweis zu stellen – was jemand wie Timea Tankó allerdings nicht unbedingt nötig haben sollte. Die Übersetzerin übersetzt schon seit Jahren Autoren wie István Kemény, Antal Szerb und zuletzt Andor Endre Gelléri sehr erfolgreich aus dem Ungarischen ins Deutsche.
In gewisser Weise versucht Dragomán in die Musik, oder zumindest Elemente dieser, in die Sprache der Literatur zu übertragen. Seine zahlreichen Tempowechsel, rhythmischen Spielereien und verschiedenen tonalen Sprünge in ein elegantes Deutsch zu bringen, ist eine große Kunst, die Tankó mühelos beherrscht. Bereits die erste Erzählung Der Eiserne Bogen imitiert in einem so waghalsigen Tempo das verzweifelte Gefiedel eines jungen Geigers, dass Leser unter der Führung einer weniger souveränen Übersetzerin schnell Gefahr laufen könnten, sich in diesen kommalastigen, Seiten umfassenden Sätzen verlieren. Man hofft auf eine Pause, ein Zeichen, dass der Satz endlich zu Ende ist, doch die Sätze sind gnadenlos:
Mein Vater sitzt im Schaukelstuhl, fuchtelt mit dem alten Bogen, dirigiert mich, sagt, ich soll aufhören und von vorne anfangen, oder er sagt, ich spiele falsch, ganz falsch, ob ich denn nicht merke, dass es falsch ist, ich soll endlich richtig hinhören, schließlich bin ich sein Sohn, ich kann doch nicht taub sein.
Solche Reihungen finden sich oft in Geschichten mit einer prägnanten Erzählstimme, sie imitieren ungefilterte Gedankenströme, die den Eindruck von Unmittelbarkeit erzeugen sollen. Dabei wird darauf verzichtet, Äußerungen außenstehender Figuren in einzelne Sätze zu betten oder in indirekter Rede zu verarbeiten. Stattdessen reihen sich Gedanken und verbale Äußerungen aneinander, Hauptsätze dürfen Hauptsätzen folgen. Damit das funktioniert und die Lesbarkeit nicht geschmälert wird, bedarf es großer Kontrolle über die Sprache von Seiten der Übersetzerin. Der anschließende Wechsel zu deutlich gediegeneren Tempi gelingt Tankó spielend.
Ebenso beeindruckend sind auch die Übergänge in andere Sprachebenen. An den entscheidenden Stellen wirkt Tankós Sprache zeitlos, an anderen modern bis umgangssprachlich. Während einige Novellen, wie beispielsweise Die Erbschaft oder Fischsuppe, mit einer eher schlichten, unaufgeregten Sprache arbeiten, strotzt die Novelle Heavy Metal vor Ausdrücken wie „Ey, Alter“ oder „scheißegal“ und markiert in ihrer radikalen Nachahmung der Mündlichkeit einen deutlichen Bruch:
„Kennst du Heavy Metal? Iron Maiden? Richtig, Iron Maiden, das ist Heavy Metal. Von Iron Maiden hast du also schon gehört. Ja? Okay, du kennst dich nicht aus, aber das weißt sogar du, dass Iron Maiden die beste Metal Band ist? Iron Maiden? Ey, Alter, verschon mich, ich sag ja nicht, dass sie scheiße sind, scheiße sind sie nicht, es gab Zeiten, da hab ich nichts anderes gehört…“
Der Stilsicherheit der Übersetzerin ist zu verdanken, dass die verschiedenen sprachlichen Ebenen auch in der Übersetzung funktionieren und solche umgangssprachliche Elemente in dieser Sammlung weder gänzlich deplatziert noch zu abgedroschen wirken. Stattdessen erwecken sie den Eindruck sprachlicher Authentizität und überschatten so weder die Prägnanz der Erzählstimme noch die Handlung der Novelle.
Die gelungenen Geschwindigkeitswechsel und das selbstbewusste Gespür der Übersetzerin für tonale Färbungen wirken Dragománs gelegentlich durchschimmerndem Hang zum Rührseligen entgegen. Die Tendenz zum Kitsch wird in Novellen wie Karcsika oder Ohrensessel besonders deutlich – in letzterer zieht beispielsweise der unschuldige Enkelsohn den Frack seines Großvaters an und beginnt mit seiner Großmutter vorm flackernden Fernseher zu tanzen. Damit solche Novellen funktionieren, sind Dragománs Figuren mit einem scharfen Blick für die Details ausgestattet, die für komplexere Nuancen sorgen als es die Handlung allein vermocht hätte.
Letztlich ist es aber vor allem die Sprache, die unabhängig vom Inhalt für eine anspruchsvolle Lektüre sorgt und glücklicherweise auch in der deutschen Übersetzung ohne jegliches Pathos daherkommt. Die Leserinnen und Leser der deutschen Fassung dürfen sich hierfür bei einer kundigen, sprachmusikalischen Übersetzerin bedanken, die die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse mehr als verdient hat.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an die Nominierte
Was macht das Buch aus?
Wie Titel und Umschlag schon andeuten, handelt es sich bei Löwenchor um ein eng mit Musik verflochtenes Buch. Alle der fast dreißig Novellen des Bandes zeichnen sich durch eine andere Melodie, vor allem aber durch einen ganz eigenen Rhythmus aus. Es galt also, sich jeden Tag auf einen neuen Groove einzulassen.
Ursprünglich hatte ich die Texte in der Reihenfolge übersetzen wollen, in der sie im Originalband und nun auch in der deutschen Ausgabe stehen, davon bin ich aber bald abgekommen. Es hätte vielleicht am Ende keinen großen Unterschied gemacht, aber es gab eben die Tage, an denen mir mehr nach einem stark durchrhythmisierten Text wie Der Besen war, und die, die mehr zu einem langsameren, gefühlvolleren wie Limon con sal passten.
Es gab den Tag für den Herzschlagrhythmus von Ultraschall, für die galoppierenden Pferde in Derby, für den Boxertext Bärentanz. Neben dem Rhythmus ist auch wichtig, dass selbst die zusammenhängenden Novellen, die den- oder dieselben Protagonisten haben, meist von einer ganz unterschiedlichen Dynamik geprägt sind.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Ich habe auf jeden Fall gelernt, mich dem Atemrhythmus der verschiedenen Erzähler anzupassen oder vielmehr noch, diesen auch dann auszuhalten, wenn er nicht unbedingt angenehm ist. Meist geschieht diese Anpassung beim Übersetzen ja ganz automatisch, ohne dass man sich dessen bewusst wird. Der eigene Atem fließt im Rhythmus der Erzählung. Doch wenn der Atem des Erzählers nicht fließt, sondern vor Todesangst rast (Der eiserne Bogen) oder man merkt, dass er alle Kraft zusammennimmt, um das, was aus ihm herausbrechen will, eben daran zu hindern, und dabei den Atem bis zur Ohnmacht zurückhält (Extra brut), wird für die Übersetzerin die Verlockung groß, zwischendurch doch mal heimlich tief durchzuatmen. Dieser sollte man wohl auch nicht widerstehen, nach der erfolgten Sauerstoffzufuhr dann aber wieder zum Atemrhythmus des Erzählers zurückfinden.
György Dragomán/Timea Tankó: Löwenchor (Im ungarischen Original: Oroszlánkórus)
Suhrkamp 2019 ⋅ 269 Seiten ⋅ 24 Euro
www.suhrkamp.de/buecher/loewenchor-gyoergy_dragoman_42851.html