Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten
Eliot Weinberger
Beatrice Faßbender
Englisch
19 Ways of Looking at Wang Wei
www.berenberg-verlag.de/programm/neunzehn-arten-wang-wei-zu-betrachten/
Über die (Un-)Möglichkeit einer fundierten Übersetzungskritik gibt es immer wieder Debatten – nicht zuletzt bei TraLaLit. Zwischenfazit: Es gibt hier und da Versuche, mal mehr, mal weniger ambitionierte, aber Übersetzungskritik im großen Maßstab findet man weder im deutsch- noch im fremdsprachigen Feuilleton. Zu wenig Platz, zu wenig Zeit, zu wenig Kenntnis.
Unter diesen Umständen ist es nicht weniger als spektakulär, dass mit Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten nun eine buchlange Übersetzungskritik auf dem deutschen Markt erschienen ist, wie es sie hierzulande noch nicht gegeben hat. Auf knapp 100 Seiten beschreibt der amerikanische Übersetzer und Essayist Eliot Weinberger 27 verschiedene Übertragungen eines altchinesischen Gedichtes, das im Original aus nicht mehr als 22 Schriftzeichen besteht.
In seinem 1987 erstmalig und dann 2016 in erweiterter Ausgabe erschienenen Essay untersucht Weinberger insgesamt 29 Fassungen dieses Gedichts: Auf die chinesische Ur-Fassung und ihre Pinyin-Transliteration, wie sie auch im oben eingebundenen Video zu sehen sind, folgt zunächst eine genaue Zeichen-für-Zeichen-Übersetzung:
Ausgehend von dieser rohesten Rohübersetzung, die man sich denken kann, unterzieht er Kapitel für Kapitel weitere übersetzte Fassungen dieses Gedichtes, die sich teilweise weit vom Originaltext entfernen, einer Prüfung und lotet nebenbei die Kunst der Übersetzung bis in ihre tiefsten Tiefen aus.
Die Kunst der Übersetzung ins amerikanische Englisch, sollte man besser sagen. Kenneth Rexroths Fassung des Gedichts aus dem Jahr 1970 hält Weinberger für „eindeutig das erste echte Gedicht der Gruppe“ („clearly the first real poem of the group“), und zwar mit folgender Begründung:
It is the closest to the spirit, though not the letter, of the original: the poem Wang might have written had he been born a 20th-century American.Es entspricht dem Geist des Originals am ehesten, wenn auch nicht dem Wortsinn: das Gedicht, das Wang vielleicht geschrieben hätte, wäre er im 20. Jahrhundert als Amerikaner auf die Welt gekommen.
Weinbergers Favoriten sind die Gedichte, die vor der Lyrik ihrer eigenen Entstehungszeit bestehen können. Auch wenn das Original über 1000 Jahre alt ist, hält er nichts von historisierender Sprache.
Diese Forderung unbedingter Aktualität darf man aber nicht missverstehen. Für Weinberger ist sie immer auszubalancieren mit einem zweiten, mindestens genau so wichtigen Wert:
In its way a spiritual exercise, translation is dependent on the dissolution of the translator’s ego: an absolute humility toward the text. A bad translation is the insistent voice of the translator—that is, when one sees no poet and hears only the translator speaking.Übersetzung – eine eigene Art spiritueller Übung – hängt von der Auflösung des Übersetzer-Egos ab: eine unbedingte Demut vor dem Text. Eine schlechte Übersetzung ist die aufdringliche Stimme des Übersetzers – das heißt, wenn man keinen Dichter sieht und nur den Übersetzer sprechen hört.
Bei so viel übersetzungstheoretischem Ballast schon im Originaltext ist die Leistung von Beatrice Faßbender, Weinbergers deutscher Stimme, kaum hoch genug zu bewerten. Ihre Übersetzung kommt – ganz im Sinne Weinbergers – demütig daher. Auch wenn sie die Neunzehn Arten auch auf Deutsch zu einem höchst lesenswerten und instruktiven Büchlein macht, ist ihre besondere Leistung erst auf den zweiten Blick in vollem Umfang erkennbar. Schon im ersten Satz des Textes, gewissermaßen Weinbergers Vorwort, weist sie aufmerksame Leser auf ihr übersetzerisches Programm hin:
Poetry is that which is worth translating.Dichtung ist das, was wert ist, übersetzt zu werden.
Faßbender dreht mit der Wahl des Passivs die Perspektive dieser Eingangssentenz subtil um. Denn wörtlich müsste man aktivisch übersetzen:
Dichtung ist das, was wert ist, dass man es übersetzt.
Für Weinbergers englischen Text ist das Aktiv die sinnvolle Perspektive, denn Weinberger schaut als amerikanischer Übersetzer gewissermaßen in die gleiche Richtung wie die Kollegen (es sind fast nur Männer), die er kritisch beurteilt. Faßbender aber ist Deutsche. Ihr sind die englischen Gedichte im Grunde genauso fremd wie das chinesische Original, sie schaut aus der Fremdsprache heraus auf Weinbergers anglophone Übungen. Als Übersetzerin des Übersetzers (in luhmannschem Vokabular: als Beobachterin des Beobachters) hat sie eine Aufgabe zweiter Ordnung. Weinberger blickt auf „Nineteen Ways of Looking at Wang Wei“, Faßbender blickt auf Weinbergers Blick auf diese „Nineteen Ways“. (Man hätte das deutsche Buch also gut „Eine Art, neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten, zu betrachten“ nennen können.)
Diese mutige – ja: einzigartige – Entscheidung gereicht Faßbender zur Ehre. Denn so löst sich ein ansonsten unlösbares Dilemma elegant in Luft auf: Was tun mit den zahlreichen im Buch zitierten Übersetzungen des Gedichts? Man muss sie übersetzen, schließlich will man keine fortgeschrittenen Englischkenntnisse bei der deutschen Leserschaft (für die man schließlich übersetzt) voraussetzen. Aber wie?
Faßbender entscheidet sich für den einzig erfolgversprechenden Ansatz. Sie versucht gar nicht erst, sich mit den englischsprachigen Übersetzerinnen und Übersetzern zu messen und im Deutschen eine glanzvolle, poetische Übersetzung nach der anderen zu produzieren. Hätte man eitleren Übersetzern diese Aufgabe übertragen, wäre so etwas wohl das Ergebnis gewesen. Da Faßbenders Interesse aber Weinbergers Urteilen gilt, schafft sie nüchterne, illustrative Übersetzungen der englischen Übersetzungen des chinesischen Gedichtes, selbst da, wo ihre englischen Kollegen glänzen:
Deep in the mountain wilderness
Where nobody ever comes
Only once in a great while
Something like the sound of a far off voice.
The low rays of the sun
Slip through the dark forest,
and gleam again on the shadowy moss.Tief in der Bergwildnis
Wohin niemand jemals kommt
Nur hin und wieder
Etwa der Klang einer fernen Stimme.
Die tiefen Strahlen der Sonne
Schlüpfen durch den dunklen Wald,
Und leuchten wieder auf dem schattigen Moos.
Dies ist die Übersetzung von Kenneth Rexroth, über die Weinberger, wie oben zitiert, im darauffolgenden Absatz urteilen wird, es sei „das Gedicht, das Wang vielleicht geschrieben hätte, wäre er im 20. Jahrhundert als Amerikaner auf die Welt gekommen“. Über Faßbenders Rexroth-Übersetzung wird man sicherlich nicht sagen, Wang habe es geschrieben, wenn er im späten 20. Jahrhundert als Deutscher auf die Welt gekommen wäre. Noch nicht einmal wird man behaupten, es sei die Übersetzung, die Kenneth Rexroth produziert hätte, wäre er 1972 in der Nähe von Hamburg zur Welt gekommen. Aber weder das eine noch das andere versucht Faßberger hier. Ihr geht es nicht darum, selbst zu glänzen, sondern Weinbergers Analyse zum Glänzen zu bringen.
Würfe man nur einen oberflächlichen Blick auf Faßbenders oft wörtliche, schmucklose Gedichtübersetzungen, so könnte man sie für mutlose Pflichtübungen halten. Das wäre aber fatal. Denn nicht nur aus Weinbergers Analysen, auch aus Faßbenders subtil-brillanter Übersetzung kann man in diesem Büchlein eine ganze Menge lernen.
Die ganze Souveränität der Übersetzerin, die genau weiß, was sie tut, beweist sie in den pointierten Gedichtfassungen, die immer auf Weinbergers Analysen abgestimmt sind, in der zielsicheren Übersetzung von Weinbergers eigentümlicher Prosa, vor allem aber im – aus Anlass der deutschen Ausgabe entstandenen – Anhang. Hierfür hat sie elf deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker gewonnen, Weinbergers Spiel mit Wang Wei aufzugreifen und neue, eigene, deutsche Interpretationen des Gedichts, aber auch der weinbergerschen Kommentare zu schaffen. Dieses abschließende Kapitel greift das Anliegen des Buches so virtuos auf und wickelt es um sich selbst, dass einem vor lauter Bewunderung für diese Leistung von Übersetzerin und Verlag die Worte fehlen. Wenn jedes Buch so ins Deutsche übersetzt würde wie dieses, bräuchte niemand mehr Fremdsprachen zu lernen.
Drei Fragen an Beatrice Faßbender
Es gilt als unschön, aus Übersetzungen zu übersetzen. Sie haben für dieses Buch gleich serienweise englische Übersetzungen eines chinesischen Gedichts ins Deutsche gebracht. Haben Sie gezögert, sich dieser Herausforderung zu stellen, und warum haben Sie sich letztendlich dafür entschieden?
Ich kenne das Buch seit Jahren und wollte es schon lange übersetzen. In Mexiko ist bereits in den 1980er Jahren eine Übersetzung erschienen, daher hatte ich keine Zweifel, dass es funktioniert. Die Übersetzung der Übersetzung erfüllt hier ja einen ganz speziellen Zweck – es geht darum, Weinbergers Kritik oder Lob nachvollziehbar zu machen. Anders als bei anderen Gedichtübersetzungen habe ich daher beispielsweise kaum auf den Klang im Deutschen geachtet. Es sind zwar keine Interlinearübersetzungen, aber doch eher Lesehilfen als wirkliche Gedichtübertragungen.
Eliot Weinberger ist ja selber auch Übersetzer. Hat er auf Ihre Arbeit Einfluss genommen?
Grundsätzlich frage ich „meine“ Autorinnen und Autoren bei allen Zweifelsfällen gern und ausführlich, so auch Eliot Weinberger. Bei diesem Buch allerdings hatte ich nur sehr wenige Fragen. Andersherum konnte ich Weinberger allerdings behilflich sein: Für die erweiterte Neuausgabe von Nineteen Ways of Looking at Wang Wei (2016), auf der auch unsere deutsche Ausgabe basiert, habe ich für ihn einige deutsche Übersetzungen recherchiert. Von der Idee, hiesige Lyrikerinnen und Lyriker um neue Übertragungen zu bitten, war Eliot sofort begeistert, und so haben wir es dann gemacht. (Es ist übrigens geradezu drollig, wie manche Leser, die sich mit dem Chinesischen auskennen, diesen letzten Anhang nicht als das verstehen, was er ist: eine poetische und spielerische Auseinandersetzung mit Wang Weis Gedicht, Weinbergers Essay und dem Thema Übersetzung überhaupt. Hier drängt sich die übersetzende Dichterstimme oft in den Vordergrund, und genau das ist auch beabsichtigt.) Indirekt allerdings hat Weinberger meine Arbeit als Übersetzerin von Anfang an beeinflusst. Noch bevor ich selbst mit dem Übersetzen angefangen habe, kannte ich dieses Buch, seinen Essay über das Übersetzen, Anonymous Sources, seine Anthologie chinesischer Lyrik (mit Übersetzungen u. a. von Ezra Pound, Gary Snyder, Kenneth Rexroth) und vor allem seine eigenen, wunderbaren Übersetzungen ins Englische. Das alles hat mich zweifellos geprägt.
Sie haben dieses eine Gedicht jetzt 27-mal ins Deutsche übersetzt. Haben Sie auch eine eigene Faßbender-Fassung? Wenn nein: Welche der deutschen Fassungen im Buch gefällt Ihnen persönlich am besten?
Nein, eine eigene Fassung habe ich nicht, noch nicht einmal versucht! Bei den englischen Originalen gefallen mir Gary Snyder (unter anderem wegen des Mooses oben im Baum, was ein so klares Bild ergibt) und David Hintons zweite Fassung besonders gut, bei den deutschen Nachdichtungen wird es schwierig. Die Vielfalt der poetischen Perspektiven begeistert mich, ich hätte zu gern noch weitere Autorinnen und Autoren um ihre Fassung gebeten. Monika Rincks „durchlichten“ finde ich hinreißend, Uljana Wolfs Fassung samt dem poetologischen Kommentar en miniature („Alle Angaben ohne Geweih“!) ebenfalls. Und bei künftigen Petrarca-Lektüren wird mir nun (dank Michael Krüger) immer auch Wang Wei im Kopf herumspuken.