Sibiro Haiku
Jurga Vilė (Text) und Lina Itagaki (Illustration)
Saskia Drude
Litauisch
Sibiro Haiku
Alles begann mit einer Kartoffel. Denn gefrorene Kartoffeln waren oft das einzige, was Jurga Vilės Vater als Kind im sibirischen Lager zu essen bekam. Sonst erzählte er nicht viel von seiner Vergangenheit. „Ich stellte mir Sibirien als fernes eisiges Land vor, wo einem der Magen knurrt und die Nase läuft“, schreibt Vilė in ihrem Vorwort zu Sibiro Haiku. Irgendwann begann sie zu fragen, was damals eigentlich passiert war, und machte aus der Geschichte ihres Vaters eine Graphic Novel. Die sehr persönliche Erzählung spiegelt zugleich das Schicksal vieler litauischer Familien wider – kein Wunder also, dass das Original in Litauen alle nur denkbaren Preise abgeräumt hat und in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurde. Glücklicherweise hat auch der Schweizer Baobab Verlag dieses außergewöhnliche Buch in sein ohnehin spannendes Programm aufgenommen. So können sich auch deutschsprachige Kinder und Jugendliche (und ihre Eltern) behutsam an das schwierige Thema Gulag herantasten. Die gelungene deutsche Fassung von Saskia Drude ist mit dieser Jurybegründung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 nominiert:
Jurga Vilė und Lina Itagaki entreißen ein bewegendes Kapitel europäischer Geschichte dem Vergessen. Ihre Graphic Novel zieht alle Register: Seite für Seite finden sich überraschende Bild-Text-Kombinationen voller Atmosphäre. Details, Farbgestaltung und Handlettering fügen sich zu einem bemerkenswerten Gesamtkunstwerk, das seine Wirkung in der Übersetzung von Saskia Drude auch im Deutschen entfaltet. Eine Geschichte, die ergreift und ermutigt.
Im Sommer 1941 wird der 13-jährige Algis Mielis frühmorgens mit seiner Familie abgeholt und mit tausenden seiner Landsleute im Viehwaggon nach Sibirien deportiert. Dadurch soll der Widerstand der litauischen Bevölkerung gegen die sowjetische Besatzung im Zweiten Weltkrieg gebrochen werden. Doch von solchen geopolitischen Fragen ist die Lebens- und Gedankenwelt des Jungen weit entfernt. Aus noch fast kindlicher Perspektive schildert er die lange Fahrt nach Sibirien, die Demütigungen durch russische Soldaten und das Leben im Lager.
Dabei spielt auch eine Gans eine wichtige Rolle: Algis’ Ganter Martin wird zwar noch am Bahnhof erschossen, begleitet ihn aber weiterhin „unermüdlich, unauffällig, unverdächtig und selbstlos“ als guter Geist. Er überbringt Algis’ Briefe an seinen Vater, der in ein anderes Lager gekommen ist, oder an Onkel Alfonsas in Litauen, der die Familie vielleicht retten kann. Gantergeist Martin als Postbote – das weckt Zweifel, ob diese Briefe womöglich nur in Algis’ Fantasie verschickt werden. Doch gerade das Verschwimmen von Wunschdenken und Wirklichkeit machen den Reiz der Erzählung aus. Und ganz gleich, ob die Briefe wirklich existieren oder nicht: Die Illustratorin Lina Itagaki faltet sie sorgfältig zum Dreieck, genau wie es damals für Feld- und Lagerpost üblich war.
Diese Liebe zum Detail zieht sich durch das gesamte Buch – und ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass Itagaki alle Briefe per Hand geschrieben und zudem noch das gesamte Handlettering für die deutsche Ausgabe selbst übernommen hat, obwohl sie gar kein Deutsch kann. Die Illustrationen unterstützen nicht einfach Jurga Vilės Text, sie sind gleichberechtigter Teil der Erzählung. Alles ist durchdacht, selbst die Hintergrundtönung der Seiten: Es gibt graue Seiten voller Trostlosigkeit, grünliche Seiten für behutsame Hoffnungsschimmer und tiefschwarze, die Leiden und Tod bedeuten. Und manchmal verschmelzen Text und Bild ganz und gar zu einer symbiotischen Einheit.
Sibiro Haiku ist ein Gesamtkunstwerk aus verschiedenen Textsorten. Algis’ Briefe und Erzählungen wechseln sich ab mit kurzen Dialogen in Comicform, die uns immer wieder in medias res ziehen. Und weil nur böse Menschen keine Lieder haben, gründet Fräulein Violeta, Algis’ ehemalige Lehrerin, einen Chor, der gegen die graue Trostlosigkeit des Lageralltags ansingt. Saskia Drude übersetzt die Lieder oft mit deutlichen Anklängen an deutsche Gedichte oder Volksweisen, sodass zumindest Erwachsene beim Lesen gleich eine Melodie im Kopf haben. Und dann sind da natürlich noch die titelgebenden Haikus. Denn Algis’ Lieblingstante Petronella, die Bücher, bunte Kimonos und Japan liebt, hat einen kleinen Haiku-Band ins Lager schmuggeln können. Um die anderen aus ihrem Trübsinn zu reißen, versorgt sie das Lager regelmäßig mit Gedichten und gefalteten Papierkranichen. Manchmal gibt sie auch eigene Erfahrungen in Haiku-Form zum Besten.
Musik, Gedichte und Origami als papierdünner Schutz vor der Hoffnungslosigkeit – aber gerade diese seltenen Lichtblicke machen das Lagerleben für die Kinder halbwegs erträglich. Die Sprache ist einfach, die Sätze sind kurz, müssen es sein in einer Graphic Novel, und doch ist der Text alles andere als anspruchslos. Der Übersetzerin gelingt es auf dem eng begrenzten Raum, Algis altersgerecht und zugleich mit abwechslungsreicher Lexik sprechen zu lassen:
Die unzufriedene Masse, so sagte es Fräulein Violeta. Aufgeblasen, glatt, glitschig, von unbestimmter Form und Farbe. Meistens sind ein paar Sauertöpfe dabei, die ständig klagen und schimpfen. Sie sind dauernd unzufrieden und sehen nur die dunkle Seite des Mondes. Das Schlimme ist, dass jeder von uns irgendwann im Leben Teil dieser Masse ist. Sie haftet an uns wie eine Klette, und man wird sie fast nicht wieder los.
So entsteht ein schlichter, starker Text, der Jugendliche wie Erwachsene anspricht. Er lebt von originellen kleinen Sprachideen, die einen stutzen oder schmunzeln lassen, etwa wenn Algis’ Schwester Dalia mit einem „umgekehrten Lächeln“ herumläuft, das nur für den Himmel bestimmt ist, während das Lächeln seiner heimlichen Liebe Veronika eher „geblümt“ aussieht.
Saskia Drude beweist ihre Kreativität auch bei der Übersetzung von Wortspielen: Die beiden Wachmänner im Lager heißen auf Russisch Chlebnik (von chleb = Brot) und Kartoschnik (von kartoschka = Kartoffel). Daraus macht sie die herrlichen Spitznamen „Brotski“ (was zudem noch an den sowjetischen Dichter Joseph Brodsky erinnert) und „Kartoffelnik“ und zeigt, wie man russische und deutsche Elemente gekonnt zu einem Wortwitz verbinden kann.
Überhaupt ist Vielsprachigkeit bei Sibiro Haiku Programm: Der litauische Text ist durchsetzt mit russischen und japanischen Einsprengseln. Die ersten russischen Wörter, die Algis lernt, sind dawai (Los!), moltschatj (Mund halten!) und spatj (Schlafen!). Die Übersetzerin baut die fremden Wörter so in den deutschen Text ein, dass sie durch den Kontext, lexikalische Ähnlichkeit (desinfekzija) oder die Kombination mit der deutschen Übersetzung verständlich werden. Und selbst wenn mal etwas nicht unmittelbar klar sein sollte, ist auch das eine wichtige Fremdheitserfahrung für die jungen Leserinnen und Leser – schließlich verstehen auch die litauischen Kinder, um die es im Buch geht, im Lager anfangs vieles nicht.
Algis’ Geschichte ist im Grunde genommen tieftraurig. Sein Vater, der bienenliebende Dorfvorsteher, wird im Lager erschossen, seine Freundin Veronika stirbt in einem Schneesturm, Tante Petronella endet in einem noch grausameren Lager am Polarkreis, und Fräulein Violeta verliert erst einen Arm und dann ihr Leben. Algis selbst kehrt mit seiner Schwester Dalia nach mehreren Jahren krank, erschöpft und begleitet von den Geistern der Toten in einem „Zug der Waisen“ nach Litauen zurück. Ihre Mutter kann zu ihnen fliehen, wird jedoch wieder verhaftet, gefoltert und erneut nach Sibirien deportiert. Sie kommt erst nach vielen Jahren nach Hause zurück.
Trotz alledem lassen Algis und seine Freunde sich nicht ganz den Humor nehmen und antworten der „unzufriedenen Masse“ mit schlagfertigen Kommentaren. Und wenn Hunger, Kälte, Trauer und Wanzen allzu unerträglich werden, flüchtet sich Algis in Lieder, Tagträume oder Gespräche mit der immer größer werdenden Schar der Verstorbenen. Denn, wie er selbst zugibt, „sind Fantasie und Wirklichkeit manchmal schwer zu unterscheiden.“ Das rettet ihm vermutlich das Leben, denn mit ein bisschen Vorstellungskraft wird selbst aus einer kärglichen Wassersuppe die köstlichste Suppe der Welt.
Die faszinierende Mischung aus Realismus und Fantasie macht die Geschichte von Algis Mielis für Jugendliche aus aller Welt lesenswert. Dass dieses besondere Buch, das so schwierige Themen wie Traumatisierung und Vergangenheitsbewältigung in jugendgerechter Form behandelt, auch auf Deutsch mit großem Gewinn entdeckt werden kann, ist der einfühlsamen Übersetzung von Saskia Drude zu verdanken, die gar nicht genug Leserinnen und Leser finden kann.
Drei Fragen an Saskia Drude
Viele Namen im Buch wecken Assoziationen: Ganter Martin erinnert an die Martinsgans, Algis kommt aus einem Dorf namens Hörnchenheim, sein Freund Rapolas Lorchel wird oft wegen seines „Pilznamens“ gehänselt, und Algis’ Nachname Mielis erinnert an das französische Wort „miel“ für Honig, was wiederum gut zu den Bienen passt, die sein Vater züchtet. Wie finden Sie solche sprechenden Namen?
Es war mir sehr wichtig, die bestehenden Assoziationen des Originals ins Deutsche herüberzuretten, weil sie einen wichtigen Teil der Geschichte ausmachen. Beim Ganter Martynas war es einfach, denn die Martinsgans gibt es auch im Litauischen. Die Familie von Algis heißt im Original Korys („Wabe“), das starke Pferd Dobilas („Klee“) wurde zu Löwenzahn, der Nachname von Rapolas Bobausis (zu Deutsch „Giftlorchel“) ließ sich fast 1:1 übersetzen. Die Nachnamen sind zum größten Teil übersetzt, die Vornamen weitgehend aus dem Original übernommen. Dadurch entsteht, wie ich finde, ein reizvolles Spannungsverhältnis – nicht authentisch, aber sehr bildlich.
Der Name des Dorfes musste sowohl zu der Zeichnung mit den Bäumen passen, an denen Croissants wachsen, als auch zu der Geste des sowjetischen Soldaten, der diesem Namen mit Unverständnis begegnet. Die französische Übersetzerin fand eine Lösung mit Croissant/Crétin („Idiot“); im Deutschen wählten wir Hörnchen/Hörner – mit Zustimmung des Schweizer Verlages, obwohl süßes Gebäck in der Schweiz unter diesem Namen unbekannt ist; da hätte ich Gipfeli schreiben müssen.
Manche Assoziationen haben den „Testlauf“ an Bekannten und Freunden nicht bestanden. Der Wachhund im Lager, im Original Razinka („Rosine“), sollte mit seinem Namen an nahrhaftes Essen erinnern, das für die Deportierten unerreichbar geworden war, und gleichzeitig „irgendwie russisch“ klingen. Meine Idee, den Hund nach einer vor allem in der ehemaligen DDR bekannten Wurstsuppe Soljanka zu nennen, fanden die meisten zu weit hergeholt; so wurde Schmalzka daraus.
Überhaupt habe ich über die Namensgebung wohl am meisten mit anderen Leuten diskutiert, um eine möglichst befriedigende Lösung zu finden. Inspiriert hat mich auch die französische Übersetzung meiner langjährigen Bekannten Marielle Vitureau, die mir ihre Listen samt des Gedankenaustauschs mit ihrem Verlag in Frankreich zur Verfügung gestellt hat.
Im Text mischen sich litauische Elemente mit russischen und japanischen, und Sie haben das alles ins Deutsche übersetzt, ohne Scheu davor, auch mal fremdsprachige Wörter und Ausdrücke zu integrieren. Wie sind Sie da beim Übersetzen vorgegangen?
Das litauische Original enthält russische Wörter in litauischer Schreibweise – quasi gehört durch die Ohren der litauischen Deportierten, die anfangs ja ebenso wenig Russisch verstehen wie die deutschen Leser. Nun habe ich ja eigentlich Slawistik im Hauptfach und Baltistik im Nebenfach studiert, bevor ich mich als Übersetzerin ganz in dieser kleinen sprachlichen Nische eingerichtet habe. Die russischen Wörter konnte ich also aus eigener Kraft übertragen. Aber um den kulturellen Abstand vom Russischen zum Deutschen zu überbrücken und die im Original nicht-litauischen Teile kenntlich zu machen, haben wir uns dafür entschieden, diese Teile zusätzlich fett zu setzen und die Übersetzung im Kontext hinzuzufügen, um den größeren kulturellen Abstand zwischen dem Russischen und dem Deutschen zu überbrücken. Beim Japanischen musste ich mich ganz auf die Sachkenntnis anderer verlassen und habe dabei selbst noch einiges gelernt.
Der Titel des Buchs lautet übersetzt „Sibirisches Haiku“, und die japanischen Kurzgedichte spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte. Haben Sie sich beim Übersetzen auch von Haikus inspirieren lassen?
Ich hatte bisher nur sporadischen Kontakt zu Haikus, habe mich vor vielen Jahren auch einmal selbst daran versucht, aber bin nicht weit gekommen. Überraschenderweise erwies sich meine Verlegerin Sonja Matheson als Kennerin der Materie; sie kann selbst Japanisch und konnte die zitierten Haikus historisch einordnen und beim Finden guter vorhandener Übersetzungen helfen.
Man kann aber sagen, dass ich mich bei der Übersetzung des litauischen Textes an das Vorbild halten musste, das die knappe und doch inhaltsreiche Sprache der Haikus vorgibt. Das Litauische kennt keine Artikel und drückt viel Inhalt in kurzen grammatischen Elementen aus, daher braucht eine deutsche Übersetzung normalerweise etwa ein Fünftel mehr Platz als das Original. Die Übersetzung musste allein deshalb schon auf ein Minimum „kondensiert“ werden, damit Lina Itagaki alles in den vorhandenen Sprechblasen unterbringen konnte. Das war noch einmal ein großes Stück Arbeit für sie, alle Sprechtexte von Hand in das Layout einzufügen, ohne selbst Deutsch zu können. Ich sehe die Arbeit an dieser Übersetzung also auch als gelungenes Teamwork und als gemeinsamen Erfolg.