In der Reihe „Mein erstes Mal“ berichten Übersetzer:innen von ihrer ersten literarischen Übersetzung. Sie plaudern aus dem Nähkästchen, berichten von den Leiden des jungen Übersetzer:innenlebens und verraten, in welche Falle man als Anfänger:in bloß nicht tappen sollte. Alle Beiträge der Reihe sind hier nachzulesen.
„Mein erstes Mal“ liegt schon eine ganze Weile zurück. Trotzdem will ich versuchen, meinen Einstieg ins Literaturübersetzerinnendasein so gut wie möglich aus der damaligen Perspektive zu schildern.
Ich habe in Mainz und Freiburg u. a. Romanistik und Skandinavistik studiert und dabei Französisch und Norwegisch als Hauptsprachen gewählt. Schon während des Studiums stellte sich die Frage, was man mit dieser Kombination beruflich anfangen könnte. Als ich in den universitären Übersetzungskursen entdeckte, wie viel Spaß es mir macht, literarischen Texten von einer Sprache in die andere zu verhelfen, Formulierungen hin- und herzudrehen, bis sie mir passend erschienen und ich mich beglückt dem nächsten Satz zuwenden konnte, war die Entscheidung gefallen. Doch dann stand ich vor dem Problem: Wie werde ich Literaturübersetzerin bzw. wie komme ich an einen Auftrag? Ziemlich rasch wurde ich auf den Freiburger Übersetzerstammtisch aufmerksam und von den erfahrenen Kolleg:innen sehr herzlich aufgenommen. Sie hatten sogar eine Übersetzerwerkstatt, in der knifflige Stellen aus aktuellen Übersetzungen diskutiert und im besten Fall gemeinsam gelöst wurden. Bei beiden Veranstaltungen wurde ich mit vielen Tipps versorgt. Einer bestand darin, mir doch ein Herzensprojekt zu suchen, das ich Verlagen aktiv anbieten könnte.
Während eines Studienaufenthalts in Oslo wurde ich dann auf Per Petterson aufmerksam und konnte vor Ort erste Kontakte zu seinem Verlag und auch zu Norla – einer Agentur, die Übersetzungen norwegischer Literatur fördert – knüpfen. Im gleichen Jahr fuhr ich zur Frankfurter Buchmesse und begab mich schnurstracks zu seinem norwegischen Verlag. Dort erfuhr ich, dass Petterson gerade einen neuen Roman herausgebracht hatte und mehrere deutsche Verlage interessiert seien. Die Ansprechpartner:innen und Adressen sowie ein Buchexemplar bekam ich vom Verlag gleich mit. Ich muss dazusagen, wir sprechen von einer Zeit, in der es das Internet quasi noch nicht gab, weshalb es nicht leicht gewesen wäre, ohne Hilfe an solche Informationen zu kommen.
So eingedeckt, bot ich den entsprechenden Verlagen per Brief an, ein Gutachten zu Pettersons neuem Roman zu schreiben, und bekam vom Carl Hanser Verlag tatsächlich den Auftrag. Ich feilte ein paar Tage an dem Text und schickte ihn dann mit Herzklopfen los. Wenige Wochen später rief ich im Verlag an und erfuhr, dass sie die deutschsprachige Lizenz erworben hatten. Ich war völlig aus dem Häuschen und vermutlich gerade deswegen überhaupt nicht auf die Frage der Lektorin vorbereitet: „Sie waren ja diejenige, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat, weshalb ich Ihnen die Übersetzung gern geben würde. Was haben Sie denn bisher schon übersetzt?“ Wahrheitsgemäß räumte ich ein, dass ich noch keine literarische Übersetzung vorzuweisen hätte, und erfuhr, man habe doch Bedenken, einen derart literarischen Text einer Anfängerin zu geben. In meiner Verzweiflung über diese unerfreuliche Wendung bot ich spontan an, eine Probeübersetzung anzufertigen, worauf sich die Lektorin auch einließ.
Per Petterson, dessen Stil man vielleicht in die Kategorie Poetischer Realismus einordnen könnte, zeichnet sich durch eine sehr dichte, eng an mündliche Erzähltraditionen angelehnte Sprache aus. Bei ihm sitzt jedes Wort, und es ist trotz der vermeintlichen Schlichtheit der Sprache nicht einfach, sie in adäquates Deutsch zu übertragen. Dass Petterson überdies mit einfachsten Mitteln sehr bildstarke Szenen heraufzubeschwören vermag, hebt ihn auf eine Stufe mit großen Autor:innen, was sich in den zahlreichen, auch internationalen Preisen widerspiegelt, mit denen er mittlerweile bedacht wurde.
Mit viel Elan setzte ich mich also an die ersten Seiten des Romans und ging sie gefühlt hundert Mal durch. Auch bat ich eine Freundin, den Text gegenzulesen, und schickte ihn ab. Danach hörte ich erst mal nichts und erfuhr auf Nachfrage, dass der Text wohl nicht überzeugt habe. Ich war am Boden zerstört. So weit war ich schon gekommen, und dann sollte hier Schluss sein? Die Lektorin, der ich vermutlich leidtat, versuchte dann doch noch, mir eine Tür zu öffnen: „Kennen Sie keinen erfahrenen Kollegen, mit dem Sie das Buch zusammen übersetzen könnten?“ Kannte ich nicht. Und wie stellte sie sich das vor? Sollte ich jemand Wildfremden anschreiben und fragen, ob er oder sie zusammen mit mir – einer blutigen Anfängerin – eine literarische Übersetzung übernehmen wolle? Was sollte jemanden dazu bewegen, dies zu tun? So dachte ich damals und fügte mich entmutigt und geknickt in mein Schicksal.
Genau zu dem Zeitpunkt entdeckte ich die Ausschreibung für ein Bertelsmann-Seminar, das sich an künftige Literaturübersetzer:innen aus dem Norwegischen und Dänischen wandte. Ohne zu zögern, bewarb ich mich und wurde zugelassen. Und so durfte ich zusammen mit elf weiteren Nachwuchsübersetzer:innen eine ganze Woche lang über Texten brüten und mir Gedanken darüber machen, ob man eine Erzählung eher mit den Worten „Es waren viele gekommen, die Kränze niederlegten“ oder „Es gab viele, die Kränze niederlegten“ oder „Viele Menschen legten Kränze nieder“ oder „Viele legten Kränze nieder“ beginnen sollte. Und allen war es mit diesen Überlegungen sehr ernst, denn wir wussten um die Wichtigkeit solcher Entscheidungen und fühlten uns unter Gleichgesinnten, auch wenn wir uns keineswegs immer einig wurden.
Nun liegt es in der Natur solcher Nachwuchsseminare, dass eine Verlagsvertretung in Gestalt eines Lektors oder einer Lektorin eingeladen wird, um den jungen Leuten die Verlagsseite näherzubringen und Wege zur ersten Übersetzung aufzuzeigen. Und ich traute meinen Augen nicht, als just die Lektorin, mit der ich bei Hanser gesprochen hatte, im Programm auftauchte, das mir rund eine Woche vor Beginn der Veranstaltung zugeschickt wurde. Wenn das kein Zeichen war? Mit großer Spannung erwartete ich ihren Vortrag und wagte die Lektorin dann sogar zu fragen, wie man es denn anstellen sollte, an eine Übersetzung zu kommen? (Vorher hatte sie mehr oder weniger erzählt, wie man es nicht anstellen sollte.) Sie lächelte mich nur an und meinte: „Sie haben es doch ganz richtig gemacht.“ Auch wenn dies nur ein schwacher Trost war – schließlich hatte der vermeintlich richtige Weg ja leider nicht zum Erfolg geführt –, wurde mir klar, dass sie meinen Namen (wir hatten alle Namensschilder vor uns stehen) zuordnen konnte.
Gut, dachte ich mir, im Anschluss an den Vortrag gehst du zu ihr und bietest ihr deine Dienste als Gutachterin und freie Lektorin an. Sie hatte erwähnt, dass sie diesbezüglich stets Bedarf habe. Was ich nicht bedacht hatte: Diese Idee hatten neben mir elf andere. Und als wir alle so in der Schlange vor der Lektorin standen, die draußen schon von Mann und Kindern erwartet wurde, kam mir die Situation dann doch zu blöd vor, und ich beschloss, ihr lieber nach meiner Rückkehr zu schreiben. Das tat ich auch und war nicht wenig überrascht, als sie mich gleich am nächsten Tag anrief: Sie habe in der Zwischenzeit mit dem Workshopleiter für Norwegisch gesprochen, der mich eine Woche lang beim Übersetzen erlebt hatte. Er habe ihr versichert, dass er mir die Übersetzung zutraue, und sich überdies bereit erklärt, das Lektorat zu übernehmen, damit sie kein Risiko eingehe.
Ich meine mich zu erinnern, dass ich vor Freude bis an die Decke gesprungen bin, so überwältigt war ich von dieser plötzlichen Entwicklung. Die Übersetzung war also noch gar nicht vergeben worden, und viele glückliche Zufälle hatten für mich gespielt. Dass die Lektorin mir nur ein bescheidenes Einstiegshonorar bieten konnte, da ja schließlich der zusätzliche Lektor finanziert werden musste: geschenkt. Ich glaube, ich habe nicht einmal versucht, das Honorar nach oben zu verhandeln …
Die Übersetzungsarbeit selbst habe ich als beglückend, aber auch mühsam in Erinnerung. Anders als erwartet, war es eher selten so, dass ich tagelang nach einer deutschen Entsprechung für einzelne Wörter suchen musste. Vielmehr musste ich mich überraschend häufig zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden und hätte am liebsten jede endgültige Entscheidung mit einem Kommentar versehen, weshalb es nun zu dieser und nicht zu einer anderen Version gekommen war.
Überrascht hat mich insbesondere, dass nicht vermeintlich schwierige Wörter die größte Herausforderung darstellten, sondern neben den typisch norwegischen bzw. skandinavischen Satzstrukturen das kleine Wörtchen „und“. Es war mir bei der ersten Lektüre nicht als stilbildend aufgefallen, doch beim Übersetzen sprang mir die ungewöhnlich häufige Verwendung der Konjunktion regelrecht ins Auge. Petterson liebt es, Aufzählungen und Sätze mit „und“ zu verknüpfen, was im Norwegischen einen ganz eigenen Sound erzeugt, im Deutschen jedoch schnell penetrant bis unbeholfen wirken kann. Mit viel Fingerspitzengefühl und der Unterstützung der beiden Lektoren habe ich die „unds“ ein wenig reduziert, aber doch so viele beibehalten, dass sie den Stil des Autors im Deutschen spiegeln.
Außerdem erinnere ich mich noch daran, dass der Lektor mich dankenswerterweise vor einem peinlichen Fehler bewahrt hat. Petterson schreibt zwar auf Norwegisch, lässt sein Buch jedoch in Dänemark spielen. Die Straßen haben im Original norwegische Namen, was ich völlig unreflektiert übernommen hatte. Dass norwegische Straßennamen in Dänemark unwahrscheinlich seien, hat mir allerdings unmittelbar eingeleuchtet. Kurzerhand wurden die Straßennamen also mit dänischer Orthographie versehen. Auch verdanke ich dem Lektor die Idee für den wunderschönen Titel. Im Original hieß das Buch Til Sibir (Nach Sibirien), wobei der Titel im Norwegischen aufgrund der drei i’s und der Endbetonung des Wortes Sibir weitaus poetischer klang. Dies hat der Lektor in meinen Augen wunderbar in der Formulierung Sehnsucht nach Sibirien eingefangen!
Den zwei Personen, die mir meinen Einstieg ermöglicht haben, bin ich auf ewig dankbar. An dieser Stelle ein sehr herzlicher Gruß an Dr. Tatjana Michaelis und Dr. Wolfgang Butt!
Und gern gebe ich diese Geschichte allen heutigen und vielleicht auch entmutigten Anfänger:innen weiter als Ansporn, bloß nicht zu schnell aufzugeben und Kontakt zu möglichst vielen Leuten aus der Literaturszene zu suchen. Aus heutiger Sicht würde ich auch sagen, dass es durchaus möglich ist, sogenannte etablierte Übersetzer:innen einfach anzusprechen. Es sind fast ausschließlich freundliche und kooperative Menschen, die alle einmal am Anfang ihres Weges standen und dem Nachwuchs mit einem großen Herz begegnen. Bestimmt hätte damals jemand mit mir zusammen die Übersetzung übernommen, hätte ich nur den Mut gehabt zu fragen.