Schlim­mer als die Pest

Die deutsche Fassung von Ljudmila Ulitzkajas Szenario „Eine Seuche in der Stadt“ entstand in enger Zusammenarbeit mit ihrer Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt. Von

Aktion gegen das Vergessen: „30. Oktober - Tag des politischen Häftlings in der UdSSR“ steht auf dem Schild. 1989 versammeln sich erstmals öffentlich Menschen vor dem KGB-Gebäude in Moskau und gedenken der Opfer des Stalinismus. Quelle: Dmitry Borko/WikiCommons

Manch­mal lohnt es sich, die Woh­nung auf­zu­räu­men. Wäh­rend der Coro­na-Epi­de­mie fand die rus­si­sche Best­sel­ler­au­torin Ljud­mi­la Ulitz­ka­ja ein altes Dreh­buch wie­der, das sie 1978 ver­fasst hat­te. Zur Ver­fil­mung kam es nie, doch im Jahr 2020 bewies der Stoff über­ra­schen­de Aktua­li­tät: Nach einer wah­ren Bege­ben­heit erzählt die stu­dier­te Bio­lo­gin und Gene­ti­ke­rin Ulitzkja in Eine Seu­che in der Stadt (Ori­gi­nal­ti­tel: Чума, dt. „Pest“) vom sowje­ti­schen For­scher Rudolf Iwa­no­witsch May­er, der sich 1939 bei der Ent­wick­lung eines Impf­stof­fes gegen die Lun­gen­pest ver­se­hent­lich selbst mit dem Erre­ger infi­ziert. Nichts­ah­nend fährt er tags dar­auf zu einer Kon­fe­renz nach Mos­kau und steckt dabei – mög­li­cher­wei­se – Dut­zen­de wei­te­re an. Als die Krank­heit bei ihm aus­bricht, ent­fal­ten die Behör­den eine fie­ber­haf­te Akti­vi­tät. Der tod­kran­ke May­er wird ins Kran­ken­haus gebracht und die­ses kom­plett unter Qua­ran­tä­ne gestellt. Das Auf­spü­ren und Ein­sam­meln aller Kon­takt­per­so­nen, denen May­er im Zug, im Hotel und auf der Kon­fe­renz begeg­net ist, über­nimmt der sowje­ti­sche Geheim­dienst NKWD – Leu­te abho­len ist schließ­lich des­sen Spe­zia­li­tät. Natür­lich alles unter strengs­ter Geheim­hal­tung, damit in der Bevöl­ke­rung kei­ne Panik ausbricht.

Die knapp 100 Sei­ten des „Sze­na­ri­os“ lesen sich span­nend wie ein Roman. Schon der Anfang lässt uns in einer dich­ten, bedroh­li­chen Atmo­sphä­re von Schnee und Fins­ter­nis versinken:

Через огромную вьюжную пустыню, высвечивая фарами дрожащее пятно, подвижный вихрь снега, идет состав из товарных вагонов. Медленно, долго. Минует заваленный сугробами, едва видный под снегом город. Растворяется в снежной мгле.
Durch eine rie­si­ge Schnee­sturm­wüs­te rollt, mit den Schein­wer­fern den tan­zen­den Schnee­wir­bel beleuch­tend, ein Güter­zug. Lang­sam und lan­ge. Er fährt vor­bei an einer hin­ter hohen Schnee­we­hen kaum aus­zu­ma­chen­den Stadt und ver­schwin­det in der ver­schnei­ten Finsternis.

Die Über­set­ze­rin Gan­na-Maria Braun­gardt trifft die ver­schie­de­nen Regis­ter der Figu­ren genau, etwa die ein­fa­che Dorf­spra­che einer Pfört­ne­rin am Tele­fon samt allen Red­un­dan­zen, Wort­ver­hun­zun­gen und man­geln­dem Gefühl für Höflichkeitsformen:

„Лаблатор! Ночь, говорят, ночь! Что кричишь? Нет никого. Не могу писать, нет. Майер есть! Сиди тут. Сиди, говорят!“
„Labra­tor­jum! Es is Nacht, sag ich, Nacht! Was schreist du so? Is kei­ner da. Kann nich schrei­ben, nein. May­er is da! War­te hier. War­te, sag ich!“

Das ande­re Ende des Spek­trums und zugleich ein wun­der­ba­res Bei­spiel für „äso­pi­sche“ Spra­che, wie man auf Rus­sisch das Spre­chen zwi­schen den Zei­len nennt, um die Zen­sur zu unter­lau­fen, ist der spöt­ti­sche Dia­log eines alten Pro­fes­so­ren­paars. Die­se Ver­tre­ter der gut­bür­ger­li­chen Intel­li­gen­zi­ja erin­nern sich am Früh­stücks­tisch in gespiel­ter Empö­rung an ihre eige­nen Stu­di­en­zei­ten in Wien und Paris und mokie­ren sich dabei unter­schwel­lig über die Qua­li­tät der sowje­ti­schen Uni­ver­si­täts­leh­re und die alle Lebens­be­rei­che umfas­sen­de Kon­troll­wut der kom­mu­nis­ti­schen Partei:

„Ты хочешь сказать, что в Вене учили немного лучше?“– язвительно спросила жена […].
„Да, совсем чуть-чуть. А, может, мне показалось…“
„Ах! Илья Михайлович! Вы, кажется, излишне восторгаетесь буржуазной наукой! Когда я училась в Сорбонне, педагогический процесс был поставлен из рук вон плохо! Можете ли представить, что профорги не проверяли посещаемость студентов?!“
„Какой кошмар! Сет импосибль!“
„Du meinst, in Wien war die Aus­bil­dung etwas bes­ser?“, fragt sei­ne Frau spöttisch […].
„Ja, nur ein ganz klei­nes biss­chen. Aber viel­leicht bil­de ich mir das nur ein.“
„Ach! Ilja Michai­lo­witsch! Mir scheint, Sie hegen eine über­trie­be­ne Bewun­de­rung für die bür­ger­li­che Wis­sen­schaft! Als ich an der Sor­bon­ne stu­dier­te, da war der päd­ago­gi­sche Pro­zess erbärm­lich schlecht orga­ni­siert! Kein Gewerk­schafts­ob­mann hat die Anwe­sen­heit der Stu­den­ten kon­trol­liert, kön­nen Sie sich das vorstellen?“
„Ent­setz­lich! C’est impossible!“

Span­nend ist bei Über­set­zun­gen immer die Fra­ge, wie viel Lokal­ko­lo­rit durch den Gebrauch fremd­ar­ti­ger Lexik trans­por­tiert wird. Wel­che Wör­ter kann und möch­te man der Leser­schaft zumu­ten, wel­che nicht? Braun­gardt lässt bei­spiels­wei­se den „Nat­schal­nik“ ste­hen und über­setzt ihn nicht mit Chef oder Vor­ge­setz­ter. Der Bekannt­heits­grad des Wor­tes dürf­te nicht all­zu hoch sein, doch zumin­dest hat es der Nat­schal­nik als rus­si­sches Lehn­wort in den Duden geschafft und kann bei Bedarf nach­ge­schla­gen wer­den. Viel­leicht erin­nert er klang­lich auch an den bekann­te­ren „Appa­rat­schik“ und damit an etwas Mäch­ti­ges, Bedroh­li­ches im Dunst­kreis der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei? Der­lei Über­le­gun­gen dürf­ten die Über­set­ze­rin wohl zu der begrün­de­ten Ent­schei­dung ver­an­lasst haben, das Fremd­wort ste­hen­zu­las­sen und unse­ren Wort­schatz damit zu erweitern.

Fremd­heit ent­steht auch durch die berühmt-berüch­tig­ten Vaters­na­men und zahl­lo­sen Dimi­nu­tiv­for­men rus­si­scher Vor­na­men. Um über­mä­ßi­ger Ver­wir­rung vor­zu­beu­gen, wer­den die­se in Über­set­zun­gen oft nur abge­schwächt wie­der­ge­ge­ben. Braun­gardt ent­schei­det sich eben­falls für einen Mit­tel­weg: Die Figu­ren spre­chen sich wie im Ori­gi­nal respekt­voll mit Vor- und Vaters­na­men statt mit „Herr/Frau + Nach­na­me“ an, dafür fal­len die meis­ten Ver­klei­ne­rungs­for­men weg. Ale­xej bleibt stets Ale­xej, und auch Rudolf May­ers heim­li­che Gelieb­te Anna Kilim wird nicht je nach Gegen­über zu Anna Ana­tol­jew­na, Anja, Anetsch­ka oder gar Anju­ta. Die­se Stra­te­gie macht den Text gerad­li­ni­ger und leser­freund­li­cher – man fragt sich nur, war­um sie nicht kon­se­quent durch­ge­zo­gen wird. Denn eini­ge Figu­ren (die Aus­nah­men ste­hen hin­ten im Per­so­nen­ver­zeich­nis in Klam­mern) tau­chen dann doch unter ihren Kose­for­men auf, ohne dass ersicht­lich ist, war­um Sof­ja zwi­schen­durch Son­ja heißt und Kon­stan­tin auch mal Kost­ja, Ale­xej dage­gen von sei­ner Frau nicht mit Aljoscha ange­re­det wird.

Und wo wir gera­de beim Mäkeln auf hohem Niveau sind: An einer Stel­le ist dem Lek­to­rat ein Logik­feh­ler­chen durch die Lap­pen gegan­gen, sodass der Bezirks­arzt Kos­sel im Deut­schen ver­se­hent­lich zwei­mal ablegt („Kos­sel legt ab, die Rezep­tio­nis­tin geht hin­aus. Der Arzt legt ab, wäscht sich die Hän­de und wärmt sich die eis­kal­ten Fin­ger über der Tisch­lam­pe“), obwohl er nach dem Able­gen gleich zur Lam­pe gehen soll­te („Коссель раздевается, коридорная уходит. Коссель подходит к настольной лампе, греет над ней озябшие руки“). Sol­che Klei­nig­kei­ten fal­len aber vor allem ins Auge, weil Braun­gardt den Text ins­ge­samt abso­lut flüs­sig und ver­siert übersetzt. 

Ulitz­ka­ja arbei­tet in ihrem Text mit etli­chen Anspie­lun­gen, die in der Über­set­zung bei Bedarf durch unauf­fäl­li­ge Zusät­ze oder knap­pe Fuß­no­ten erklärt wer­den, ohne dabei die Lese­rin­nen und Leser zu ent­mün­di­gen. Als sich zwei Frau­en über eine Stra­ße unter­hal­ten, nennt die jün­ge­re die­se Gogol-Stra­ße, wäh­rend die älte­re beharr­lich von der Dwor­jans­ka­ja-Stra­ße spricht. In einer Fuß­no­te erfah­ren wir, dass letz­te­res über­setzt „Adels­stra­ße“ bedeu­tet, doch den Schluss, dass alle Stra­ßen und Plät­ze, deren Namen auch nur ent­fernt an die Zaren­zeit und Aris­to­kra­tie erin­ner­ten, von den Bol­sche­wi­ken umbe­nannt wur­den, muss man schon selbst zie­hen. Auch dass „der gro­ße Haus­herr“ (сам хозяин) ein Syn­onym für Sta­lin ist, wird sinn­vol­ler­wei­se ange­merkt. Bei der Anspie­lung auf einen „Sehr Mäch­ti­gen Mann mit geor­gi­schem Akzent“ (im Rus­si­schen ein­fach Очень Высокое Лицо, ohne Erwäh­nung des Akzents) wäre dies eben­falls hilf­reich gewe­sen, die Beschrei­bung lässt näm­lich zunächst eben­falls an Sta­lin den­ken, und erst im Nach­wort erfährt man, dass damit der Geheim­dienst­chef Law­ren­ti Beri­ja gemeint ist. Doch ins­ge­samt erreicht die Über­set­zung eine gute Balan­ce aus sprach­li­cher Exo­tik und Verständlichkeit.

Der NKWD erfüllt in die­sem Buch eine unge­wohnt men­schen­freund­li­che Mis­si­on. Im Nach­wort, das spe­zi­ell für die deut­sche Aus­ga­be ver­fasst wur­de, schreibt Ulitz­ka­ja: „Ver­mut­lich war dies das ein­zi­ge Mal in der Geschich­te die­ser bru­ta­len und rück­sichts­lo­sen Orga­ni­sa­ti­on, dass sie dem Wohl ihres Vol­kes dien­te und nicht sei­ner Ein­schüch­te­rung und Ver­nich­tung.“ Doch die Iso­la­ti­ons­maß­nah­men füh­ren unge­wollt zu Tra­gö­di­en. Denn wer in den 1930er Jah­ren von den dunk­len Autos des Geheim­diens­tes – im Volks­mund „Schwar­ze Raben“ genannt – abge­holt wird, hegt kei­nen Zwei­fel, dass ihm Gefäng­nis, Lager oder Schlim­me­res droht. Des­halb erschießt sich ein Oberst vor sei­ner ver­meint­li­chen Fest­nah­me, ein ande­rer stirbt auf der Flucht, und ein unbe­schol­te­ner Sowjet­bür­ger, der eigent­lich nur in Qua­ran­tä­ne soll, wird statt­des­sen ver­haf­tet, weil sei­ne eige­ne Frau ihn vor lau­ter Panik als Volks­ver­rä­ter denun­ziert. Ange­sichts die­ser Ent­wick­lung hät­ten sich die Geheim­dienst­ler anfangs gar nicht um all­zu phil­an­thro­pi­sche Züge ihrer Ret­tungs­ak­ti­on sor­gen müssen:

Kran­ken­haus­flur. Zwei Män­ner mit Schutz­mas­ke schub­sen den Fri­seur in die Not­auf­nah­me und schlie­ßen die Tür ab.
„Ver­ste­hen Sie eigent­lich, was hier los ist?“, fragt der eine den anderen.
„Sie sind zu neu­gie­rig, Genos­se Leut­nant. Das geht uns nichts an“, ant­wor­tet der andere.
„Nein, aber so arbei­ten wir doch nor­ma­ler­wei­se nicht. Wie­so brin­gen wir den in ein Krankenhaus …“
„Wer weni­ger weiß, schläft besser.“

Die Stel­le ist auch inso­fern inter­es­sant, als sie im Ori­gi­nal fehlt. Denn die­ses Buch ist mehr als eine Über­set­zung – es ist in enger Zusam­men­ar­beit zwi­schen Ulitz­ka­ja und Braun­gardt ent­stan­den. Wie die Lek­to­rin des Han­ser Ver­lags in einer E‑Mail mit­teilt, „gibt es in der deut­schen Aus­ga­be eini­ge Abwei­chun­gen vom Ori­gi­nal. Da der Text im Ori­gi­nal nicht als Buch­aus­ga­be [son­dern nur in digi­ta­ler Form und als Hör­buch] erschie­nen ist, haben Autorin und Über­set­ze­rin den Text für die deut­sche Aus­ga­be noch ein­mal voll­stän­dig durch­ge­se­hen. Klei­ne­re Kür­zun­gen, Ergän­zun­gen oder Ände­run­gen sind also inten­diert und mit der Autorin abge­spro­chen. Auch das Per­so­nen­ver­zeich­nis und das Nach­wort der Autorin sind neu.“ So ist eine eigen­stän­di­ge deut­sche Fas­sung ent­stan­den, an deren Gestal­tung die Über­set­ze­rin offen­bar aktiv betei­ligt war. Eine unge­wöhn­lich gleich­be­rech­tig­te Zusam­men­ar­beit, die sicher auch durch die lang­jäh­ri­ge Koope­ra­ti­on zwi­schen bei­den mög­lich wurde.

Gan­na-Maria Braun­gardt über­trägt mit leich­ter Hand die dich­te Atmo­sphä­re, das anstei­gen­de Tem­po, die cha­rak­te­ri­sie­ren­de Figu­ren­re­de und den unter­schwel­li­gen Witz des Dreh­buchs – und nicht zuletzt auch Ulitz­ka­jas Bot­schaft: Seit Urzei­ten sieht sich die Mensch­heit immer wie­der mit ver­hee­ren­den Seu­chen kon­fron­tiert. Noch schlim­mer als sol­che natür­li­chen Kata­stro­phen sind jedoch men­schen­ge­mach­te Ter­ror-Epi­de­mien, die gan­ze Gesell­schaf­ten von innen her­aus zer­stö­ren. Gegen die­se „poli­ti­sche Pest“ muss man kämp­fen, damit die Mensch­lich­keit am Leben blei­ben kann.


Ljud­mi­la Ulitz­ka­ja/­Gan­na-Maria Braun­gardt: Eine Seu­che in der Stadt (im rus­si­schen Ori­gi­nal: Чума)

Han­ser 2021 ⋅ 112 Sei­ten ⋅ 16 Euro

www.hanser-literaturverlage.de/buch/eine-seuche-in-der-stadt

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