Über­set­zung des Monats: Neun­zehn Arten Wang Wei zu betrachten

Eliot Weinberger ist ein versierter und rühriger Übersetzer – seine deutsche Stimme Beatrice Faßbender steht ihm aber in nichts nach, wie sie in unserer Übersetzung des Monats unter Beweis stellt. Von

Die Neun­zehn Arten Wang Wei zu betrach­ten füh­ren uns die Viel­falt der über­set­ze­ri­schen Kunst vor Augen und bewei­sen neben­bei, dass zu einer bril­lan­ten Über­set­zung immer auch sou­ve­rä­ne Zurück­hal­tung gehört.
Über­set­zung des Monats Februar
Titel

Neun­zehn Arten Wang Wei zu betrachten

Autor

Eli­ot Weinberger

Über­setzt von

Bea­tri­ce Faßbender

Ori­gi­nal­spra­che

Eng­lisch

Ori­gi­nal­ti­tel

19 Ways of Loo­king at Wang Wei

Link zur Verlagsseite

www.berenberg-verlag.de/programm/neunzehn-arten-wang-wei-zu-betrachten/

Über die (Un-)Möglichkeit einer fun­dier­ten Über­set­zungs­kri­tik gibt es immer wie­der Debat­ten – nicht zuletzt bei TraLaLit. Zwi­schen­fa­zit: Es gibt hier und da Ver­su­che, mal mehr, mal weni­ger ambi­tio­nier­te, aber Über­set­zungs­kri­tik im gro­ßen Maß­stab fin­det man weder im deutsch- noch im fremd­spra­chi­gen Feuil­le­ton. Zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Kenntnis.

Unter die­sen Umstän­den ist es nicht weni­ger als spek­ta­ku­lär, dass mit Neun­zehn Arten Wang Wei zu betrach­ten nun eine buch­lan­ge Über­set­zungs­kri­tik auf dem deut­schen Markt erschie­nen ist, wie es sie hier­zu­lan­de noch nicht gege­ben hat. Auf knapp 100 Sei­ten beschreibt der ame­ri­ka­ni­sche Über­set­zer und Essay­ist Eli­ot Wein­ber­ger 27 ver­schie­de­ne Über­tra­gun­gen eines alt­chi­ne­si­schen Gedich­tes, das im Ori­gi­nal aus nicht mehr als 22 Schrift­zei­chen besteht.

In sei­nem 1987 erst­ma­lig und dann 2016 in erwei­ter­ter Aus­ga­be erschie­ne­nen Essay unter­sucht Wein­ber­ger ins­ge­samt 29 Fas­sun­gen die­ses Gedichts: Auf die chi­ne­si­sche Ur-Fas­sung und ihre Pinyin-Trans­li­te­ra­ti­on, wie sie auch im oben ein­ge­bun­de­nen Video zu sehen sind, folgt zunächst eine genaue Zeichen-für-Zeichen-Übersetzung:

© Beren­berg Ver­lag 2019

Aus­ge­hend von die­ser rohes­ten Roh­über­set­zung, die man sich den­ken kann, unter­zieht er Kapi­tel für Kapi­tel wei­te­re über­setz­te Fas­sun­gen die­ses Gedich­tes, die sich teil­wei­se weit vom Ori­gi­nal­text ent­fer­nen, einer Prü­fung und lotet neben­bei die Kunst der Über­set­zung bis in ihre tiefs­ten Tie­fen aus.

Die Kunst der Über­set­zung ins ame­ri­ka­ni­sche Eng­lisch, soll­te man bes­ser sagen. Ken­neth Rex­roths Fas­sung des Gedichts aus dem Jahr 1970 hält Wein­ber­ger für „ein­deu­tig das ers­te ech­te Gedicht der Grup­pe“ („cle­ar­ly the first real poem of the group“), und zwar mit fol­gen­der Begründung:

It is the clo­sest to the spi­rit, though not the let­ter, of the ori­gi­nal: the poem Wang might have writ­ten had he been born a 20th-cen­tu­ry American.
Es ent­spricht dem Geist des Ori­gi­nals am ehes­ten, wenn auch nicht dem Wort­sinn: das Gedicht, das Wang viel­leicht geschrie­ben hät­te, wäre er im 20. Jahr­hun­dert als Ame­ri­ka­ner auf die Welt gekommen.

Wein­ber­gers Favo­ri­ten sind die Gedich­te, die vor der Lyrik ihrer eige­nen Ent­ste­hungs­zeit bestehen kön­nen. Auch wenn das Ori­gi­nal über 1000 Jah­re alt ist, hält er nichts von his­to­ri­sie­ren­der Sprache.

Die­se For­de­rung unbe­ding­ter Aktua­li­tät darf man aber nicht miss­ver­ste­hen. Für Wein­ber­ger ist sie immer aus­zu­ba­lan­cie­ren mit einem zwei­ten, min­des­tens genau so wich­ti­gen Wert:

In its way a spi­ri­tu­al exer­cise, trans­la­ti­on is depen­dent on the dis­so­lu­ti­on of the translator’s ego: an abso­lu­te humi­li­ty toward the text. A bad trans­la­ti­on is the insis­tent voice of the translator—that is, when one sees no poet and hears only the trans­la­tor speaking.
Über­set­zung – eine eige­ne Art spi­ri­tu­el­ler Übung – hängt von der Auf­lö­sung des Über­set­zer-Egos ab: eine unbe­ding­te Demut vor dem Text. Eine schlech­te Über­set­zung ist die auf­dring­li­che Stim­me des Über­set­zers – das heißt, wenn man kei­nen Dich­ter sieht und nur den Über­set­zer spre­chen hört.

Bei so viel über­set­zungs­theo­re­ti­schem Bal­last schon im Ori­gi­nal­text ist die Leis­tung von Bea­tri­ce Faß­ben­der, Wein­ber­gers deut­scher Stim­me, kaum hoch genug zu bewer­ten. Ihre Über­set­zung kommt – ganz im Sin­ne Wein­ber­gers – demü­tig daher. Auch wenn sie die Neun­zehn Arten auch auf Deutsch zu einem höchst lesens­wer­ten und instruk­ti­ven Büch­lein macht, ist ihre beson­de­re Leis­tung erst auf den zwei­ten Blick in vol­lem Umfang erkenn­bar. Schon im ers­ten Satz des Tex­tes, gewis­ser­ma­ßen Wein­ber­gers Vor­wort, weist sie auf­merk­sa­me Leser auf ihr über­set­ze­ri­sches Pro­gramm hin:

Poet­ry is that which is worth translating.
Dich­tung ist das, was wert ist, über­setzt zu werden.

Faß­ben­der dreht mit der Wahl des Pas­sivs die Per­spek­ti­ve die­ser Ein­gangs­sen­tenz sub­til um. Denn wört­lich müss­te man akti­visch übersetzen:

Dich­tung ist das, was wert ist, dass man es übersetzt.

Für Wein­ber­gers eng­li­schen Text ist das Aktiv die sinn­vol­le Per­spek­ti­ve, denn Wein­ber­ger schaut als ame­ri­ka­ni­scher Über­set­zer gewis­ser­ma­ßen in die glei­che Rich­tung wie die Kol­le­gen (es sind fast nur Män­ner), die er kri­tisch beur­teilt. Faß­ben­der aber ist Deut­sche. Ihr sind die eng­li­schen Gedich­te im Grun­de genau­so fremd wie das chi­ne­si­sche Ori­gi­nal, sie schaut aus der Fremd­spra­che her­aus auf Wein­ber­gers anglo­pho­ne Übun­gen. Als Über­set­ze­rin des Über­set­zers (in luh­mann­schem Voka­bu­lar: als Beob­ach­te­rin des Beob­ach­ters) hat sie eine Auf­ga­be zwei­ter Ord­nung. Wein­ber­ger blickt auf „Nine­teen Ways of Loo­king at Wang Wei“, Faß­ben­der blickt auf Wein­ber­gers Blick auf die­se „Nine­teen Ways“. (Man hät­te das deut­sche Buch also gut „Eine Art, neun­zehn Arten Wang Wei zu betrach­ten, zu betrach­ten“ nen­nen können.)

Die­se muti­ge – ja: ein­zig­ar­ti­ge – Ent­schei­dung gereicht Faß­ben­der zur Ehre. Denn so löst sich ein ansons­ten unlös­ba­res Dilem­ma ele­gant in Luft auf: Was tun mit den zahl­rei­chen im Buch zitier­ten Über­set­zun­gen des Gedichts? Man muss sie über­set­zen, schließ­lich will man kei­ne fort­ge­schrit­te­nen Eng­lisch­kennt­nis­se bei der deut­schen Leser­schaft (für die man schließ­lich über­setzt) vor­aus­set­zen. Aber wie?

Faß­ben­der ent­schei­det sich für den ein­zig erfolg­ver­spre­chen­den Ansatz. Sie ver­sucht gar nicht erst, sich mit den eng­lisch­spra­chi­gen Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern zu mes­sen und im Deut­schen eine glanz­vol­le, poe­ti­sche Über­set­zung nach der ande­ren zu pro­du­zie­ren. Hät­te man eit­le­ren Über­set­zern die­se Auf­ga­be über­tra­gen, wäre so etwas wohl das Ergeb­nis gewe­sen. Da Faß­ben­ders Inter­es­se aber Wein­ber­gers Urtei­len gilt, schafft sie nüch­ter­ne, illus­tra­ti­ve Über­set­zun­gen der eng­li­schen Über­set­zun­gen des chi­ne­si­schen Gedich­tes, selbst da, wo ihre eng­li­schen Kol­le­gen glänzen:

Deep in the moun­tain wilderness
Whe­re nobo­dy ever comes
Only once in a gre­at while
Some­thing like the sound of a far off voice.
The low rays of the sun
Slip through the dark forest,
and gleam again on the shadowy moss.
Tief in der Bergwildnis
Wohin nie­mand jemals kommt
Nur hin und wieder
Etwa der Klang einer fer­nen Stimme.
Die tie­fen Strah­len der Sonne
Schlüp­fen durch den dunk­len Wald,
Und leuch­ten wie­der auf dem schat­ti­gen Moos.

Dies ist die Über­set­zung von Ken­neth Rex­roth, über die Wein­ber­ger, wie oben zitiert, im dar­auf­fol­gen­den Absatz urtei­len wird, es sei „das Gedicht, das Wang viel­leicht geschrie­ben hät­te, wäre er im 20. Jahr­hun­dert als Ame­ri­ka­ner auf die Welt gekom­men“. Über Faß­ben­ders Rex­roth-Über­set­zung wird man sicher­lich nicht sagen, Wang habe es geschrie­ben, wenn er im spä­ten 20. Jahr­hun­dert als Deut­scher auf die Welt gekom­men wäre. Noch nicht ein­mal wird man behaup­ten, es sei die Über­set­zung, die Ken­neth Rex­roth pro­du­ziert hät­te, wäre er  1972 in der Nähe von Ham­burg zur Welt gekom­men. Aber weder das eine noch das ande­re ver­sucht Faß­ber­ger hier. Ihr geht es nicht dar­um, selbst zu glän­zen, son­dern Wein­ber­gers Ana­ly­se zum Glän­zen zu bringen.

Wür­fe man nur einen ober­fläch­li­chen Blick auf Faß­ben­ders oft wört­li­che, schmuck­lo­se Gedicht­über­set­zun­gen, so könn­te man sie für mut­lo­se Pflicht­übun­gen hal­ten. Das wäre aber fatal. Denn nicht nur aus Wein­ber­gers Ana­ly­sen, auch aus Faß­ben­ders sub­til-bril­lan­ter Über­set­zung kann man in die­sem Büch­lein eine gan­ze Men­ge lernen.

Die gan­ze Sou­ve­rä­ni­tät der Über­set­ze­rin, die genau weiß, was sie tut, beweist sie in den poin­tier­ten Gedicht­fas­sun­gen, die immer auf Wein­ber­gers Ana­ly­sen abge­stimmt sind, in der ziel­si­che­ren Über­set­zung von Wein­ber­gers eigen­tüm­li­cher Pro­sa, vor allem aber im – aus Anlass der deut­schen Aus­ga­be ent­stan­de­nen – Anhang. Hier­für hat sie elf deutsch­spra­chi­ge Lyri­ke­rin­nen und Lyri­ker gewon­nen, Wein­ber­gers Spiel mit Wang Wei auf­zu­grei­fen und neue, eige­ne, deut­sche Inter­pre­ta­tio­nen des Gedichts, aber auch der wein­ber­ger­schen Kom­men­ta­re zu schaf­fen. Die­ses abschlie­ßen­de Kapi­tel greift das Anlie­gen des Buches so vir­tu­os auf und wickelt es um sich selbst, dass einem vor lau­ter Bewun­de­rung für die­se Leis­tung von Über­set­ze­rin und Ver­lag die Wor­te feh­len. Wenn jedes Buch so ins Deut­sche über­setzt wür­de wie die­ses, bräuch­te nie­mand mehr Fremd­spra­chen zu lernen.

Drei Fra­gen an Bea­tri­ce Faßbender

Es gilt als unschön, aus Über­set­zun­gen zu über­set­zen. Sie haben für die­ses Buch gleich seri­en­wei­se eng­li­sche Über­set­zun­gen eines chi­ne­si­schen Gedichts ins Deut­sche gebracht. Haben Sie gezö­gert, sich die­ser Her­aus­for­de­rung zu stel­len, und war­um haben Sie sich letzt­end­lich dafür entschieden?

Ich ken­ne das Buch seit Jah­ren und woll­te es schon lan­ge über­set­zen. In Mexi­ko ist bereits in den 1980er Jah­ren eine Über­set­zung erschie­nen, daher hat­te ich kei­ne Zwei­fel, dass es funk­tio­niert. Die Über­set­zung der Über­set­zung erfüllt hier ja einen ganz spe­zi­el­len Zweck – es geht dar­um, Wein­ber­gers Kri­tik oder Lob nach­voll­zieh­bar zu machen. Anders als bei ande­ren Gedicht­über­set­zun­gen habe ich daher bei­spiels­wei­se kaum auf den Klang im Deut­schen geach­tet. Es sind zwar kei­ne Inter­li­ne­ar­über­set­zun­gen, aber doch eher Lese­hil­fen als wirk­li­che Gedichtübertragungen.

Eli­ot Wein­ber­ger ist ja sel­ber auch Über­set­zer. Hat er auf Ihre Arbeit Ein­fluss genommen?
Grund­sätz­lich fra­ge ich „mei­ne“ Autorin­nen und Autoren bei allen Zwei­fels­fäl­len gern und aus­führ­lich, so auch Eli­ot Wein­ber­ger. Bei die­sem Buch aller­dings hat­te ich nur sehr weni­ge Fra­gen. Anders­her­um konn­te ich Wein­ber­ger aller­dings behilf­lich sein: Für die erwei­ter­te Neu­aus­ga­be von Nine­teen Ways of Loo­king at Wang Wei (2016), auf der auch unse­re deut­sche Aus­ga­be basiert, habe ich für ihn eini­ge deut­sche Über­set­zun­gen recher­chiert. Von der Idee, hie­si­ge Lyri­ke­rin­nen und Lyri­ker um neue Über­tra­gun­gen zu bit­ten, war Eli­ot sofort begeis­tert, und so haben wir es dann gemacht. (Es ist übri­gens gera­de­zu drol­lig, wie man­che Leser, die sich mit dem Chi­ne­si­schen aus­ken­nen, die­sen letz­ten Anhang nicht als das ver­ste­hen, was er ist: eine poe­ti­sche und spie­le­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Wang Weis Gedicht, Wein­ber­gers Essay und dem The­ma Über­set­zung über­haupt. Hier drängt sich die über­set­zen­de Dich­ter­stim­me oft in den Vor­der­grund, und genau das ist auch beab­sich­tigt.) Indi­rekt aller­dings hat Wein­ber­ger mei­ne Arbeit als Über­set­ze­rin von Anfang an beein­flusst. Noch bevor ich selbst mit dem Über­set­zen ange­fan­gen habe, kann­te ich die­ses Buch, sei­nen Essay über das Über­set­zen, Anony­mous Sources, sei­ne Antho­lo­gie chi­ne­si­scher Lyrik (mit Über­set­zun­gen u. a. von Ezra Pound, Gary Sny­der, Ken­neth Rex­roth) und vor allem sei­ne eige­nen, wun­der­ba­ren Über­set­zun­gen ins Eng­li­sche. Das alles hat mich zwei­fel­los geprägt.

Sie haben die­ses eine Gedicht jetzt 27-mal ins Deut­sche über­setzt. Haben Sie auch eine eige­ne Faß­ben­der-Fas­sung? Wenn nein: Wel­che der deut­schen Fas­sun­gen im Buch gefällt Ihnen per­sön­lich am besten?
Nein, eine eige­ne Fas­sung habe ich nicht, noch nicht ein­mal ver­sucht! Bei den eng­li­schen Ori­gi­na­len gefal­len mir Gary Sny­der (unter ande­rem wegen des Moo­ses oben im Baum, was ein so kla­res Bild ergibt) und David Hin­tons zwei­te Fas­sung beson­ders gut, bei den deut­schen Nach­dich­tun­gen wird es schwie­rig. Die Viel­falt der poe­ti­schen Per­spek­ti­ven begeis­tert mich, ich hät­te zu gern noch wei­te­re Autorin­nen und Autoren um ihre Fas­sung gebe­ten. Moni­ka Rincks „durch­lich­ten“ fin­de ich hin­rei­ßend, Ulja­na Wolfs Fas­sung samt dem poe­to­lo­gi­schen Kom­men­tar en minia­tu­re („Alle Anga­ben ohne Geweih“!) eben­falls. Und bei künf­ti­gen Petrar­ca-Lek­tü­ren wird mir nun (dank Micha­el Krü­ger) immer auch Wang Wei im Kopf herumspuken.

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