„Man braucht einen lan­gen Atem“

Über das Leben und Wirken von Übersetzerinnen und Übersetzern ist oft viel zu wenig bekannt. Das Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX will das ändern und macht sich mit ebenso großer Geduld wie Findigkeit auf die Spurensuche. Interview:

Das UeLEX-Team, von links nach rechts: Aleksey Tashinskiy, Julija Boguna und Andreas F. Kelletat vom Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. (Quelle: Fotografie Britta Hoff)
Das Ger­mers­hei­mer Über­set­zer­le­xi­kon UeLEX ent­hält Essays zum Leben und Werk von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern, ergänzt durch umfas­sen­de Biblio­gra­phien. Auch im Rah­men von regel­mä­ßig statt­fin­den­den Sym­po­si­en zu Über­set­zen und Lite­ra­tur (UeLit) wird die längst über­fäl­li­ge Grund­la­gen­for­schung zur Kul­tur­ge­schich­te des Über­set­zens betrie­ben. Die Ergeb­nis­se erschei­nen auf UeLEX und in bis­her vier Sam­mel­bän­den: Über­set­zer als Ent­de­cker, Über­set­zer­for­schung, Das WIE des Über­set­zens sowie (dem­nächst) Die Geschich­te des Über­set­zens in der DDR.

Seit 2015 ist das Ger­mers­hei­mer Über­set­zer­le­xi­kon online. Wie kam es zu die­sem Projekt?

Andre­as F. Kell­etat: Am Anfang woll­ten wir ein­fach ein schö­nes Buch her­aus­brin­gen mit den viel­leicht hun­dert wich­tigs­ten Über­set­zern und Über­set­ze­rin­nen. Ein Per­so­nen­le­xi­kon, so wie es ein Lexi­kon der Päps­te gibt, ein Lexi­kon der Phi­lo­so­phen, ein Lexi­kon der Dich­ter, ein Lexi­kon der Hei­li­gen – aber eben keins für Über­set­zer. Und dann tauch­te ein Pro­blem auf: Wir haben Exper­ten gebe­ten, uns die zehn bedeu­tends­ten Über­set­zer, zum Bei­spiel aus dem Ita­lie­ni­schen, zu nen­nen. Sie kann­ten zwar die wich­tigs­ten Dich­ter wie Dan­te, Petrar­ca und so wei­ter, aber bei den Über­set­zern waren sie über­fragt. Ähn­lich sah es im Rus­si­schen, Fran­zö­si­schen, Spa­ni­schen, Fin­ni­schen oder Chi­ne­si­schen aus. Des­halb muss­ten wir das Buch­pro­jekt erst­mal auf Eis legen.

Juli­ja Bogu­na: 2011 gab es dann in Ger­mers­heim eine UeLit-Tagung, bei der der Stock­hol­mer Sla­vist Lars Kle­berg das schwe­di­sche Über­set­zer­le­xi­kon Svenskt över­sätt­ar­le­xi­kon vor­ge­stellt hat. Uns war schnell klar, dass wir so etwas auch für das Deut­sche auf die Bei­ne stel­len wol­len. Die Schwe­den haben damals groß­zü­gi­ger­wei­se ange­bo­ten, uns die Platt­form, die sie zwei, drei Jah­re lang pro­gram­miert haben, kos­ten­los zur Ver­fü­gung zu stel­len. Sonst hät­ten wir die digi­ta­le Vari­an­te wahr­schein­lich nicht so schnell favo­ri­siert. Wir muss­ten die Platt­form natür­lich noch für unse­re Belan­ge modi­fi­zie­ren, aber so konn­ten wir unse­re digi­ta­le Prä­senz recht schnell auf­bau­en. Man sieht übri­gens noch ein paar schwe­di­sche Pro­gram­mier­spu­ren: Wenn man bei UeLEX hin- und her­klickt, erschei­nen oben in der Such­leis­te schwe­di­sche Begrif­fe wie sprak oder artik­lar.

Wie haben Sie das Över­sätt­ar­le­xi­kon für deut­sche Ver­hält­nis­se modifiziert?

Alek­sey Tas­hin­skiy: Na ja, viel­leicht eher an Ger­mers­hei­mer Bedürf­nis­se ange­passt, wir woll­ten das Gan­ze näm­lich nicht so popu­lär­wis­sen­schaft­lich wie die Schwe­den auf­zie­hen, son­dern geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher. Auch brauch­ten wir zusätz­li­che Enti­tä­ten wie Her­aus­ge­ber­schaft und so wei­ter. Abge­se­hen von einer Loka­li­sie­rung muss­ten also noch zusätz­li­che Funk­tio­nen dazu­pro­gram­miert werden.

JB: Wir haben zum Bei­spiel die Mitt­ler­spra­che, die soge­nann­te Relais­spra­che, ein­ge­führt, weil es uns ganz wich­tig war, die­se Pro­zes­se nach­zu­voll­zie­hen: Wur­de direkt aus dem Geor­gi­schen ins Deut­sche über­setzt oder über das Rus­si­sche als eine der gro­ßen Spra­chen? Das fehl­te in der Struk­tur der Schweden.

AFK: Man muss beden­ken, dass Schwe­den acht Mil­lio­nen Ein­woh­ner hat, das Över­sätt­ar­le­xi­kon wen­det sich also an eine ganz brei­te Leser­schaft, an Buch­händ­ler, Anti­qua­ria­te, Jour­na­lis­ten, Leu­te, die sich gene­rell für Lite­ra­tur inter­es­sie­ren. Unse­re Arti­kel sind viel län­ger, haben auch Fuß­no­ten und fußen stär­ker in den Phi­lo­lo­gien und der Über­set­zungs­for­schung. Die schwe­di­schen Bei­trä­ge sind eher feuil­le­ton­ar­tig und deut­lich kürzer.

AT: Wobei wir am Anfang eigent­lich auch kur­ze Essays schrei­ben woll­ten, aber dann muss­ten wir fest­stel­len, dass wir gar kein Wis­sen über die­se Grup­pe der Kul­tur­schaf­fen­den haben. Wir sind die ers­ten, die über­haupt das pri­mä­re Wis­sen über die­se Per­so­nen gene­rie­ren. Zu etli­chen Über­set­zern sind kei­ner­lei Ein­trä­ge in irgend­wel­chen Lexi­ka zu fin­den, es war also oft ein müh­sa­mes Recher­chie­ren in Archi­ven, in Pri­vat­nach­läs­sen, in irgend­wel­chen digi­ta­len Tie­fen. Wir haben des­halb die Arti­kel zu voll­wer­ti­gen wis­sen­schaft­li­chen Auf­sät­zen ausgebaut.

UeLEX wen­det sich also in ers­ter Linie an Wis­sen­schaft­ler und Studenten?

AFK: Genau, wobei die For­scher nicht unbe­dingt aus der Trans­la­ti­ons­wis­sen­schaft kom­men müs­sen, son­dern auch aus Dis­zi­pli­nen wie der Sla­vis­tik, Kom­pa­ra­tis­tik, Buch­wis­sen­schaft oder Geschichts­for­schung, viel­leicht auch der Poli­tik­wis­sen­schaft. Aus die­ser brei­ten Adres­sa­ten­grup­pe resul­tiert natür­lich ein Pro­blem: Wenn wir zum Bei­spiel an einem Über­set­zer aus dem Rus­si­schen arbei­ten, dür­fen wir bei den Rezi­pi­en­ten kei­ne Rus­sisch­kennt­nis­se vor­aus­set­zen. Das ist immer eine gro­ße Her­aus­for­de­rung für unse­re Autoren, denn die haben als Sla­vis­ten oder Sino­lo­gen natür­lich die­ses Spe­zi­al­wis­sen und wol­len es auch aus­brei­ten. Da ist dann viel Redak­ti­ons­ar­beit nötig.

AT: Wir pas­sen unse­re Bei­trä­ge zwar an ein hete­ro­ge­nes Publi­kum an, aber UeLEX ist vor allem ein For­schungs­vor­ha­ben. Es ist kein Ver­such, eine Grup­pe von Leu­ten zu popu­la­ri­sie­ren, die bis­her wenig im Bewusst­sein der Öffent­lich­keit war, son­dern das pri­mä­re Inter­es­se besteht dar­in, die Geschich­te des Über­set­zens akteurs­ori­en­tiert zu erforschen.

Woher kom­men die Mit­tel für UeLEX?

AFK: Es gibt kei­ne Mit­tel. Die gesam­te redak­tio­nel­le Arbeit wird in der Frei­zeit der Mit­ar­bei­ter und Her­aus­ge­ber geleistet.

Also kein Geld, dafür mehr Frei­heit bei der Gestaltung?

AFK: Das kann man so sagen. Vom Zen­trum für Inter­kul­tu­rel­le Stu­di­en der Uni­ver­si­tät Mainz haben wir klei­ne­re Beträ­ge für stu­den­ti­sche Hilfs­kräf­te sowie Unter­stüt­zung für unse­re Tagun­gen und Publi­ka­tio­nen bekom­men. Lei­der kön­nen wir kei­ne Hono­ra­re zah­len, das macht es schwie­rig für die Bei­tra­gen­den. Es gibt eini­ge frei­be­ruf­li­che Über­set­zer, dar­un­ter sehr bekann­te, die ger­ne ein Por­trät schrei­ben wür­den, aber mit der Recher­che dau­ert so ein Text vier, acht Wochen, das kön­nen sie sich gar nicht leis­ten. Wir suchen noch nach Spon­so­ren, die uns beson­ders für sol­che Frei­be­ruf­ler ein biss­chen unter die Arme grei­fen kön­nen. Bis­her konn­ten wir nur für ein­zel­ne kur­ze Archiv- oder For­schungs­auf­ent­hal­te von Stu­die­ren­den eine För­de­rung vom Deut­schen Über­set­zer­fonds erhalten.

Ohne gro­ßes Eige­n­en­ga­ge­ment aller Betei­lig­ten geht es also nicht. Wer arbei­tet denn außer dem Kern­team noch an UeLEX mit?

AFK: Mit­un­ter ent­ste­hen Bei­trä­ge aus stu­den­ti­schen Semi­nar- oder Mas­ter­ar­bei­ten zu einem bestimm­ten Über­set­zer. Weil unse­re Ger­ma­nis­tik­stu­die­ren­den alle­samt kei­ne deut­schen Mut­ter­sprach­ler sind, muss da sehr viel redi­giert und sprach­lich nach­ge­ar­bei­tet wer­den. Die zwei­te Grup­pe sind gestan­de­ne Wis­sen­schaft­ler, da ist es unter­schied­lich – man­che Bei­trä­ge kann man so ver­öf­fent­li­chen, wie sie geschickt wer­den, das ist aber eher die Aus­nah­me, mit vie­len muss man sich noch sehr inten­siv aus­tau­schen und sagen, die­ser Aspekt wäre viel­leicht noch wich­tig oder das könn­te man auch so gewich­ten. Eben die nor­ma­le Her­aus­ge­ber- und Redak­ti­ons­ar­beit. Anders­wo hat man Peer Review-Ver­fah­ren, wir machen das im Dia­log mit offe­nem Visier.

Gibt es außer in Schwe­den noch in ande­ren Län­dern ähn­li­che Projekte?

JB: In den Nie­der­lan­den und Däne­mark gibt es eben­falls digi­ta­le Übersetzerprojekte.

AT: Und es gibt ein tür­ki­sches Über­set­zer­le­xi­kon in gedruck­ter und digi­ta­ler Form. Das ist zwar ganz anders gestrickt, aber auch durch die Anre­gung und den Aus­tausch mit Kol­le­gen bei einer Tagung in Ger­mers­heim entstanden.

AFK: In Finn­land, Island, Lett­land, Tsche­chi­en und Polen gibt es eben­falls Plä­ne. Unser Lexi­kon gilt jetzt schon als Vor­bild. Es ergibt sich auch eine Art Schnee­ball­ef­fekt, weil wir vie­le Mit­ar­bei­ter aus die­sen Län­dern haben. Meis­tens sind das Ger­ma­nis­ten, die sich mit deut­scher Lite­ra­tur aus­ken­nen, aber eben kei­ne Deut­schen sind, und sie erfor­schen auch über­setz­te Lite­ra­tur: Wie wur­de zum Bei­spiel die eige­ne ita­lie­ni­sche Lite­ra­tur ins Deut­sche über­setzt? Wir waren auch viel im In- und Aus­land unter­wegs und haben das Über­set­zer­le­xi­kon auf Kon­fe­ren­zen vor­ge­stellt. So ent­steht ein Netz­werk, und das Pro­jekt ist rela­tiv bekannt gewor­den. Aber vie­le wol­len dann erst­mal nach Geld suchen und sich eine För­de­rung sichern, bevor sie mit der Arbeit anfan­gen. Das klappt meist so nicht. Man muss ohne Geld anfangen.

UeLEX umfasst bis­her 65 Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die aus über 30 Spra­chen über­setzt haben. Wie wer­den sie aus­ge­wählt? Wer bekommt einen Bei­trag, wer nicht?

JB: Die­se Fra­ge beschäf­tigt uns schon von Anfang an. Wir beschrän­ken uns auf Über­set­zer, die ins Deut­sche gear­bei­tet haben, und wir schrei­ben in der Regel über kei­nen, der noch lebt und aktiv über­setzt. Das geschieht einer­seits aus recht­li­chen Grün­den, aber auch aus Grün­den der Distanz: Wir wol­len Bei­trä­ge ver­fas­sen, die unse­rem wis­sen­schaft­li­chen Anspruch genü­gen. Und belei­dig­te Aus­sa­gen von Über­set­zern, die sich miss­ver­stan­den oder nicht gebüh­rend gewür­digt füh­len, wol­len wir ver­mei­den. Es gibt aller­dings Aus­nah­men, Japa­nisch ist so ein Fall. Wir bemü­hen uns um mög­lichst gro­ße Spra­chen­viel­falt, und wenn man die Lis­te anschaut, sieht man, dass auch „klei­ne“ und distan­te Spra­chen ver­tre­ten sind und nicht nur die Tria­de Fran­zö­sisch, Eng­lisch und Spanisch.

AFK: Zumin­dest älte­re Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die Prei­se gewon­nen haben, wer­den wir in den nächs­ten Jah­ren wohl doch berück­sich­ti­gen, auch weil wir so an den Vor­lass her­an­kom­men. Die­ses hoch­in­ter­es­san­te Mate­ri­al (Ver­lags­ver­trä­ge, kor­ri­gier­te Fah­nen und so wei­ter) lan­det ja sel­ten in Archi­ven, son­dern nach dem Tod der Über­set­zer meist auf der Müll­hal­de. Die Erben haben oft kei­ne Ahnung, was das für Schät­ze sind. Des­halb wäre es sinn­voll, älte­re Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer jetzt mit in den Blick zu neh­men, um die­ses Kul­tur­gut zu sichern. Aber wir sind ein klei­nes Team und müs­sen natür­lich auf­pas­sen, dass wir uns nicht über­neh­men. Bis­her schaf­fen wir pro Jahr etwa zwölf Bei­trä­ge, wir haben aber eine Lis­te mit min­des­tens drei­tau­send Über­set­zern, die lexi­kon­wür­dig wären. Das muss erst­mal abge­ar­bei­tet wer­den … Das Pro­jekt ist auf meh­re­re Jahr­zehn­te ange­legt, und man braucht einen lan­gen Atem.

AT: Es liegt übri­gens bei vie­len ein Miss­ver­ständ­nis vor – sie den­ken, UeLEX wäre eine Wer­be­platt­form für Über­set­zer, eine Lis­te von Leu­ten, deren Über­set­zun­gen wir emp­feh­len wol­len, weil wir sie für beson­ders gelun­gen hal­ten. Dem ist nicht so. Es ist in ers­ter Linie ein trans­la­ti­ons­his­to­ri­sches Vor­ha­ben, und wir ver­su­chen, alle reprä­sen­ta­ti­ven Ver­tre­ter, die irgend­wann gewirkt haben, auf­zu­neh­men. Wenn jemand nicht in der Lis­te auf­taucht, bedeu­tet das nicht, dass wir ihn oder sie exklu­diert haben, son­dern nur, dass er oder sie ent­we­der nach den for­ma­len Kri­te­ri­en nicht rein­passt oder sich ganz ein­fach noch nie­mand mit die­sem Über­set­zer beschäf­tigt hat.

JB: Wir sind auch nicht aus­schließ­lich auf „Höhen­kamm­li­te­ra­tur“ aus. Das Para­de­bei­spiel ist unser Por­trät zur Micky Maus-Über­set­ze­rin Eri­ka Fuchs

… obwohl die ja auch schon ein Klas­si­ker ist.

JB: Stimmt, aber eben kein Klas­si­ker des Lite­ra­tur­ka­nons. Das Kri­te­ri­um der Bedeut­sam­keit misst sich nicht nur dar­an, in wie vie­len Lite­ra­tur­ge­schich­ten die Wer­ke auf­tau­chen, die über­setzt wurden.

AFK: Schau­en Sie sich bei­spiels­wei­se das Por­trät von Adolf Mol­nar an – kein Mensch kennt ihn, er hat kei­nen Wiki­pe­dia-Ein­trag und nichts, und trotz­dem ist er für uns inter­es­sant. Ich weiß gar nicht, ob es über­haupt unin­ter­es­san­te Men­schen gibt. Und je bun­ter der Lebens­lauf, des­to inter­es­san­ter wird es …

AT: … auch in Bezug auf die Spra­chen­bio­gra­phie oder das Berufs­pro­fil, wenn etwa nicht haupt­be­ruf­lich über­setzt wird, son­dern die über­set­ze­ri­sche Tätig­keit Teil einer wis­sen­schaft­li­chen oder ande­ren Akti­vi­tät ist. Die­se Viel­falt wol­len wir breit abdecken.

Wer war der ers­te Über­set­zer bei UeLEX?

AT: Einen „Ur-Über­set­zer“ gibt es nicht. Es fing an mit etwa zehn Über­set­zer­por­träts, die wir zunächst auf einer UeLit-Tagung prä­sen­tiert und mit der anwe­sen­den Fach-Com­mu­ni­ty dis­ku­tiert haben, bevor sie simul­tan ver­öf­fent­licht wur­den. Dazu zähl­ten der Spa­nisch­über­set­zer Erich Are­ndt, der Shake­speare-Über­set­zer August Wil­helm Schle­gel, die Rus­sisch­über­set­ze­rin Hed­dy Pross-Weerth und der Dich­ter Man­fred Peter Hein, der aus dem Fin­ni­schen, Let­ti­schen und Sami­schen übersetzt.

Wel­che Spra­chen sind bis­her noch unterrepräsentiert?

AFK: Wir haben eine gro­ße Lücke bei den alten Spra­chen, bei Über­set­zun­gen aus dem Alt­grie­chi­schen, Latei­ni­schen oder Per­si­schen. Die Alt­phi­lo­lo­gen haben wahr­schein­lich sehr viel dazu gemacht, aber die­ses Wis­sen in eine neue Form zu gie­ßen und auch mit aktu­el­len über­set­zungs­wis­sen­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen und Dis­kur­sen zu ver­knüp­fen, wäre ganz bestimmt inter­es­sant. Vor allem wenn man bedenkt, wie domi­nie­rend das Über­set­zen aus dem Latei­ni­schen und Grie­chi­schen im 17. und 18. Jahr­hun­dert war, als es all die, par­don, „klei­nen“ Natio­nal­spra­chen so noch gar nicht gab. Da haben wir noch einen sehr gro­ßen blin­den Fleck. Aber das liegt natür­lich auch dar­an, dass es kaum noch jun­ge Leu­te gibt, die sich damit beschäf­ti­gen. Wer kann Latein und Grie­chisch? Das war für frü­he­re Über­set­zer­ge­ne­ra­tio­nen völ­lig selbst­ver­ständ­lich, die muss­ten am Gym­na­si­um jede Woche 8–9 Stun­den Latein pau­ken und sechs Jah­re lang Alt­grie­chisch, heu­te macht das kein Mensch mehr, sodass uns da der Zugang fehlt. Aber eigent­lich ist man bei allen Nicht-Schul­spra­chen froh, wenn sich da jemand aus­kennt und etwas dazu bei­tra­gen kann. Schwie­rig wird es natür­lich bei Bei­trä­gen zu Über­set­zern, die aus meh­re­ren Spra­chen über­setzt haben. Man­che arbei­ten aus sie­ben, acht Spra­chen, aber die Phi­lo­lo­gen kön­nen immer nur „ihre“ Spra­che. Bald erscheint ein Arti­kel zu einem Über­set­zer, der Sap­pho-Gedich­te aus dem Alt­grie­chi­schen eben­so wie Mao-Gedich­te aus dem Chi­ne­si­schen über­setzt hat. Fin­den Sie mal jeman­den, der Ihnen dazu etwas schreibt.

Wor­an arbei­ten Sie zur­zeit?

AT: Wir haben eine gan­ze Rei­he von Arti­keln in der Röh­re, es gibt einen regel­rech­ten Redak­ti­ons­stau. Das hat damit zu tun, dass wir im Moment an unse­rem vier­ten Sam­mel­band arbei­ten, das nimmt uns völ­lig in Beschlag. Aber ein the­ma­ti­scher Arti­kel zur klas­sisch-roman­ti­schen Über­set­zungs­theo­rie im „Goe­the-Jahr­hun­dert“ ist vor Kur­zem fer­tig gewor­den, eben­so ein Arti­kel über Erich Käst­ner als Übersetzer …

AFK: … und ein Bei­trag über Marie Holz­man, eine schon mit 19 Jah­ren ermor­de­te Über­set­ze­rin aus dem Litaui­schen. Jetzt gera­de arbei­te ich an einem Por­trät über René König, den berühm­ten Sozio­lo­gen, der ins Exil in die Schweiz gegan­gen ist. Das hängt mit einem wei­te­ren Pro­jekt zusam­men, das wir gemein­sam mit den Uni­ver­si­tä­ten in Wien und Lau­sanne ins Leben geru­fen haben: Über­set­zen im Exil (Exil:Trans). In den nächs­ten drei Jah­ren wer­den wir Über­set­zer erfor­schen, die 1933–45 im Exil waren, und dar­aus auch ein­zel­ne Arti­kel für UeLEX gewinnen.

AT: Ich küm­me­re mich um eine Rei­he von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern, die in der Sowjet­uni­on im Exil waren. Eini­ge von ihnen haben dann spä­ter in der DDR oder BRD Lite­ra­tur über­setzt. Sie hat­ten viel­leicht vor­her gar nichts mit Rus­sisch zu tun, waren aber als Kom­mu­nis­ten gezwun­gen, in die Sowjet­uni­on zu flie­hen, kehr­ten dann zurück und wur­den zu Über­set­zern. Da kann man span­nen­de Ver­qui­ckun­gen zwi­schen dem per­sön­li­chen Schick­sal, dem poli­ti­schen Kon­text und dem über­set­ze­ri­schen Gesche­hen sehen, auch in der Spra­chen­bio­gra­phie. Wie wirkt sich das Exil auf das Über­set­zen aus? In sol­chen Schick­sa­len wird auch das Jahr­hun­dert­ge­sche­hen reflektiert.

Vor­aus­sicht­lich im Herbst soll die 7. UeLit-Tagung zum The­ma „Über­set­zer im Exil (1933–1945)“ statt­fin­den. Was erwar­tet uns da?

JB: Es ist eine offe­ne Tagung für alle, aber es wer­den auf jeden Fall auch unse­re Wie­ner und Lau­san­ner Part­ner dabei sein, sodass wir uns dop­pel­glei­si­ge Erkennt­nis­se sowohl für Exil:Trans als auch für UeLEX erhoffen.

AFK: Es gibt bereits sehr viel Exil­for­schung, über Poli­ti­ker, For­scher, Dich­ter, Sport­ler, Medi­zi­ner oder Roma­nis­ten im Exil. Nur zu einer Grup­pe gibt es bis­her so gut wie gar nichts, das sind die Über­set­zer im Exil. Da wol­len wir neue Erkennt­nis­se gewin­nen: Wie war das mit dem Über­set­zen im Exil? Wel­che Publi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten gab es? Was geschah mit den Rech­ten an frü­he­ren Über­set­zun­gen, wenn jemand ins Exil ging? Das „Schick­sal der Tex­te“, wie Alek­sey es nennt – wie ist es dar­um bestellt? Wie ist es mit den jüdi­schen Über­set­zern, dür­fen sie Mit­glie­der der Schrift­tums­kam­mer sein, dür­fen sie über­haupt noch über­set­zen? Gibt es Über­set­zer, die im Exil leben, aber ihre Über­set­zun­gen erschei­nen noch inner­halb Deutsch­lands? Die­se zwölf Jah­re sind zwar ein ver­gleichs­wei­se kur­zer Zeit­raum, aber doch von ein­schnei­den­der Bedeu­tung für die Kul­tur­ge­schich­te des Über­set­zens – zum Bei­spiel auch für Hono­rar­fra­gen. 1932 war man im Bund deut­scher Über­set­zer schon so weit, einen Tarif­ver­trag mit den Ver­la­gen abzu­schlie­ßen, damit Über­set­zer genau­so gut bezahlt wer­den wie der Buch­hal­ter oder der Gestal­ter im Ver­lag. Das ist dann 1933 durch Goeb­bels‘ Gleich­schal­tung zer­schla­gen wor­den. Selbst für die Posi­ti­on der heu­ti­gen Über­set­zer ist die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus also von gro­ßer Bedeutung.

Wie füh­len Sie sich bei Ihrer Arbeit? Als Ent­de­cker, Schatz­su­cher, Detek­ti­ve – oder ist es eher wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen?

AT: Alles zugleich! Die auf­wen­di­ge Recher­che ist zwar manch­mal frus­trie­rend, aber wenn man dann was ent­deckt, ist man umso erfreu­ter dar­über, dass man etwas ent­deckt hat, was vor­her noch nie Bestand­teil der ver­öf­fent­lich­ten Wis­sens­be­stän­de war.

AFK: Das ist auch oft das Tol­le für die Stu­den­ten. Wenn sie anfan­gen zu recher­chie­ren und mer­ken: Es gibt ja nicht mal einen Wiki­pe­dia-Arti­kel dazu, was soll ich jetzt machen? Und dann suchen sie wei­ter und krie­gen irgend­wann einen Faden in die Hand, und dann rif­felt sich das auf, und sie mer­ken, dass sie mit ihrer Arbeit Wis­sen pro­du­zie­ren – Wis­sen, das bis­her noch gar nicht exis­tiert. Für eine Uni­ver­si­tät, wo For­schung und Leh­re doch irgend­wie zusam­men­ge­hen soll, ist das gera­de­zu vor­bild­lich. Neu­es Wis­sen gene­rie­ren durch For­schung, das ist eine ganz tol­le Erfahrung.

Wer ist Ihr Lieb­lings­über­set­zer oder Ihre Lieb­lings­über­set­ze­rin bei UeLEX?

AT: Der Lieb­lings­über­set­zer ist immer der, mit dem man sich aktu­ell beschäf­tigt. Da ent­ste­hen qua­si Lebens­ab­schnitts­part­ner­schaf­ten. Wobei es bei mir eigent­lich poly­gam ist – ich habe zur­zeit meh­re­re Lieb­lings­über­set­zer. Sie sind alle sehr unter­schied­lich, und jeder ist auf sei­ne oder ihre Wei­se inter­es­sant und ein­ma­lig. Genau das ist ja das Fas­zi­nie­ren­de an UeLEX.

Andre­as F. Kell­etat ist Pro­fes­sor am Arbeits­be­reich Inter­kul­tu­rel­le Ger­ma­nis­tik der Johan­nes Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz. Juli­ja Bogu­na und Alek­sey Tas­hin­skiy sind wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ter am AB Inter­kul­tu­rel­le Ger­ma­nis­tik. Sie alle ver­fas­sen und redi­gie­ren Bei­trä­ge, geben die Begleit­pu­bli­ka­tio­nen zur Über­set­zungs­for­schung her­aus und orga­ni­sie­ren die UeLit-Tagun­gen am Fach­be­reich Translations‑, Sprach- und Kul­tur­wis­sen­schaft in Germersheim.
Die UeLEX-Redak­ti­on freut sich jeder­zeit über Vor­schlä­ge für wei­te­re Por­träts von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern. Wenn ihr eine Idee für einen eige­nen Bei­trag habt, mel­det euch ein­fach bei den Her­aus­ge­bern!

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