Manchmal lohnt es sich, die Wohnung aufzuräumen. Während der Corona-Epidemie fand die russische Bestsellerautorin Ljudmila Ulitzkaja ein altes Drehbuch wieder, das sie 1978 verfasst hatte. Zur Verfilmung kam es nie, doch im Jahr 2020 bewies der Stoff überraschende Aktualität: Nach einer wahren Begebenheit erzählt die studierte Biologin und Genetikerin Ulitzkja in Eine Seuche in der Stadt (Originaltitel: Чума, dt. „Pest“) vom sowjetischen Forscher Rudolf Iwanowitsch Mayer, der sich 1939 bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Lungenpest versehentlich selbst mit dem Erreger infiziert. Nichtsahnend fährt er tags darauf zu einer Konferenz nach Moskau und steckt dabei – möglicherweise – Dutzende weitere an. Als die Krankheit bei ihm ausbricht, entfalten die Behörden eine fieberhafte Aktivität. Der todkranke Mayer wird ins Krankenhaus gebracht und dieses komplett unter Quarantäne gestellt. Das Aufspüren und Einsammeln aller Kontaktpersonen, denen Mayer im Zug, im Hotel und auf der Konferenz begegnet ist, übernimmt der sowjetische Geheimdienst NKWD – Leute abholen ist schließlich dessen Spezialität. Natürlich alles unter strengster Geheimhaltung, damit in der Bevölkerung keine Panik ausbricht.
Die knapp 100 Seiten des „Szenarios“ lesen sich spannend wie ein Roman. Schon der Anfang lässt uns in einer dichten, bedrohlichen Atmosphäre von Schnee und Finsternis versinken:
Через огромную вьюжную пустыню, высвечивая фарами дрожащее пятно, подвижный вихрь снега, идет состав из товарных вагонов. Медленно, долго. Минует заваленный сугробами, едва видный под снегом город. Растворяется в снежной мгле.Durch eine riesige Schneesturmwüste rollt, mit den Scheinwerfern den tanzenden Schneewirbel beleuchtend, ein Güterzug. Langsam und lange. Er fährt vorbei an einer hinter hohen Schneewehen kaum auszumachenden Stadt und verschwindet in der verschneiten Finsternis.
Die Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt trifft die verschiedenen Register der Figuren genau, etwa die einfache Dorfsprache einer Pförtnerin am Telefon samt allen Redundanzen, Wortverhunzungen und mangelndem Gefühl für Höflichkeitsformen:
„Лаблатор! Ночь, говорят, ночь! Что кричишь? Нет никого. Не могу писать, нет. Майер есть! Сиди тут. Сиди, говорят!“„Labratorjum! Es is Nacht, sag ich, Nacht! Was schreist du so? Is keiner da. Kann nich schreiben, nein. Mayer is da! Warte hier. Warte, sag ich!“
Das andere Ende des Spektrums und zugleich ein wunderbares Beispiel für „äsopische“ Sprache, wie man auf Russisch das Sprechen zwischen den Zeilen nennt, um die Zensur zu unterlaufen, ist der spöttische Dialog eines alten Professorenpaars. Diese Vertreter der gutbürgerlichen Intelligenzija erinnern sich am Frühstückstisch in gespielter Empörung an ihre eigenen Studienzeiten in Wien und Paris und mokieren sich dabei unterschwellig über die Qualität der sowjetischen Universitätslehre und die alle Lebensbereiche umfassende Kontrollwut der kommunistischen Partei:
„Ты хочешь сказать, что в Вене учили немного лучше?“– язвительно спросила жена […].
„Да, совсем чуть-чуть. А, может, мне показалось…“
„Ах! Илья Михайлович! Вы, кажется, излишне восторгаетесь буржуазной наукой! Когда я училась в Сорбонне, педагогический процесс был поставлен из рук вон плохо! Можете ли представить, что профорги не проверяли посещаемость студентов?!“
„Какой кошмар! Сет импосибль!“„Du meinst, in Wien war die Ausbildung etwas besser?“, fragt seine Frau spöttisch […].
„Ja, nur ein ganz kleines bisschen. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.“
„Ach! Ilja Michailowitsch! Mir scheint, Sie hegen eine übertriebene Bewunderung für die bürgerliche Wissenschaft! Als ich an der Sorbonne studierte, da war der pädagogische Prozess erbärmlich schlecht organisiert! Kein Gewerkschaftsobmann hat die Anwesenheit der Studenten kontrolliert, können Sie sich das vorstellen?“
„Entsetzlich! C’est impossible!“
Spannend ist bei Übersetzungen immer die Frage, wie viel Lokalkolorit durch den Gebrauch fremdartiger Lexik transportiert wird. Welche Wörter kann und möchte man der Leserschaft zumuten, welche nicht? Braungardt lässt beispielsweise den „Natschalnik“ stehen und übersetzt ihn nicht mit Chef oder Vorgesetzter. Der Bekanntheitsgrad des Wortes dürfte nicht allzu hoch sein, doch zumindest hat es der Natschalnik als russisches Lehnwort in den Duden geschafft und kann bei Bedarf nachgeschlagen werden. Vielleicht erinnert er klanglich auch an den bekannteren „Apparatschik“ und damit an etwas Mächtiges, Bedrohliches im Dunstkreis der Kommunistischen Partei? Derlei Überlegungen dürften die Übersetzerin wohl zu der begründeten Entscheidung veranlasst haben, das Fremdwort stehenzulassen und unseren Wortschatz damit zu erweitern.
Fremdheit entsteht auch durch die berühmt-berüchtigten Vatersnamen und zahllosen Diminutivformen russischer Vornamen. Um übermäßiger Verwirrung vorzubeugen, werden diese in Übersetzungen oft nur abgeschwächt wiedergegeben. Braungardt entscheidet sich ebenfalls für einen Mittelweg: Die Figuren sprechen sich wie im Original respektvoll mit Vor- und Vatersnamen statt mit „Herr/Frau + Nachname“ an, dafür fallen die meisten Verkleinerungsformen weg. Alexej bleibt stets Alexej, und auch Rudolf Mayers heimliche Geliebte Anna Kilim wird nicht je nach Gegenüber zu Anna Anatoljewna, Anja, Anetschka oder gar Anjuta. Diese Strategie macht den Text geradliniger und leserfreundlicher – man fragt sich nur, warum sie nicht konsequent durchgezogen wird. Denn einige Figuren (die Ausnahmen stehen hinten im Personenverzeichnis in Klammern) tauchen dann doch unter ihren Koseformen auf, ohne dass ersichtlich ist, warum Sofja zwischendurch Sonja heißt und Konstantin auch mal Kostja, Alexej dagegen von seiner Frau nicht mit Aljoscha angeredet wird.
Und wo wir gerade beim Mäkeln auf hohem Niveau sind: An einer Stelle ist dem Lektorat ein Logikfehlerchen durch die Lappen gegangen, sodass der Bezirksarzt Kossel im Deutschen versehentlich zweimal ablegt („Kossel legt ab, die Rezeptionistin geht hinaus. Der Arzt legt ab, wäscht sich die Hände und wärmt sich die eiskalten Finger über der Tischlampe“), obwohl er nach dem Ablegen gleich zur Lampe gehen sollte („Коссель раздевается, коридорная уходит. Коссель подходит к настольной лампе, греет над ней озябшие руки“). Solche Kleinigkeiten fallen aber vor allem ins Auge, weil Braungardt den Text insgesamt absolut flüssig und versiert übersetzt.
Ulitzkaja arbeitet in ihrem Text mit etlichen Anspielungen, die in der Übersetzung bei Bedarf durch unauffällige Zusätze oder knappe Fußnoten erklärt werden, ohne dabei die Leserinnen und Leser zu entmündigen. Als sich zwei Frauen über eine Straße unterhalten, nennt die jüngere diese Gogol-Straße, während die ältere beharrlich von der Dworjanskaja-Straße spricht. In einer Fußnote erfahren wir, dass letzteres übersetzt „Adelsstraße“ bedeutet, doch den Schluss, dass alle Straßen und Plätze, deren Namen auch nur entfernt an die Zarenzeit und Aristokratie erinnerten, von den Bolschewiken umbenannt wurden, muss man schon selbst ziehen. Auch dass „der große Hausherr“ (сам хозяин) ein Synonym für Stalin ist, wird sinnvollerweise angemerkt. Bei der Anspielung auf einen „Sehr Mächtigen Mann mit georgischem Akzent“ (im Russischen einfach Очень Высокое Лицо, ohne Erwähnung des Akzents) wäre dies ebenfalls hilfreich gewesen, die Beschreibung lässt nämlich zunächst ebenfalls an Stalin denken, und erst im Nachwort erfährt man, dass damit der Geheimdienstchef Lawrenti Berija gemeint ist. Doch insgesamt erreicht die Übersetzung eine gute Balance aus sprachlicher Exotik und Verständlichkeit.
Der NKWD erfüllt in diesem Buch eine ungewohnt menschenfreundliche Mission. Im Nachwort, das speziell für die deutsche Ausgabe verfasst wurde, schreibt Ulitzkaja: „Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation, dass sie dem Wohl ihres Volkes diente und nicht seiner Einschüchterung und Vernichtung.“ Doch die Isolationsmaßnahmen führen ungewollt zu Tragödien. Denn wer in den 1930er Jahren von den dunklen Autos des Geheimdienstes – im Volksmund „Schwarze Raben“ genannt – abgeholt wird, hegt keinen Zweifel, dass ihm Gefängnis, Lager oder Schlimmeres droht. Deshalb erschießt sich ein Oberst vor seiner vermeintlichen Festnahme, ein anderer stirbt auf der Flucht, und ein unbescholtener Sowjetbürger, der eigentlich nur in Quarantäne soll, wird stattdessen verhaftet, weil seine eigene Frau ihn vor lauter Panik als Volksverräter denunziert. Angesichts dieser Entwicklung hätten sich die Geheimdienstler anfangs gar nicht um allzu philanthropische Züge ihrer Rettungsaktion sorgen müssen:
Krankenhausflur. Zwei Männer mit Schutzmaske schubsen den Friseur in die Notaufnahme und schließen die Tür ab.
„Verstehen Sie eigentlich, was hier los ist?“, fragt der eine den anderen.
„Sie sind zu neugierig, Genosse Leutnant. Das geht uns nichts an“, antwortet der andere.
„Nein, aber so arbeiten wir doch normalerweise nicht. Wieso bringen wir den in ein Krankenhaus …“
„Wer weniger weiß, schläft besser.“
Die Stelle ist auch insofern interessant, als sie im Original fehlt. Denn dieses Buch ist mehr als eine Übersetzung – es ist in enger Zusammenarbeit zwischen Ulitzkaja und Braungardt entstanden. Wie die Lektorin des Hanser Verlags in einer E‑Mail mitteilt, „gibt es in der deutschen Ausgabe einige Abweichungen vom Original. Da der Text im Original nicht als Buchausgabe [sondern nur in digitaler Form und als Hörbuch] erschienen ist, haben Autorin und Übersetzerin den Text für die deutsche Ausgabe noch einmal vollständig durchgesehen. Kleinere Kürzungen, Ergänzungen oder Änderungen sind also intendiert und mit der Autorin abgesprochen. Auch das Personenverzeichnis und das Nachwort der Autorin sind neu.“ So ist eine eigenständige deutsche Fassung entstanden, an deren Gestaltung die Übersetzerin offenbar aktiv beteiligt war. Eine ungewöhnlich gleichberechtigte Zusammenarbeit, die sicher auch durch die langjährige Kooperation zwischen beiden möglich wurde.
Ganna-Maria Braungardt überträgt mit leichter Hand die dichte Atmosphäre, das ansteigende Tempo, die charakterisierende Figurenrede und den unterschwelligen Witz des Drehbuchs – und nicht zuletzt auch Ulitzkajas Botschaft: Seit Urzeiten sieht sich die Menschheit immer wieder mit verheerenden Seuchen konfrontiert. Noch schlimmer als solche natürlichen Katastrophen sind jedoch menschengemachte Terror-Epidemien, die ganze Gesellschaften von innen heraus zerstören. Gegen diese „politische Pest“ muss man kämpfen, damit die Menschlichkeit am Leben bleiben kann.
Ljudmila Ulitzkaja/Ganna-Maria Braungardt: Eine Seuche in der Stadt (im russischen Original: Чума)
Hanser 2021 ⋅ 112 Seiten ⋅ 16 Euro
www.hanser-literaturverlage.de/buch/eine-seuche-in-der-stadt