Das Buch
„Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“, heißt es in der Bergpredigt. Den armen Schlucker und mäßig begabten „Quartalsdichter“ Emil Strezov schert das wenig. Nachdem seine gesamte Familie von der Tuberkulose hinweggerafft wurde, wächst er bei einem Schuster in einem Armenviertel von Sofia auf. Dort bleibt er ein Außenseiter, sein einziger Freund ist der stotternde Schusterssohn Kosta. Nach der Machtergreifung der Kommunisten 1944 steigt er so unversehens wie rasant auf: Erst patrouilliert er mit roter Armbinde als Volksmilizionär durch die Straßen, dann wird er Rundfunkreporter und bald darauf Ankläger beim Volksgericht.
Und die Zeit des Emil Strezov brach an. Der noch nicht gekämpft hatte, doch den es zu kämpfen verlangte; der über Enthusiasmus verfügte und ein revolutionäres Gerechtigkeitsempfinden, das ihn zu einem gerechten Urteil befähigen würde; und der die Arbeit nicht scheute – denn (…) das Amt eines Volksanklägers war ein harter Job.
Im 2. Weltkrieg war das Zarentum Bulgarien ein Verbündeter Nazi-Deutschlands, bis im September 1944 die sowjetische Rote Armee einmarschierte und nach einem Putsch die Kommunisten an die Macht kamen. Vordergründig, um Kriegsverbrecher und Kollaborateure zu bestrafen, tatsächlich aber auch, um die alten Eliten auszuschalten, fanden von Dezember 1944 bis April 1945 über hundert Schauprozesse nach Moskauer Vorbild statt. Vor den eigens eingerichteten „Volksgerichten“ wurden tausende von Politikern und Intellektuellen zum Tode oder zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die bulgarische Literatur hat lange Zeit einen Bogen um dieses historisches Tabu gemacht, das Angel Igov mit Die Sanftmütigen nun bricht. Der Roman war deshalb in Bulgarien eine kleine Sensation.
Nicht nur das Thema ist mutig und überfällig, auch die Perspektive ist bemerkenswert: Die anonymen Erzähler sind offenbar Leute aus Strezovs Viertel, die sein Kommen und Gehen, wie es aufmerksame Nachbarn nun mal tun, ganz genau registrieren:
Wir kannten dich gut, Emil Strezov, über Monate und Jahre haben wir jeden deiner Schritte verfolgt.
Wie der Chor in einer antiken Tragödie kommentieren sie das Geschehen und räumen dabei selbst ein, dass sie nur bedingt zuverlässige, voreingenommene Erzähler sind, die ihre Augen und Ohren überall haben und sich den Rest zusammenreimen, denn „woher soll man wissen, wie es wirklich gewesen ist“.
Um seine eigenen Ziele zu erreichen, macht sich Strezov, wie viele andere, zum willigen Handlanger der neuen Machthaber. Sobald die Todesmaschinerie einmal angelaufen ist, beginnt sie immer schneller zu rotieren, bis sich die kleinen Rädchen im Getriebe, selbst wenn sie wollten, dem Tempo nicht mehr entgegenstemmen können. Zum Beweis der eigenen politischen Zuverlässigkeit überbieten sich Richter und Ankläger in den geforderten Strafmaßen. Vereinzelte Stimmen der Vernunft, die ein differenzierteres Bild vom Grad der Schuld Einzelner zu zeichnen versuchen, werden im allgemeinen revolutionären Feuereifer schlichtweg übertönt. Die Sanftmütigen liefern somit reichlich Stoff zum Nachdenken – über Schuld und Strafe, Ermächtigung und Entmachtung, Verblendung und Manipulation, Verantwortung, Gerechtigkeit und die Banalität des Bösen.
Die Jurybegründung
Andreas Tretner hat Die Sanftmütigen mit großer Erfindungsgabe und Liebe fürs semantische wie rhythmische Detail in schwungvolles Deutsch gebracht.
Die Übersetzung
Tretners Sprachgewandtheit trägt uns souverän durch den Roman und eröffnet uns die verschiedenen Facetten der Sanftmütigen. Der Tonfall ist locker und dynamisch, natürlich wirkende Umgangssprache wird gekonnt mit obsolet-gehobenen Ausdrücken (fürderhin, abhold) kombiniert, hier eine mundartliche Wendung (Studenteln, ein Seidel, bekakeln), da eine Unflätigkeit („Na was, ihr Hosenscheißerchen. Geht heim zu Mama“) eingeflochten. Manchmal stolpern die Figuren auch über die Grammatik: „Die Marie aus unserm Viertel arbeitet auch in der Abteilung. Die wo früher auf Heinz Rühmann stand“, „Täte bei uns reinpassen“ oder „Ja, wissen Sie denn nicht, dass er dem Kommissar für jüdische Fragen sein Schwager ist?“ All das wird genau im richtigen Maß eingesetzt und verbindet sich so zu einem harmonischen Lesevergnügen.
Feiner Humor entsteht durch ironisch-absurde Personifizierungen, die Tretner geschickt nachbildet. Nach der Ankunft der Roten Armee fallen die „roten Fahnen … schwarmweise über die Fassaden der öffentlichen Gebäude herein“. An Weihnachten gibt es „fette, selbstzufriedene Wurstringe“, „der Winter tat seine letzten Atemzüge“, aber dafür „schneite es Gerüchte aus dem tiefhängenden Himmel“, und Fahrstühle zeigen kannibalistische Tendenzen: „Gleichsam besänftigt durch den geschluckten Happen Mensch, machte der Fahrstuhl in der Aufwärtsbewegung viel weniger Lärm.“ Häuser haben ein eigenes, unverwechselbares Wesen, es gibt „gestrenge“, „tanzende“ und „vor Entrüstung bebende“.
Eine weitere Besonderheit sind die elaborierten Vergleiche, die das gesamte Buch durchziehen. Nicht nur die Besucher eines Sofioter Bordells werden auf wenig schmeichelhafte Weise mit einer Menagerie aus Pavianen, Krokodilen und schnauzbärtigen Robben verglichen, auch die Angehörigen der alten Eliten kriegen tierisch ihr Fett weg: Der Erzählerchor vergleicht die angeklagten Generäle, Anwälte und Journalisten mit eitlen Pfauen, scharfäugigen Schneeeulen und raubgierigen Habichten, die „Kuckuckseier legten, wohin es ihnen gefiel“. An anderer Stelle wird eindrucksvoll geschildert, wie die einfachen Menschen von der neuen Bewegung wie von einer Flut überrollt werden:
Es war der Puls, der Tagesrhythmus, der aus dem Tritt gekommen war. Wellen von Angst und Wellen von Begeisterung brandeten, eine nach der anderen, eine die andere austreibend, über Häuser und Baracken, so dass das Viertel abwechselnd verstummte, in Furcht erstarrte, und dann wieder Trauben von Menschen ausspie, die eben noch in den hintersten Winkeln ihres Zuhauses verkrochen gewesen; binnen weniger Stunden konnte man dieselben Gesichter erst hinter morschen Fenstern, vergilbten Gardinen lauern und plötzlich wieder auf der Straße in einen flutenden Menschenstrom eingehen sehen, doch kurz bevor all die Ströme zu einem stürmischen Meer hätten zusammenfließen und in irgendeine Richtung losbrechen können, kippte die Stimmung wieder um, die Leute stoben auseinander, und die staubigen Straßen waren leer.
„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“, sagen sich die Wir-Erzähler, die den schwer lädierten Kosta von der Straße aufsammeln und fürsorglich nach Hause bringen, nachdem sie ihn zuvor selber bewusstlos geschlagen haben. Die Leidtragenden, die Sanftmütigen und die Friedfertigen – sie können lange auf Gnade, das Himmel- oder Erdreich warten, solange Emil Strezov und seinesgleichen an der Macht sind. Das zeigt uns Angel Igovs Roman mit bitterbösem Humor. Andreas Tretner ist es zu verdanken, dass diese Botschaft auch im Deutschen eindrücklich rüberkommt, denn er übersetzt sprachspielerische Elemente, Registerwechsel und komplexe Bilder mit einer lässigen Virtuosität, die ihresgleichen sucht.
Lieblingssatz
Um Ehrlichkeit zu wahren, müsste dieser Bericht sich drehen und winden, mal ein Stück die staubigen Straßen entlangflitzen, mal quer über die Dächer springen, so wie wir es taten, und manchmal müsste er sich auch gegen sich selber wenden.
Zwei Fragen an den Nominierten
Was macht das Buch aus?
Andreas Tretner: Ein kleines Buch, das ein großes Thema angeht: die sogenannten Volksgerichte 1944/45 in Bulgarien, wo angeblich das Volk über die früheren Machthaber richtet, in Wahrheit aber ein diktatorisches Regime sich in den Sattel schwingt und alle Konkurrenten ausmerzt. Der Autor fand hierfür den genialen Dreh, einen kollektiven Erzähler zu wählen, der dieses Volk tatsächlich repräsentiert. Die Clique hat im Sofioter Viertel Jučbunar das Sagen, welches ein proletarisch/subproletarischer Schmelztiegel mit sehr eigenen Gesetzen war. Sie sind die „Checker“ im Viertel und daher das, was ein literarischer Erzähler zu sein hat: nämlich allwissend. Jedenfalls tun sie so, machen sprachlich und mental eine Menge her. Man folgt ihren Tiraden gern, auch wenn man ihnen nicht immer ganz traut. Zumal die Selbstgewissheit im Laufe des Buches flöten geht, die wilde Gang wird spürbar domestiziert. Also kriegen wir erzählt, wie das Volk die Macht übernimmt, und bekommen zugleich mit, wie es in Wahrheit entmachtet wird.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Zum einen: dass man in Prosa wiedergegebene Dialoge so „inszenieren“ kann, dass An- und Abführungen und sonstige Hilfszeichen entbehrlich werden. Daraus ergibt sich eine sehr intensive und dynamische, moderne Erzählweise. Igov führt es im Bulgarischen vor; ich hatte nicht gleich gedacht, dass das im Deutschen auch zu machen geht. Witzigerweise können sich Autor und Übersetzer dabei unterschiedlicher Verbmodi bedienen, die es in der je anderen Sprache nicht gibt: Renarrativ hie, Konjunktiv der indirekten Rede da. Eins durchs andere zu ersetzen reichte aber bei weitem nicht aus. – Und zum anderen: dass man schlechte Gedichte, wie sie der Autor seinen Figuren unterschiebt, besonders gut übersetzen muss!
Angel Igov/Andreas Tretner: Die Sanftmütigen (Im bulgarischen Original: Kpomkume)
eta Verlag 2019 ⋅ 216 Seiten ⋅ 17,90 Euro