Wenn man sich das allgemeine literarische Bewusstsein als ein Haus vorstellt, dann bewohnen Bilderbücher eine Besenkammer, in die sich selten jemand verirrt. Das erstaunt nicht nur deshalb, weil im Grunde jede lesende Person ihre ersten Lektüreerfahrungen mit Bilderbüchern gemacht hat: Es fehlt in der Literaturgeschichte auch nicht an Beispielen dafür, dass kein philosophisches Problem zu komplex ist, um nicht auch den Kleinsten erzählerisch vorgeführt zu werden – und nur fantasielose Erwachsene können sich vorstellen, die Beschäftigung mit derlei Problemen entfalte in Kindern keine bleibende Wirkung.
Ein außergewöhnliches Beispiel für kinderliterarische Komplexität ist der im Jahr 2016 erschienene Band Du iz tak? der US-amerikanischen Illustratorin und Schriftstellerin Carson Ellis. Im Jahr 2017 erschien er, übersetzt von Jess Jochimsen und Anja Schöne, im NordSüd Verlag unter dem Titel Wazn teez? auch auf – nun ja: Deutsch?
Der erste Beleg dafür, dass wir es hier mit großer Kunst zu tun haben, ist die Tatsache, dass diese Rezension soeben schon im zweiten Absatz an die Grenzen ihrer eigenen Sprache gestoßen ist. „Übersetzt von“ habe ich geschrieben, aber damit fangen die Ungewissheiten eigentlich schon an. Übersetzt „aus“ welcher Sprache „in“ welche Sprache? „Wazn teez?“ ist doch definitiv kein deutscher Satz? Ist dies überhaupt eine Übersetzung, und wenn nein, was sonst? Nach der Titelseite, auf der wir auch dieses obligatorische „übersetzt“ finden, blättern wir um und sehen folgende Szene:
Das ist nun im engeren Sinne keine Übersetzung, wenn man darunter den Prozess versteht, etwas zuvor Unverständliches verständlich zu machen. Der Dialog der Libellen ist in der „übersetzten“ Fassung ebenso (un-)verständlich wie in der „originalen“.
Da die „Übersetzung“ hier nichts verständlich macht, müssen wir selbst aktiv werden. Den eigentlichen Übersetzungsprozess, die Verständlichmachung, müssen wir – vorlesende Erwachsene ebenso wie staunende Kinder – im Kopf vollbringen. „Wazn teez“ – dahinter steht ein Fragezeichen, und die Geste der auf den Stock gestützten Libelle verdeutlicht, dass sie sich wohl fragt, „waz teez“ wohl ist, dieser grüne Stummel, der zwischen ihr und ihrer Begleitung aus dem Boden ragt. (Welch meisterlicher Griff allein schon diese Einstiegsfrage für ein Buch, das permanent Unverständnis bei allen Leserinnen und Lesern hervorrufen wird!)
Die Replik der zweiten Libelle ist nicht ganz so eindeutig interpretierbar. „Mi nanüt“ – das könnte entweder die Antwort sein („nanüt“ wäre dann der Name dieses unbekannten Pflanzobjektes) oder ein unschlüssiges Grübeln. So wie dieser Satz und so wie die vielen wunderlichen Bildelemente (man beachte den über Kopf hängenden Tausendfüßler am linken Bildrand!) gibt die ganze Handlung des Buches rund um dieses seltsame „teez“, das die zwei Libellen in der Eingangsszene aufspüren, Anlass für endlose Diskussionen und Gedankenspiele für groß und klein.
Es ist für Übersetzerinnen und Übersetzer nichts Ungewöhnliches, auf einzelne Wörter oder Sätze zu stoßen, die definitorisch unterbestimmt sind, also mehr als eine valide Deutung zulassen. Normalerweise ergibt sich die Bedeutung eines Textteils, wenn sie nicht sofort zu entschlüsseln ist, aus seinem Kon-Text, also seinen Querverbindungen zu anderen Wörtern bzw. Sinneinheiten.
Der Kontext ist im übersetzerischen Alltagsgeschäft der Rettungsring, mit dem man sich aus rauen Textgewässern manövrieren kann. Bei genauerer Prüfung stellt man aber fest, dass diese Rettungsaktion ein münchhausensches Manöver ist. Denn was ist der Kon-Text anderes als, nun ja, Text? Zerrinnt nicht der Kontext, der eben noch wie das rettende Ufer erschien, wie eine Fata Morgana unter meinen Händen, sobald ich ihn zu erreichen wähne, und erweist sich als nichts anderes als Text? Plötzlich, von hier aus, sieht der Text, in dem ich eben noch schwamm, wie zu Hilfe eilender Kontext aus, ich eile wieder zurück, aber nie finde ich festen Halt …
Dieser endlose See aus Querverbindungen zwischen den Wörtern (Syntax, wie die Sprachwissenschaft sagen würde), der ihre eigentliche Funktion des Bezeichnens (Semantik) irgendwann ertränkt, ist als Vorstellung viel zu gruselig, als dass sich Übersetzerinnen und Übersetzer lange damit aufhalten würden und sollten. Wazn teez? mit seinen (aber-)witzigen Wortschöpfungen gelingt es jedoch, unseren Blick für eine Weisheit zu öffnen, die Kleinkindern viel geläufiger ist als Erwachsenen: Es ist letztlich nicht die Wörterbuchdefinition, die die Bedeutung eines Wortes festlegt, sondern einzig und allein unser unscharfer und wandelbarer Wortgebrauch im Alltag.
Das Sprachkunstwerk Du iz tak? ist inzwischen elfmal übersetzt worden. Wenn wir jetzt an den gruseligen, bedeutungsvernichtenden Sprachsee zurückdenken, in dem wir eben noch schwammen, drängen sich zu dieser Feststellung zwei Fragen auf: 1.: Hä? Und 2.: Wie übersetzt man so etwas?
Die erste Frage ist die tiefgründigere. Schließlich ist es im Grunde überhaupt nicht einzusehen, warum ein Buch, das ohnehin keine englischen Wörter enthält, überhaupt in irgendeine Sprache übersetzt werden sollte. Was ist der Unterschied zwischen „Du iz tak?“ und „Wazn teez?“?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Lexik nicht das gleiche ist wie Phonetik – weniger fachsprachlich gesagt: Ein sinnloses Wort ist nicht zugleich auch ein unaussprechliches. Wenn die Raupe an einer Stelle ausruft: „Unk scrivadelly gladdenboot!“, dann ist das, auch wenn keins dieser Wörter im Oxford Dictionary verzeichnet ist, irgendwie unverkennbar „Englisch“ und wäre in einem deutschen Bilderbuch ein Fremdkörper – es käme einem beim Vorlesen holprig über die Lippen. Leichter geht es doch auf „Deutsch“: „An mirobelli Freuenschuh!“
Das kursive irgendwie im vorherigen Absatz ist der entscheidende Punkt. Dieses irgendwie legt den Finger ganz sanft in einen Spalt unseres Bewusstseins, der den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst sein dürfte. Je länger ich über einen Satz wie den obigen nachdenke, desto unwohler fühle ich mich, gleich dem jungen Lord Chandos, in meiner eigenen Sprache, die so unheimlich selbstverständlich Teil meines Wesens ist. Warum, verflixt, warum nur weiß ich, wie man „mirobelli“ sagt; mehr noch: warum weiß ich, dass es ein Adjektiv ist – und weiß doch nicht, was es heißt?
Warten Sie, es wird noch verrückter.
Denn natürlich weiß ich sofort, was ein „mirobelli Freuenschuh“ ist, wenn ich die dazugehörige Illustration sehe. (Sie bildet das Titelbild dieses Beitrags.)
Botanisch Kundigen wird aufgefallen sein, vielleicht nachdem, vielleicht bevor sie das Bild gesehen haben, dass der „Freuenschuh“ sich in nur einem Buchstaben vom „Frauenschuh“ unterscheidet, also subtil auf ein real existierendes deutsches Wort anspielt.
Assoziationen sind für all unser Sprechen wichtig. Sie helfen uns, neue Wörter blitzschnell in unser Sprachsystem einzusortieren und Sinnräume auch dort zu erschließen, wo Wörterbücher längst versagen. Sie sind auch der Bereich, der sich Sprachlernern als allerletztes erschließt. Denn all die verrückten Gedanken, die schon einem fünfjährigen, Englisch sprechenden Kind bei dem Satz „Unk scrivadelly gladdenboot!“ in den Kopf kommen, sind Außenstehenden aus Wörterbüchern nur ganz und gar unzulänglich abzuleiten.
Nonsens, Abwesenheit von Sinn, funktioniert einzig und allein über Assoziation und Syntax, nicht aber über Semantik, also die eindeutige Zuordnung von Wörtern zu einem definierten Sinn. (Das Paradebeispiel hierfür ist das berühmte Gedicht Jabberwocky von Lewis Carroll, dessen diversen Übersetzungen Douglas R. Hofstadter ein ganzes Kapitel seines Kultbuches Gödel, Escher, Bach widmete.) Die Sprache, die die zahlreichen Insektchen in Wazn teez? sprechen, geht aber noch einen Schritt darüber hinaus.
Seinen Reiz bezieht dieses von der Autorin mit überbordender Liebe zum Detail gestaltete Kinderbuch nämlich daraus, dass sich aus dem Miteinander von Wort und Bild ein geradezu synästhetischer Sinn einstellt. Wer den „Freuenschuh“ einmal gesehen hat, erkennt ihn sofort und vergisst ihn auch so schnell nicht wieder. Bild- und Worttext dieses Bilderbuchs sind so sorgfältig konstruiert, dass ein Pedant daraus wahrscheinlich nicht nur eine Fassung in „Menschendeutsch“, sondern ein ganzes Wörterbuch und sogar eine rudimentäre Grammatik dieser eigenen Sprache erstellen könnte.
Wie übersetzt man so etwas?
Jess Jochimsen und Anja Schöne sind mit übersetzerischer Entschlusskraft den einzig gangbaren, den radikalen Weg gegangen: Sie haben Ellis‘ traumverlorene Insektengeschichte von Grund auf neu erfunden. Sie halten sowohl jene oberflächliche Interpretation auf Abstand, die in Ellis‘ Text nichts als Nonsens sieht, als auch einen falsch verstandenen didaktischen Übersetzeransatz, der den jungen Leserinnen und Lesern keine eigene Interpretation des Geschehens zutraut.
Jochimsens und Schönes Übersetzung ist gleichermaßen konsistent wie fantasievoll. Sie finden nicht nur sprechende, beeindruckende Namen für die verschiedenen Tiere (wem jagte ein „Schroxxler“ nicht Schauer über den Rücken!?), sie schaffen für ihre Fantasiesprache auch eine bemerkenswert glaubhafte Orthographie, ja sogar Grammatik. Die Schriftsprache ähnelt der deutschen, sodass sie nicht fremd wirkt, spielt aber dennoch mit ihr und verwendet unübliche Phoneme wie „uu“ in Worten wie „buudi“ oder „Uugi“, die ihr einen eigenen Klang verleihen. (Hiermit wird sogar subtil das Original aufgenommen, das viel mit dem englischen Phonem „oo“ arbeitet.)
Wazn teez? ist ein Bilderbuch, das man immer und immer wieder lesen will und wird, weil man bei jedem Mal wieder neue Wörter verstehen, neue Details in den Bilder entdecken und neue Assoziationen sprießen lassen kann. Egal ob jung oder alt: Wer es anschaut, liest oder vorliest, wird die Welt um sich herum mit den neugierigen Augen eines Kindes sehen und sich für die Dauer der Lektüre für nichts anderes als das Schicksal von Izzi, Uugi und den Knipsis interessieren. Das ist große Literatur.
Carson Ellis/Jess Jochimsen/Anja Schöne: Wazn teez? (im Original: Du iz tak?)
NordSüd 2017 ⋅ 48 Seiten ⋅ ab 5 Jahren ⋅ 16 Euro