Gestapelte Frauen
Patrícia Melo
Barbara Mesquita
Portugiesisch
Mulheres Empilhadas
„Wir Frauen sterben wie die Fliegen.“ Zu diesem Schluss kommt die junge Anwältin aus dem Roman der brasilianischen Schriftstellerin Patrícia Melo, die mit Gestapelte Frauen (Originaltitel: Mulheres Empilhadas) eine mutige Anklageschrift gegen die mordende Männerwelt Brasiliens geschaffen hat, eine Anklage gegen Missstände in der Justiz und gegen die Unterdrückung der indigenen Völker. Auf 256 Seiten öffnet Melo somit große Fässer, deren Öffnung längst fällig war. Die Übersetzerin Barbara Mesquita muss in diesen Fässern vor Grauen fast ertrunken sein, doch die Sprache ist eine Waffe, und mit dieser Waffe begehrt Mesquita gegen die erdrückende Realität auf. So prasseln die Worte das eine Mal wie eine Maschinengewehrsalve auf einen ein, ein anderes Mal dringen sie ins Innerste wie ein Dumdumgeschoss und entfalten ihre wahre Gewalt erst später.
Die Hauptfigur des Romans ist eine junge Anwältin, die São Paulo nach einer Ohrfeige ihres Freundes Amir fluchtartig verlässt und im Auftrag ihrer Vorgesetzten in Cruzeiro do Sul Gerichtsverhandlungen zu brutalen Frauenmorden beiwohnt. Die Ohrfeige von Amir bewirkt in der Protagonistin „eine Art Wiedergeburt der Toten“ und unterdrückte Erinnerungen an die von ihrem Vater ermordete Mutter kämpfen sich nach und nach den Weg in ihr Bewusstsein. In Cruzeiro do Sul lernt die Anwältin Marcos kennen, der sie in die Welt der indigenen Völker im Urwald einführt. Sofort ziehen die herzliche Aufnahme, die Teilnahme an Ritualen und der starke Zusammenhalt die Protagonistin in ihren Bann. Als eines Tages das junge Indio-Mädchen Txupira von drei mächtigen, jungen Männern auf brutalste Weise vergewaltigt und ermordet wird, die Mörder aber nicht verurteilt werden, wollen die junge Juristin und ihre Anwaltsfreundin Carla diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht hinnehmen, und ein verzweifelter Kampf gegen den männerdominierten Justiz- und Presseapparat nimmt seinen Lauf.
Melo meint es mit Gestapelte Frauen ernst, es ist nicht nur ein Roman, sondern eine Botschaft an die Frauenwelt, die Unterdrückung durch Männer nicht mehr hinzunehmen; und eine Botschaft an die Männerwelt, sich diese Unterdrückung einzugestehen und ebenfalls dagegen vorzugehen. Damit diese Botschaft auch wirklich ankommt, hat sie den meisten Kapiteln Mordfälle vorangestellt, die auf ihre nüchterne, knappe Art besonders verstörend wirken:
GETÖTET VOM VATER
Sie war achtundvierzig Tage alt, als sie
erwürgt wurde.
Auf der Polizeiwache gab der Mörder
an, ‚er sei sehr nervös gewesen und
habe geglaubt, das Kind sei nicht seine
Tochter.‘
Auf diese Weise werden die Leserinnen und Leser mit von Männern ermordeten Ehefrauen, Töchtern, Nichten, Freundinnen und Ex-Freundinnen konfrontiert.
Einen Kontrast zum Haupterzählstrang, in dem die junge Anwältin und vor allem der Mord an dem Mädchen Txupira im Fokus stehen, bildet die Traumwelt der Protagonistin, in die sie flüchtet, und die vor allem durch einen bewusstseinserweiternden Trank des indigenen Volkes im Urwald heraufbeschworen wird. In dieser Traumwelt begeben sich die Frauen auf die Jagd nach den mordenden Männern, um ihre geschändeten und getöteten Schwestern zu rächen. Diese traum- oder rauschartigen Episoden unterscheiden sich sprachlich durch fließende Bewusstseinsströme, die von aufrührerischen Dialogen durchbrochen werden. Hier werden Pläne geschmiedet, Parolen ausgerufen, die Ungerechtigkeiten klar benannt, wie beispielsweise Beschneidung und Verstümmelung:
„Auf dem Markt sind die rosa Muschis die wertvollsten.“
„Deshalb operiert man unsere Vagina“, erklärte eine.
„Sie entfernen unsere großen Schamlippen“, sagte eine andere.
„Und verkleinern unseren Venushügel“, ergänzte eine Dritte.
„Sie verengen unsere Genitalien“, rief eine weitere aus.
„Und hellen unsere Vulva auf“, fügte die Große hinzu.
Alle gemeinsam: „Diese Metzger! Diese Schlächter!“
Diese Passage mutet wie ein Dramentext an, wütend skandieren die Frauen die Grausamkeiten, die der Frauenwelt angetan werden. Jede dieser Anschuldigungen knallt und schmerzt wie ein Peitschenhieb, und die revolutionäre Atmosphäre gipfelt in den vier eindrücklichen Worten „Diese Metzger! Diese Schlächter!“. Zugleich zeigt dieses Beispiel auf, wie intensiv Mesquita verschiedene Wortfelder beackern musste. So werden hier gleich sechs verschiedene Begriffe für weibliche Geschlechtsorgane verwendet. An dieser Stelle sind das von Frauen gewählte respektvolle Begriffe, doch auch die despektierlichen Worte kommen im Roman in allerlei Varianten vor. Die typischen frauenfeindlichen Schimpfworte werden ebenfalls in all ihrer Vielfalt genannt, so beginnt ein Kapitel mit den Worten: „Nutte. Schlampe. Hündin. Dirne. Flittchen.“. Melo und Mesquita verschönen nichts, sondern verdeutlichen auf diese Weise, wie gewaltsam frauenverachtende Sprache sein kann.
Im Kontrast zur Vulgärsprache steht der Urwald, der mit wunderschönen, poetischen Naturempfindungen aufwartet. Immer wieder werden hierfür kurze, elliptische Sätze oder gar Aufzählungen verwendet:
Und die Gerüche? Es roch nach Knospen. Nach Organismen. Nach eben gefallenem Regen. Nach Rinde. Nach Rosenholz. Nach Pollen. Nach lebendigen Tieren. Nach Blütenduft. Nach trockenem Laub. Nach Harz, Nach verfaulten Wurzeln. Nach Brandrodung. Nach toten Tieren. Nach Blumen. Nach Erde. Nach Honig. Nach Myrrhe. Nach Mist. Nach Tonkabohnen-Öl. Nach Andiroba-Öl. Nach Pfeffer, der einem die Tränen in die Augen treibt. […] Oh die Gerüche des Urwalds!
Die Nase fängt beim Lesen dieser Worte geradezu von selbst an zu schnuppern, bis man sich plötzlich, ohne je da gewesen zu sein, selbst im Urwald wähnt. Die Schönheit der Sprache geht mit der Ursprünglichkeit der Natur und der solidarischen Lebensweise der noch immer unterdrückten indigenen Völker einher:
Möglich, dass ich mich eines Tages in der Zukunft nicht mehr an den schweren, kompakten Geruch der von der Sonne warmen Erde nach einem wolkenbruchartigen Regen im Urwald erinnern kann. Aber nie werde ich vergessen, wie sehr mich die Auffassung dieses Volkes von Solidarität verblüffte, eine Auffassung, die vielleicht nicht in die Logik des In-den-Wald-eindringen-plündern-rauben-und-verkaufen passt, die alle kolonisierten Länder prägt, die sich jedoch im Pulsschlag des Waldes […] als unerlässlich für das Überleben der Menschen erweist.
Die sprachlichen Facetten, die Gestapelte Frauen aufweist, sind beeindruckend. Neben der Vulgärsprache, den sinnlichen Naturbeschreibungen und den fließenden Bewusstseinsströmen in der Traumwelt kommen originelle Bilder („Die Farben scheuerten in meinen Augen“), abgedrehte Vergleiche („Wenn Amir ein Flusspferd war, das kotet und seine Scheiße in alle Richtungen verteilt, um das Weibchen zu betören, dann musste ich eine lebendig-tote Libelle sein.“) und kindliche Perspektiven hinzu. Auch haben viele der Protagonisten eine prägnante eigene Stimme, so äußert sich die Wut über die Ungerechtigkeit bei der in Cruzeiro do Sul arbeitenden Anwältin Carla in einer aggressiven Wortwahl, die Mesquita wunderbar lautmalerisch übersetzt hat: „Eigentlich bin ich zu faul zum Kochen, aber nach einem Tag wie diesem ist mir nach Zerhacken, Zerstoßen und Zerschlagen zumute. Zur Entspannung.“ Die Zs spiegeln perfekt die beschriebenen Tätigkeiten wider und lassen die Leserinnen und Leser zusammenzucken, so spürbar wird durch die Wortwahl die Wut.
Im Gegensatz zu Carla wirkt der Tankwart, der die Mörder von Txupira angezeigt hat, nahezu plump. Mesquita legt der Nebenfigur einfache Worte in den Mund, die den Mann perfekt charakterisieren: „Jawohl, an der Karosserie, so dieses klebrige Blut, ganz verspritzt, nich? Und so diese Brühe, nich? Von dem Blut. Das war, bevor ich gewaschen hab, nich?“ Wenn er einige Zeilen später erklärt, warum er es mit der Angst zu tun bekommen hat, mutet die ernste Szene durch seine verschwurbelte Logik sogar komisch an: „Dass jemand sagt, dass ich es gewusst hab und nichts gesagt hab, nich? Dann würden sie sagen, dass ich nichts gesagt hab. Das würden sie sagen, wenn ich nichts gesagt hätte.“
Doch das Thema des Buches ist zu ernst, um derartigen zum Schmunzeln einladenden Passagen zu viel Raum zu lassen. Die Grausamkeit der Männer wird in all ihren Facetten präsentiert. So wird die erste Hälfte des Romans immer wieder von Textnachrichten durchzogen, die in kursiver Schrift dargestellt werden. Es handelt sich dabei um Mitteilungen von Amir, der mit Entschuldigungen und Liebesbekundungen versucht, seinen Übergriff wiedergutzumachen. Die Nachrichten erscheinen genau dann im Text, wenn sie in der erzählten Zeit bei der Protagonistin auf dem Smartphone angezeigt werden – ein schöner Kunstgriff der Autorin.
Glücklicherweise lässt sich die junge Anwältin mit all ihrer Erfahrung nicht einlullen. „Diese Frauenmörder sprechen eine eigene Sprache“, stellt sie schon früh fest. „Du musst ihre Worte nur richtig zu übersetzen wissen. Wenn sie sagen: ‚Ich liebe dich‘, heißt das, du hast einen Besitzer. […]“ Mesquita ist nicht nur eine herausragende Übertragung der „Frauenmördersprache“ gelungen, sie hat ihr auch eine kraftvolle, weibliche Sprache der Rebellion gegenübergestellt:
Zu Hause angekommen hatte ich lauter Pläne im Kopf. Blitze. Fühlte mich gut. Feuer. Ich würde mit Denise sprechen. Pulver. Mit meiner Großmutter. Vergiftete Pfeile. Mit Bia. Lanzen. Würde Informationsveranstaltungen organisieren. Artillerie. Würde einen Krieg beginnen. gestapeltefrauen.com.
Dieses Aufbäumen gibt auch den Leserinnen und Lesern Mut. Neben all den schonungslosen aber leider realistischen Feststellungen à la „Wir sterben in industriellem Ausmaß“ oder „Man kann sagen, dass Frauenmord ein schichtübergreifendes Verbrechen ist.“, erzeugt der elliptisch dargestellte, starke Widerstand der jungen Frau Hoffnung.
Die Protagonistin stellt eine Mappe zusammen, in der sie all die Fälle von getöteten Frauen, denen sie im Gericht beigewohnt hat, festhält. Nachdem eine Kollegin ihr gesagt hat, sie solle mal nach den Worten „Frau getötet“ im Internet suchen und überprüfen, wer die Täter waren, wird dies zu einer Routine: „Täglich tippte ich ‚Frau getötet‘ ein, und das ganze Blut ergoss sich mir ins Gesicht.“ Aus all den gesammelten ermordeten Frauen erstellt sie später eine Website: gestapeltefrauen.com, um das „Gebirge ermordeter Frauen“, auf dem auch ihre Mutter liegt, nicht länger totzuschweigen.
Patrícia Melo hat mit Gestapelte Frauen einen thematisch bedrückenden, doch sprachlich beeindruckenden Roman geschrieben. Gekonnt hat sie die städtische Welt mit ihrem dysfunktionalen Justizapparat mit der natürlichen Welt des Urwalds und der indigenen Völker verknüpft und auf diese Weise ein Netz der Gewalt und Unterdrückung gesponnen, gegen das sich die Frauen, ganz gleich welcher Herkunft, gemeinsam auflehnen. Barbara Mesquita hat sich nicht nur der thematischen, sondern auch der Sprachgewalt Melos gestellt. Gekonnt hat sie den Spagat zwischen dem radikalen Worttrommelfeuer und der Feinsinnigkeit von Mutter Natur geschafft, Protagonisten nuanciert charakterisiert und eine eindrucksvolle Übersetzung hervorgebracht, bei der jedes Wort durch Mark und Bein geht.
Drei Fragen an Barbara Mesquita
Sie übersetzen die Bücher von Patrícia Melo schon seit vielen Jahren. Hat dieser Roman einen besonderen Stil oder besondere sprachliche Herausforderungen mit sich gebracht?
Die Passagen, in denen die Erzählerin sich durch den Genuss des bewusstseinserweiternden Ayahauasca in ihrer Traumwelt befindet, unterscheiden sich stilistisch sehr stark von dem Duktus sowohl dieses Romans als auch aller anderen Romane, die ich von Patrícia Melo übersetzt habe, und das sind bis auf zwei oder drei sämtliche Bücher, die sie bisher geschrieben hat. Ihr Schreibstil ist ja ansonsten eher nüchtern, atemlos und pointiert, während die Traumweltpassagen in Gestapelte Frauen streckenweise sehr poetisch sind. Da ich aber auch schon häufiger Lyrik übersetzt habe, zuletzt eine Gedichtanthologie des kapverdischen Camões-Preisträgers Arménio Vieira, hat mich das nicht nur nicht geschreckt, sondern es war mir ein besonderes Vergnügen, für diese Passagen (hoffentlich gelungene) Übersetzungslösungen zu finden. Und ich war wieder einmal begeistert von der Kreativität der Autorin.
Melo schreibt im Nachwort, dass ihr allerlei Menschen bei der Recherche zu diesem Thema geholfen haben, und dass sie Einblicke in wichtige Interviews hatte. Haben Sie selbst diese Interviews zurate ziehen können? Wie sah Ihre eigene Recherchearbeit zu diesem Thema aus?
Nein, die Interviews habe ich nicht gelesen, aber ich habe natürlich enorm viel recherchiert, zu den kulturellen und geschichtlichen Aspekten, die in dem Roman von Bedeutung sind, der ja in dem Bundesstaat Acre und zu einem großen Teil in der Gemeinschaft zweier indigener Ethnien spielt. Außerdem musste ich mich sehr intensiv mit der Flora und Fauna des Regenwaldes befassen.
Welchen Erzählstrang haben Sie lieber übersetzt, die Traumwelt, oder die Realität? Und warum?
Mit dem Thema der Gewalt gegen Frauen, die im schlimmsten Fall im Femizid endet, hat Patrícia Melo ein Thema aufgegriffen, das jede Frau angeht, und so auch mich. Es ist ein starkes Buch, das Partei ergreift, und es lebt von dem Kontrast zwischen der kruden Realität und der Gegenwelt der Traumsequenzen, in denen die Erzählerin die ihr aufgezwungene Opferrolle verlässt. Das hat mir beim Übersetzen sehr gefallen.