Miro­bel­li Freuenschuh

Das Bilderbuch „Du iz tak?“ von Carson Ellis zeigt kleine Tiere ganz groß. Jess Jochimsen und Anja Schöne zaubern eine Übersetzung dieses Werks auf Papier, die große Menschen wieder ganz klein werden lässt. Von

An Freuenschuh. Aus: „Wazn Teez“ von Carson Ellis. © 2017 NordSüd Verlag AG, Zürich/ Schweiz. Originalausgabe: Walker Books Ltd.

Wenn man sich das all­ge­mei­ne lite­ra­ri­sche Bewusst­sein als ein Haus vor­stellt, dann bewoh­nen Bil­der­bü­cher eine Besen­kam­mer, in die sich sel­ten jemand ver­irrt. Das erstaunt nicht nur des­halb, weil im Grun­de jede lesen­de Per­son ihre ers­ten Lek­tü­re­er­fah­run­gen mit Bil­der­bü­chern gemacht hat: Es fehlt in der Lite­ra­tur­ge­schich­te auch nicht an Bei­spie­len dafür, dass kein phi­lo­so­phi­sches Pro­blem zu kom­plex ist, um nicht auch den Kleins­ten erzäh­le­risch vor­ge­führt zu wer­den – und nur fan­ta­sie­lo­se Erwach­se­ne kön­nen sich vor­stel­len, die Beschäf­ti­gung mit der­lei Pro­ble­men ent­fal­te in Kin­dern kei­ne blei­ben­de Wirkung.

Ein außer­ge­wöhn­li­ches Bei­spiel für kin­der­li­te­ra­ri­sche Kom­ple­xi­tät ist der im Jahr 2016 erschie­ne­ne Band Du iz tak? der US-ame­ri­ka­ni­schen Illus­tra­to­rin und Schrift­stel­le­rin Carson Ellis. Im Jahr 2017 erschien er, über­setzt von Jess Jochim­sen und Anja Schö­ne, im Nord­Süd Ver­lag unter dem Titel Wazn teez? auch auf – nun ja: Deutsch?

Der ers­te Beleg dafür, dass wir es hier mit gro­ßer Kunst zu tun haben, ist die Tat­sa­che, dass die­se Rezen­si­on soeben schon im zwei­ten Absatz an die Gren­zen ihrer eige­nen Spra­che gesto­ßen ist. „Über­setzt von“ habe ich geschrie­ben, aber damit fan­gen die Unge­wiss­hei­ten eigent­lich schon an. Über­setzt „aus“ wel­cher Spra­che „in“ wel­che Spra­che? „Wazn teez?“ ist doch defi­ni­tiv kein deut­scher Satz? Ist dies über­haupt eine Über­set­zung, und wenn nein, was sonst? Nach der Titel­sei­te, auf der wir auch die­ses obli­ga­to­ri­sche „über­setzt“ fin­den, blät­tern wir um und sehen fol­gen­de Szene:

"Wazn teez?" - "Mi nanüt."
Im Ori­gi­nal steht hier: „Du iz tak?“ – „Ma nazoot“. Aus: „Wazn Teez“ von Carson Ellis. © 2017 Nord­Süd Ver­lag AG, Zürich/ Schweiz. Ori­gi­nal­aus­ga­be: Wal­ker Books Ltd.

Das ist nun im enge­ren Sin­ne kei­ne Über­set­zung, wenn man dar­un­ter den Pro­zess ver­steht, etwas zuvor Unver­ständ­li­ches ver­ständ­lich zu machen. Der Dia­log der Libel­len ist in der „über­setz­ten“ Fas­sung eben­so (un-)verständlich wie in der „ori­gi­na­len“.

Da die „Über­set­zung“ hier nichts ver­ständ­lich macht, müs­sen wir selbst aktiv wer­den. Den eigent­li­chen Über­set­zungs­pro­zess, die Ver­ständ­lich­ma­chung, müs­sen wir – vor­le­sen­de Erwach­se­ne eben­so wie stau­nen­de Kin­der – im Kopf voll­brin­gen. „Wazn teez“ – dahin­ter steht ein Fra­ge­zei­chen, und die Ges­te der auf den Stock gestütz­ten Libel­le ver­deut­licht, dass sie sich wohl fragt, „waz teez“ wohl ist, die­ser grü­ne Stum­mel, der zwi­schen ihr und ihrer Beglei­tung aus dem Boden ragt. (Welch meis­ter­li­cher Griff allein schon die­se Ein­stiegs­fra­ge für ein Buch, das per­ma­nent Unver­ständ­nis bei allen Lese­rin­nen und Lesern her­vor­ru­fen wird!)

Die Replik der zwei­ten Libel­le ist nicht ganz so ein­deu­tig inter­pre­tier­bar. „Mi nanüt“ – das könn­te ent­we­der die Ant­wort sein („nanüt“ wäre dann der Name die­ses unbe­kann­ten Pflanz­ob­jek­tes) oder ein unschlüs­si­ges Grü­beln. So wie die­ser Satz und so wie die vie­len wun­der­li­chen Bild­ele­men­te (man beach­te den über Kopf hän­gen­den Tau­send­füß­ler am lin­ken Bild­rand!) gibt die gan­ze Hand­lung des Buches rund um die­ses selt­sa­me „teez“, das die zwei Libel­len in der Ein­gangs­sze­ne auf­spü­ren, Anlass für end­lo­se Dis­kus­sio­nen und Gedan­ken­spie­le für groß und klein.

Es ist für Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer nichts Unge­wöhn­li­ches, auf ein­zel­ne Wör­ter oder Sät­ze zu sto­ßen, die defi­ni­to­risch unter­be­stimmt sind, also mehr als eine vali­de Deu­tung zulas­sen. Nor­ma­ler­wei­se ergibt sich die Bedeu­tung eines Text­teils, wenn sie nicht sofort zu ent­schlüs­seln ist, aus sei­nem Kon-Text, also sei­nen Quer­ver­bin­dun­gen zu ande­ren Wör­tern bzw. Sinneinheiten.

Der Kon­text ist im über­set­ze­ri­schen All­tags­ge­schäft der Ret­tungs­ring, mit dem man sich aus rau­en Text­ge­wäs­sern manö­vrie­ren kann. Bei genaue­rer Prü­fung stellt man aber fest, dass die­se Ret­tungs­ak­ti­on ein münch­hau­sen­sches Manö­ver ist. Denn was ist der Kon-Text ande­res als, nun ja, Text? Zer­rinnt nicht der Kon­text, der eben noch wie das ret­ten­de Ufer erschien, wie eine Fata Mor­ga­na unter mei­nen Hän­den, sobald ich ihn zu errei­chen wäh­ne, und erweist sich als nichts ande­res als Text? Plötz­lich, von hier aus, sieht der Text, in dem ich eben noch schwamm, wie zu Hil­fe eilen­der Kon­text aus, ich eile wie­der zurück, aber nie fin­de ich fes­ten Halt …

Die­ser end­lo­se See aus Quer­ver­bin­dun­gen zwi­schen den Wör­tern (Syn­tax, wie die Sprach­wis­sen­schaft sagen wür­de), der ihre eigent­li­che Funk­ti­on des Bezeich­nens (Seman­tik) irgend­wann ertränkt, ist als Vor­stel­lung viel zu gru­se­lig, als dass sich Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer lan­ge damit auf­hal­ten wür­den und soll­ten. Wazn teez? mit sei­nen (aber-)witzigen Wort­schöp­fun­gen gelingt es jedoch, unse­ren Blick für eine Weis­heit zu öff­nen, die Klein­kin­dern viel geläu­fi­ger ist als Erwach­se­nen: Es ist letzt­lich nicht die Wör­ter­buch­de­fi­ni­ti­on, die die Bedeu­tung eines Wor­tes fest­legt, son­dern ein­zig und allein unser unschar­fer und wan­del­ba­rer Wort­ge­brauch im Alltag.

Das Sprach­kunst­werk Du iz tak? ist inzwi­schen elf­mal über­setzt wor­den. Wenn wir jetzt an den gru­se­li­gen, bedeu­tungs­ver­nich­ten­den Sprach­see zurück­den­ken, in dem wir eben noch schwam­men, drän­gen sich zu die­ser Fest­stel­lung zwei Fra­gen auf: 1.: Hä? Und 2.: Wie über­setzt man so etwas?

Die ers­te Fra­ge ist die tief­grün­di­ge­re. Schließ­lich ist es im Grun­de über­haupt nicht ein­zu­se­hen, war­um ein Buch, das ohne­hin kei­ne eng­li­schen Wör­ter ent­hält, über­haupt in irgend­ei­ne Spra­che über­setzt wer­den soll­te. Was ist der Unter­schied zwi­schen „Du iz tak?“ und „Wazn teez?“?

Zunächst ein­mal ist fest­zu­hal­ten, dass Lexik nicht das glei­che ist wie Pho­ne­tik – weni­ger fach­sprach­lich gesagt: Ein sinn­lo­ses Wort ist nicht zugleich auch ein unaus­sprech­li­ches. Wenn die Rau­pe an einer Stel­le aus­ruft: „Unk scriv­a­del­ly glad­den­boot!“, dann ist das, auch wenn keins die­ser Wör­ter im Oxford Dic­tion­a­ry ver­zeich­net ist, irgend­wie unver­kenn­bar „Eng­lisch“ und wäre in einem deut­schen Bil­der­buch ein Fremd­kör­per – es käme einem beim Vor­le­sen holp­rig über die Lip­pen. Leich­ter geht es doch auf „Deutsch“: „An miro­bel­li Freuenschuh!“

Das kur­si­ve irgend­wie im vor­he­ri­gen Absatz ist der ent­schei­den­de Punkt. Die­ses irgend­wie legt den Fin­ger ganz sanft in einen Spalt unse­res Bewusst­seins, der den meis­ten Men­schen über­haupt nicht bewusst sein dürf­te. Je län­ger ich über einen Satz wie den obi­gen nach­den­ke, des­to unwoh­ler füh­le ich mich, gleich dem jun­gen Lord Chan­dos, in mei­ner eige­nen Spra­che, die so unheim­lich selbst­ver­ständ­lich Teil mei­nes Wesens ist. War­um, ver­flixt, war­um nur weiß ich, wie man „miro­bel­li“ sagt; mehr noch: war­um weiß ich, dass es ein Adjek­tiv ist – und weiß doch nicht, was es heißt?

War­ten Sie, es wird noch verrückter.

Denn natür­lich weiß ich sofort, was ein „miro­bel­li Freu­en­schuh“ ist, wenn ich die dazu­ge­hö­ri­ge Illus­tra­ti­on sehe. (Sie bil­det das Titel­bild die­ses Beitrags.)

Bota­nisch Kun­di­gen wird auf­ge­fal­len sein, viel­leicht nach­dem, viel­leicht bevor sie das Bild gese­hen haben, dass der „Freu­en­schuh“ sich in nur einem Buch­sta­ben vom „Frau­en­schuh“ unter­schei­det, also sub­til auf ein real exis­tie­ren­des deut­sches Wort anspielt.

Asso­zia­tio­nen sind für all unser Spre­chen wich­tig. Sie hel­fen uns, neue Wör­ter blitz­schnell in unser Sprach­sys­tem ein­zu­sor­tie­ren und Sinn­räu­me auch dort zu erschlie­ßen, wo Wör­ter­bü­cher längst ver­sa­gen. Sie sind auch der Bereich, der sich Sprach­ler­nern als aller­letz­tes erschließt. Denn all die ver­rück­ten Gedan­ken, die schon einem fünf­jäh­ri­gen, Eng­lisch spre­chen­den Kind bei dem Satz „Unk scriv­a­del­ly glad­den­boot!“ in den Kopf kom­men, sind Außen­ste­hen­den aus Wör­ter­bü­chern nur ganz und gar unzu­läng­lich abzuleiten.

Non­sens, Abwe­sen­heit von Sinn, funk­tio­niert ein­zig und allein über Asso­zia­ti­on und Syn­tax, nicht aber über Seman­tik, also die ein­deu­ti­ge Zuord­nung von Wör­tern zu einem defi­nier­ten Sinn. (Das Para­de­bei­spiel hier­für ist das berühm­te Gedicht Jab­ber­wo­cky von Lewis Car­roll, des­sen diver­sen Über­set­zun­gen Dou­glas R. Hof­stad­ter ein gan­zes Kapi­tel sei­nes Kult­bu­ches Gödel, Escher, Bach wid­me­te.) Die Spra­che, die die zahl­rei­chen Insekt­chen in Wazn teez? spre­chen, geht aber noch einen Schritt dar­über hinaus.

Sei­nen Reiz bezieht die­ses von der Autorin mit über­bor­den­der Lie­be zum Detail gestal­te­te Kin­der­buch näm­lich dar­aus, dass sich aus dem Mit­ein­an­der von Wort und Bild ein gera­de­zu syn­äs­the­ti­scher Sinn ein­stellt. Wer den „Freu­en­schuh“ ein­mal gese­hen hat, erkennt ihn sofort und ver­gisst ihn auch so schnell nicht wie­der. Bild- und Wort­text die­ses Bil­der­buchs sind so sorg­fäl­tig kon­stru­iert, dass ein Pedant dar­aus wahr­schein­lich nicht nur eine Fas­sung in „Men­schen­deutsch“, son­dern ein gan­zes Wör­ter­buch und sogar eine rudi­men­tä­re Gram­ma­tik die­ser eige­nen Spra­che erstel­len könnte.

Wie über­setzt man so etwas?

Jess Jochim­sen und Anja Schö­ne sind mit über­set­ze­ri­scher Ent­schluss­kraft den ein­zig gang­ba­ren, den radi­ka­len Weg gegan­gen: Sie haben Ellis‘ traum­ver­lo­re­ne Insek­ten­ge­schich­te von Grund auf neu erfun­den. Sie hal­ten sowohl jene ober­fläch­li­che Inter­pre­ta­ti­on auf Abstand, die in Ellis‘ Text nichts als Non­sens sieht, als auch einen falsch ver­stan­de­nen didak­ti­schen Über­set­zer­an­satz, der den jun­gen Lese­rin­nen und Lesern kei­ne eige­ne Inter­pre­ta­ti­on des Gesche­hens zutraut.

Jochim­sens und Schö­nes Über­set­zung ist glei­cher­ma­ßen kon­sis­tent wie fan­ta­sie­voll. Sie fin­den nicht nur spre­chen­de, beein­dru­cken­de Namen für die ver­schie­de­nen Tie­re (wem jag­te ein „Schroxx­ler“ nicht Schau­er über den Rücken!?), sie schaf­fen für ihre Fan­ta­sie­spra­che auch eine bemer­kens­wert glaub­haf­te Ortho­gra­phie, ja sogar Gram­ma­tik. Die Schrift­spra­che ähnelt der deut­schen, sodass sie nicht fremd wirkt, spielt aber den­noch mit ihr und ver­wen­det unüb­li­che Pho­ne­me wie „uu“ in Wor­ten wie „buudi“ oder „Uugi“, die ihr einen eige­nen Klang ver­lei­hen. (Hier­mit wird sogar sub­til das Ori­gi­nal auf­ge­nom­men, das viel mit dem eng­li­schen Pho­nem „oo“ arbeitet.)

Wazn teez? ist ein Bil­der­buch, das man immer und immer wie­der lesen will und wird, weil man bei jedem Mal wie­der neue Wör­ter ver­ste­hen, neue Details in den Bil­der ent­de­cken und neue Asso­zia­tio­nen sprie­ßen las­sen kann. Egal ob jung oder alt: Wer es anschaut, liest oder vor­liest, wird die Welt um sich her­um mit den neu­gie­ri­gen Augen eines Kin­des sehen und sich für die Dau­er der Lek­tü­re für nichts ande­res als das Schick­sal von Izzi, Uugi und den Knip­sis inter­es­sie­ren. Das ist gro­ße Literatur.


Carson Ellis/Jess Jochimsen/Anja Schö­ne: Wazn teez? (im Ori­gi­nal: Du iz tak?)

Nord­Süd 2017 ⋅ 48 Sei­ten ⋅ ab 5 Jah­ren ⋅ 16 Euro

www.nord-sued.com/programm/wazn-teez/

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