Das Buch
Clarice Lispector ist ein Mythos. Um sie und ihr literarisches Werk zu beschreiben, gerät selbst die Literaturkritik hin und wieder ins Stammeln. Die in Brasilien aufgewachsene Autorin gilt als „geheimnisvoll“, „glamourös“, „tragisch“, ihre Geschichten als „rätselhaft“. Lispector, eine Meisterin der Selbstinszinierung, entzieht sich jeder vorschnellen Kategorisierung, jeder Versuch der Annäherung an ihr Schaffen scheint zum Scheitern verurteilt. Einzelne Geschichten seien ihr „selbst ein Rätsel“, schreibt sie in Ganz hinten in der Schublade, und so beiläufig geschrieben, „wie man ein Wollknäuel ausrollt“. Schon vor ihrem Tod im Jahr 1977 war Lispector eine Berühmtheit; heutzutage sind ihre Bücher immer noch Kult und ihre treu ergebene Anhängerschaft auch außerhalb Lateinamerikas stetig wachsend.
Im vergangenen Jahr ist der erste von zwei Bänden erschienen, die alle Erzählungen Lispectors auf Deutsch sammeln. Der aus vier Teilen bestehende Band lässt durch seinen chronologischen Aufbau die literarische Entwicklung der Autorin, die ihren ersten Roman blutjung veröffentlichte, nachverfolgen. Vor allem ihre späteren unter dem Titel Fremdlegionen erschienen Kurzgeschichten geben Einblicke in den sagenumwobenen, rätselhaften und philosophisch angehauchten Schreibstil der Autorin. Einige ihrer ganz frühen, „ersten Geschichten“ sind überlang und lassen die scharfe Präzision vermissen, die Lispectors Werk ausmacht. Doch sie zeigen bereits deutlich die aufs Detail fokussierte Beobachtungsgabe der Autorin und die reichen Innenleben ihrer Figuren, vor allem der Frauenfiguren.
In Lispectors Kurgeschichten gibt es zwar eine ganze Bandbreite an Charakteren (von einer Henne bis zum Mathematiklehrer), es sind aber vor allem ihre schillernden Frauen, die in diesem Band am nuanciertesten gezeichnet sind. Viele ihrer weiblichen Figuren sind unsympathisch – oft unzufrieden und unstetig, dann wiederum apathisch und überraschend aggressiv; die Frauen bezeichnen sich selbst mitunter als „Dämonen“ und „Hexen“. In der Geschichte Eine aufrichtige Freundschaft stößt eine Frau ihrer besten Freundin eine Gabel in den Hals; in der Erzählung Triumph beobachtet eine Geburtstag feiernde Matriarchin ihre Gäste mit unverhohlener Verachtung: „Sie sahen aus wie Ratten, die sich gegenseitig anrempelten, ihre Familie.“
In Lispectors Kurzgeschichten folgt ein böses Erwachen, sobald ihre Frauen beginnen, aus den patriarchalen Strukturen auszubrechen und zu reflektieren, ja zu denken: „[Indem] sie hinsah, riskierte sie einen Augenblick lang, zu einer Person zu werden.“ Lispectors Frauen, ob jung oder alt, befinden sich im Prozess der Subjektwerdung. Viele von ihnen scheitern, weil es für ihre Ambitionen und Lebensentwürfe in der Gesellschaft keinen Platz gibt, und ziehen sich in häusliche Gefängnisse zurück. Für ihre Autorin hingegen beginnt erst mit dem eigenen Denken das wahre „Leben“. Das war schon vor siebzig Jahren radikal – und ist es noch heute.
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Clarice Lispector ist nicht nur ein Mythos, sondern auch eine anspruchsvolle Autorin. Der Erzählband zeigt ihre Experimentierfreudigkeit, sowohl in Hinsicht auf den Inhalt als auch auf den Stil – Lispector überschreitet Genregrenzen und wählt die unterschiedlichsten Erzählperspektiven. Ihr Übersetzer Luis Ruby, der bereits einige Romane Lispectors übersetzt hat, darf sich in diesem über 400-Seiten langen Erzählband also austoben. Einige der Kurzgeschichten wurden von ihm erstmalig ins Deutsche übertragen, andere neu übersetzt.
Wer sich noch der Illusion hingibt, dass nur seitenlange Schachtelsätze große Literatur sind, der wird hier eines Besseren belehrt. Lispector ist nämlich zumeist dann am besten, wenn sie sparsam und ökonomisch mit Sprache arbeitet. Dies wiederum verlangt von ihrem Übersetzer Prägnanz und Sorgfalt, um den besondern Ton ihrer Erzählungen auch im Deutschen einzufangen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Erzählung Die Henne und das Ei, die auch Lispector-Neulingen zeigt, warum die Autorin einen so mysteriösen Ruf hat:
Das Ei ist die Seele der Henne. Die Henne unbeholfen. Das Ei selbstsicher. Die Henne erschrocken. Das Ei selbstsicher. Wie ein Geschoss im Ruhezustand. Denn ein Ei ist ein Ei im Raum.
Ihre originellsten Gedanken sind in Sätzen verpackt, die vor allem von ihrer Kürze leben. Erst die Fusion der schlichten Struktur und gedanklichen Tiefe zeigt die Eigentümlichkeit ihres Schreibstils. Im Idealfall entstehen dabei Sentenzen wie „Brot ist Liebe unter Fremden“, die dank der Genauigkeit und des Ideenreichtums des Übersetzers auch im Deutschen weder überfrachtet wirken noch an Einprägsamkeit verlieren. Wann immer Lispector zudem auf einen raschen Wechsel von langen und kurzen Sätzen zurückgreift, erreichen ihre bisweilen minutiösen Beschreibungen ihren Höhepunkt. Rubys sicheres Rhythmusgefühl sorgt dafür, dass solche Passagen nichts an Dringlichkeit und Spannung einbüßen.
Lispector hat zudem ein Faible für ungewöhnliche Bilder und Vergleiche, die in der Übersetzung meist wunderbar funktionieren. Sie zeigen die Sinnlichkeit und auch die Ironie in Lispectors Schreiben, angefangen bei poetischen Beobachtungen wie „[a]llmählich dringt der Tag in ihren Körper ein“ bis hin zu komisch anmutenden Kommentaren: „[s]eine gewaltige Kraft schüttelt sich in ihrem Gefängnis“. Durch den puristischen Stil ihres Übersetzers wirken solche Spielereien auch auf Deutsch weder plump noch kitschig.
In Rubys eleganter Übersetzung bieten Lispectors Kurzgeschichten eine intensive Leseerfahrung und zeigen die Raffinesse der Autorin. Geprägt von stilistischer Exaktheit und Direktheit entsteht in deutscher Sprache jene besondere Atmosphäre, die Lispectors Schreiben ausmacht und noch lange nachwirkt. Kein Wort ist zu viel, keines fehl am Platz. Von Lispector und ihrem Übersetzer lernen wir: Weniger ist manchmal mehr.
Lieblingssatz
Die Worte sind mir voraus und lassen mich hinter sich, sie führen mich in Versuchung und ändern mich, und wenn ich nicht aufpasse, ist es schnell zu spät.
Zwei Fragen an den Nominierten
Was macht das Buch aus?
Luis Ruby: Mich beeindruckt und bereichert bei der Lektüre von Clarice Lispector ihre bedingungslose Wahrnehmung. Daraus entstehen, denke ich, die ausgesprochen originelle und intensive Sprache und die intensiven Realitätserfahrungen, die einem ihre Texte vermitteln können, zwischen Ernst, Komik und Fremdheit.
Wie weit ihre Erzählungen Subjektivität auffächern, sich darin auch die individuelle Erfahrung verästelt; wie nahtlos die Übergänge zwischen Freiheit und Scheitern sind, zwischen Einvernehmen und Auseinanderdriften von Selbst und Welt; und wie viel Wahrheit doch auch im Inkongruenten liegt, in dem, was sich nicht zusammenfügt oder auseinander – das halte ich für zutiefst menschlich. (Sicherlich ist es kein Zufall, dass die Mittel, mit denen es dargestellt wird, die der literarischen Moderne sind.)
Konkret können das andere viel besser darstellen, zum Beispiel Vojin Saša Vukadinović:
Es geht unter anderem um einen Fiebertraum, antagonistische Betrunkene, einen philosophischen Briefwechsel, die Effekte der Hegel-Lektüre auf eine Beziehung, eine Metallschnur für die Ewigkeit, die Begegnung zwischen einem rothaarigen Mädchen und einem rothaarigen Dackel – alles dargeboten im unnachahmlichen Stil Lispectors, in dem das Empathische, das Skurrile und das Unbegreifliche zusammenfallen und das Leben dort hervortreten lassen, wo es am wenigsten vermutet wird. Die Texte sind bisweilen weitaus zugänglicher, als es die Romane der Autorin sind, und eignen sich somit als Einstieg in das Gesamtwerk.
oder Thomas Palzer:
Lispector erzählt in diesen Geschichten vom Alltag, beispielsweise davon, wie eine Frau im Café sitzt und auf eine Verabredung wartet; oder von einer anderen, die mit unklaren Absichten durch den Zoo streift; sie erzählt von einer weiteren, die beschlossen hat, die Flucht aus einer fad gewordenen Ehe anzutreten und fortzugehen. Der Ton ist frisch und ungewöhnlich. Ohne kompliziert zu klingen, schafft sie es, die äußerste Komplexität innerer Konflikte in scheinbar einfache Sätze zu kleiden.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Viel über den Reichtum von Präzision und (präziser) Unbestimmtheit. Das heißt: immer noch genauer lesen, durch den hermeneutischen Zirkel tanzen oder fast anhalten, in Zeitlupe; Nuancen bergen im Verständnis und in der Suche nach Formulierungen, die sie auch im Deutschen vermitteln. Möglichst ohne der Interpretation vorzugreifen, was ich bei diesen sehr offenen Texten enorm wichtig finde.
Nicht vorschnell zu einem (vermeintlichen) Verständnis springen, sondern Irritierendes ertragen, es weiter befragen, es wirken lassen. Und dann an Irritation ausräumen, was sich einem klareren Verständnis erschließt, und im Original angelegte Irritationen herausarbeiten, so dass sie ohne zusätzliche Störungen wirken können. (Viel, viel Arbeit an der Syntax, an Klang und Rhythmus; bis zum Schluss die Suche nach unkomplizierten, am besten kurzen Wörtern für alles, was keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, was nicht aufhalten soll, da doch anderes Aufmerksamkeit und Verweilen braucht und verdient …)
Ich habe mal wieder mit Freude gelernt, wie wertvoll der Austausch mit den anderen Beteiligten ist: im kollegialen Rahmen von Übersetzerworkshops; mit den Redakteurinnen Corinna Santa Cruz und Maria Hummitzsch sowie der Lektorin Angelika Schedel.
Clarice Lispector/Luis Ruby: Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau. Sämtliche Erzählungen I (im portugiesischen Original: Todos os contos)
Penguin Verlag 2019 ⋅ 416 Seiten ⋅ 24 Euro