Saison der Wirbelstürme beginnt mit der Entdeckung einer Leiche. Also ein Krimi? Nein: keine geradlinige Handlung, kein scharfsinniger Ermittler, keine erleichternde Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit. Stattdessen schickt uns die Autorin durch ein Dickicht wild wuchernder Geschichten, weil eben kein gerader Weg zum Verständnis der Tat führt, weil die Täter selbst auch Opfer und die wirklichen Schuldigen gar nicht greifbar sind.
In La Matosa, dem Dorf an der Straße von der Hafenstadt zu den Erdölfeldern, ist die „Hexe“ ermordet worden. Zu ihr kamen die Frauen bei Krankheiten, ungewollten Schwangerschaften oder für einen Liebeszauber. Männer – junge Männer – kamen, um sich für Sexdienste bezahlen zu lassen, denn das schwarzgekleidete Wesen, das da einsam in einem abgelegenen Haus voller Unrat und Gerümpel lebte und sich vor den Freiern als skurrile Sängerin produzierte, war homosexuell. Aber warum wurde die Hexe ermordet? Im Dorf munkelt man von Schätzen, die im Haus verborgen sein sollen, von einem faustgroßen Diamantring – Gerüchte, die ihrerseits weitere Morde zur Folge haben. Ein Verdacht, wer die Täter sind, kommt schnell auf. Der Autorin geht es jedoch nicht um die Spannung des whodunit, sondern darum, sich in die Menschen aus dem Umfeld der Hexe einzufühlen, in das Gewirr aus Wünschen, Begierden, Gefühlen und Abhängigkeiten, in das sie heillos verstrickt sind. So treten nach der Hexe in den folgenden Kapiteln mehrere Personen auf, deren Geschichten sich scheinbar von dem Mord entfernen, jedoch in einer spiralförmigen Bewegung um dieses zentrale Geschehen wie um das Auge des Hurrikans kreisen.
Fernanda Melchor, 1982 in Veracruz geboren, kennt die Region, in der ihr Roman spielt, seit ihrer Kindheit. Als sie in der Öffentlichkeitsarbeit der Universität Veracruz tätig war, stieß sie auf eine Zeitungsmeldung über den Mord an einer Hexe. „Ich war sprachlos. Ich musste die Geschichte hinter diesem Verbrechen schreiben“, erzählt sie in einem Interview. Da ihr die Recherche vor Ort wegen der Drogenmafia zu riskant erschien, erfand sie selbst Figuren und Handlung. Der Schauplatz hingegen dürfte ihren Erfahrungen entsprechen: eine Gegend mit eintönigen Zuckerrohrfeldern, dem nach einem Erdrutsch wieder aufgebauten armseligen Dorf und der Kleinstadt, in der Drogenhandel und Ölindustrie das Sagen haben.
Es ist ein trostloses Mexiko, das Fernanda Melchor uns präsentiert, „Alptraum-Realismus“ („realismo pesadillesco“), wie ein mexikanischer Journalist es nannte. Die Menschen sind arm, verlassen, entwurzelt; Getratsch und Aberglaube vergiften ihre Beziehungen; Sex kommt bei ihnen ständig und in jeder Form vor, meist aber verbunden mit Geld oder Gewalt. Diesen Verlierern des Systems hat die Autorin ihre Träume und ihren Hass abgelauscht und in seitenlangen Sätzen aufgeschrieben, in einem Erzählfluss, der von einem Thema zum nächsten übergeht und in der Übersetzung syntaktisch so gestaltet ist, dass er eine ebensolche Sogwirkung entfaltet wie das Original. In der Übersetzung wurden die Sätze glücklicherweise nicht zugunsten leichterer Lesbarkeit zerstückelt:
Y cuando el chisme de que la Bruja pagaba llegó hasta Villa y el resto de las rancherías de ese lado del río aquello se volvió una procesión, un peregrinar continuo de muchachos y hombres ya hechos que se peleaban por entrar primero y a veces nomás iban a echar bola, a bordo de camionetas y con la radio a todo volumen y cajas de cerveza que metían por la puerta de la cocina y se encerraban adentro y se escuchaba música y un bullicio como de fiesta, para espanto de las vecinas y sobre todo de las pocas mujeres decentes que aún quedaban en el pueblo, para entonces ya plenamente invadido de fulanas y pirujas venidas desde quién sabe dónde, atraídas por el rastro de billetes que las pipas del petróleo dejaban caer a su paso por la carretera, muchachas de poco peso y mucho maquillaje […]Und als es sich bis nach Villa und in die anderen Weiler auf dieser Seite des Flusses herumsprach, dass die Hexe zahlte, begann eine regelrechte Prozession, Burschen und gestandene Männer pilgerten in Scharen zum Haus und prügelten sich, wer als Erster hineindurfte, manchmal hingen sie auch einfach nur herum, kamen mit aufgedrehtem Radio in ihren Pick-ups angefahren, trugen Bierkästen durch die Küchentür und sperrten sich drinnen ein, man hörte Musik und Radau wie auf einer Party, zum Schrecken der Nachbarinnen und vor allem der wenigen anständigen Frauen, die es im Dorf noch gab, das inzwischen von Huren aller Art bevölkert war, die von Gott weiß woher kamen, angezogen von der Spur aus Geldscheinen, die die Öltransporter auf ihrer Route über die Landstraße hinterließen, leichte Mädchen mit dicker Schminke […]
Die geradezu ununterbrochene „procesión“ wird im spanischen Text noch augenfälliger, weil die Nebensätze nicht durch Kommata abgetrennt werden müssen. Erst nach „procesión“ kommt die erste Sprechpause, bevor in einer Apposition („un peregrinar … adentro“) detaillierte Beschreibungen folgen. Die Übersetzerin nimmt den Einschnitt auf, verändert jedoch die Struktur, indem sie einen neuen Satz mit dem Verb „pilgerten“ anstelle des Substantivs beginnt, vielleicht weil die verbale Form lebendiger klingt. Die vorwiegend reihende Struktur ist erhalten, ebenso wie die Erzählperspektive. Knapp und idiomatisch gut gelöst ist hier auch die Übertragung des Gegensatzes „poco – mucho“ am Ende der Passage.
Die meisten Figuren zeichnet Melchor so, dass die Leserinnen und Leser eine Mischung aus Mitleid und Abscheu empfinden. Wenn es eine Sympathieträgerin gibt, dann die dreizehnjährige Norma, die von ihrem Stiefvater Pepe psychisch abhängig gemacht und physisch missbraucht wird. Die Autorin zeigt, wie diese subtile Manipulation funktioniert, indem sie die Beziehung aus der Sicht des mit seinen Problemen allein gelassenen Mädchens schildert. Einmal belauscht Norma ein Gespräch zwischen Pepe und ihrer Mutter, die etwas beunruhigt ist über die Entwicklung ihrer Tochter und deren Beziehung zu ihrem Stiefvater:
[…] y él le decía que no fuera tonta, que comprendiera que lo único que él trataba de hacer era darle cariño a esa pobre niña que nunca tuvo la fortuna de contar con un padre, y que era normal que la chamaca se confundiera un poco al sentir el afecto sincero y totalmente inocente de Pepe, e incluso que se encandilara un poquito con él, vaya, está en la edad de la punzada, de las hormonas alborotadas, pobrecita, tal vez se imagina que yo la quiero otra manera […][…] und er sagte zu ihrer Mutter, dass sie sich doch nicht so blöd anstellen sollte, dass er sich nur ein bisschen um Norma kümmerte, weil sie nie einen Vater gehabt hatte, die arme Kleine, und dass es deshalb ganz normal war, dass seine echte, unschuldige Zuneigung das Mädchen manchmal durcheinanderbrachte, sie vielleicht sogar ein bisschen für ihn entflammt war, sie kam eben in die Pubertät, ihre Hormone spielten verrückt, armes Ding, vielleicht stellt sie sich sogar vor, dass ich sie auf andere Weise mag […]
An dieser Stelle spielt die Übersetzerin durch das Wort „kümmern“ die Problematik stärker herunter als Pepe selbst, denn er spricht von „cariño“, was „Zuneigung“, aber auch „Zärtlichkeit“ bedeutet und vorwiegend für die Beziehung zu Kindern, Familienmitgliedern oder Freunden verwendet wird (als Kosewort auch: „Schatz“). Möglicherweise ging es ihr hier darum, kulturelle Unterschiede zwischen deutschsprachigen Ländern und Lateinamerika in Bezug auf körperliche Nähe und Berührung zu berücksichtigen; das Wort „Zuneigung“ bringt sie geschickt im nächsten Satz (für „afecto“) unter. In der indirekten Rede verzichtet sie auf den Konjunktiv I, offenbar zugunsten der Unmittelbarkeit des mündlichen Stils. Das passt auch besser zum Übergang in die direkte Rede am Ende dieser Textstelle, die beispielhaft dafür stehen mag, wie die Autorin die haarsträubende Verdrehung und Umwertung der Tatsachen durch den Machismo entlarvt.
Die Autorin verwendet in ihrem vielstimmigen Roman eine ganze Reihe sprachlicher Register: in der Schilderung der Atmosphäre durch die Erzählerstimme am Anfang, den Erinnerungen der verschiedenen Personen, einmontierten Verhörpassagen oder den Reflexionen des wie ein mexikanischer Charon anmutenden Totengräbers, der im Schlusskapitel all den namenlosen Gewaltopfern den Weg zum Licht weist. Am häufigsten kommen die Personen selbst mit ihrer umgangssprachlichen bis vulgären Ausdrucksweise zu Wort:
Se había largado, el pinche marrano del comandante, a bordo de la única patrulla de Villa, en compañía de sus esbirros; se había largado para la casa de la Bruja tan pronto acabaron de madrearse a Brando en aquel cuartito detrás de la comandancia. ¿Dónde está el dinero?, gritaba el marrano asqueroso, habla o te ahogo como la pinche rata que eres; habla o te corto la verga y te la meto por el culo, chamaco puto, maricón de mierda, necio […]Abgehauen war er, das Dreckschwein von Kommandant, mit seinen Schergen in dem einzigen Streifenwagen von Villa abgehauen; nachdem sie Brando in dem kleinen Raum hinter der Polizeiwache fertiggemacht hatten, waren sie sofort zum Haus der Hexe abgehauen. Wo ist das Geld?, hatte das Dreckschwein gerufen, rück raus damit oder ich ersäufe dich wie die Scheißratte, die du bist; raus damit oder ich schneid dir den Schwanz ab und steck ihn dir in den Hintern, verfluchte Schwuchtel, Scheißwichser, Sackgesicht […]
Nicht immer spiegelt diese Sprache den brutalen Umgang der Personen miteinander wider – „sometimes it’s really tender what they say“, erklärte Angelica Ammar bei der Preisverleihung, als sie zur Übersetzung der vielen Schimpfwörter und Vulgärausdrücke im Roman gefragt wurde. Im mexikanischen Spanisch werde halt viel geflucht, auch wenn es nicht böse gemeint sei; im Deutschen sei die Hemmschwelle anders. Allein das abwertende Adjektiv „pinche“ zählte die Übersetzerin 250 Mal. Sie übersetzt es je nach Kontext unterschiedlich und lässt es gelegentlich weg, aber auch so ist der Text nichts für zarte Gemüter: „pinche basura: verdammter Müll“, „pinche vieja: Fotze“, „pinches culeros: diese Wichser“… Für einige dieser Ausdrücke musste die Übersetzerin, ermutigt vom Verlag, erst einmal ihren entsprechenden Wortschatz erweitern– schließlich spiegelt sich darin die Mentalität einer Gesellschaft, in diesem Fall Frauenfeindlichkeit und Homophobie. Auf das in Mexiko besonders tabuisierte Thema offener oder latenter Homosexualität geht Melchor in ihrem Roman auf sensible und differenzierte Weise ein, und bei aller Gewalt, Grausamkeit und Gefühllosigkeit spürt man bei den Figuren doch zumindest die Sehnsucht nach dem, was in diesem Buch nirgends benannt wird: Liebe.
In seiner Laudatio auf Melchor und Ammar bei der Verleihung des Internationalen Buchpreises formulierte der Übersetzer Robin Detje die Wirkung des Romans so:
Ich bin überfordert. Alles andere wäre gelogen. Ich glaube, wir waren in der Jury von der Saison der Wirbelstürme alle überfordert, haben alle gestockt und eine Weile nicht weiterlesen können.
Und er fragt:
Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert?
Fernanda Melchor/Angelica Ammar: Saison der Wirbelstürme (Im spanischen Original: Temporada de huracanes)
Wagenbach ⋅ 240 Seiten ⋅ 22 Euro
www.wagenbach.de/buecher/titel/1177-saison-der-wirbelstuerme.html