Das Papageienbuch (Schukasaptati) ist eine wohl Ende des ersten Jahrtausends nach Christus in Nordindien entstandene Sammlung von teils ineinander verschachtelten Schwänken, Märchen und Fabeln. Ursprünglich wurde sie auf Sanskrit verfasst und in den folgenden Jahrhunderten in alle indischen Literatursprachen, ins Persische und Türkische mehr oder weniger frei adaptiert. Einzelne Episoden oder zumindest Motive finden sich auch im mittelalterlichen Europa. Wie für derartige Sammlungen vom Pancatantra über Tausendundeine Nacht bis zu Boccacios Decamerone typisch (allesamt mit inhaltlichen Überschneidungen zum Papageienbuch) sind die Episoden in eine Rahmenhandlung eingebettet, die eine vollwertige Geschichte für sich selbst ergibt.
Der Verlag Die andere Bibliothek legt nun eine Neuausgabe der 1968 erschienenen Übersetzung von Wolfgang Morgenroth (1930–2021) vor, seinerzeit Professor der Indologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der größten Hochschule der DDR. Der deutsch-indische Schriftsteller Krisha Kops (geb. 1986) hat ein Vorwort beigesteuert (das sich aber auf eine andere Version der Rahmenhandlung zu beziehen scheint?). Morgenroth selbst erläutert im Nachwort, wie er aus den beiden (unvollständigen) ältesten Versionen des Sanskrit-Textes deren gemeinsame Vorlage rekonstruiert hat (die nach seiner Einschätzung mit dem verlorenen Urtext aber auch schon nicht mehr identisch war).
Der Rezensent ist des Sanskrit nicht mächtig; zum Vergleich hat er Die Śukasaptati (Textus ornatior). Aus dem Sanskrit uebersetzt von Richard Schmidt, Stuttgart 1899, herangezogen. Dabei handelt es sich um die Übersetzung nur einer der beiden von Wolfgang Morgenroth verwendeten Textfassungen, die sich u. a. nach Bestand und Reihenfolge der enthaltenen Episoden unterscheiden; eine direkte Synopsis ist also nur teilweise möglich. Schmidt war auch Herausgeber der von Morgenroth verwendeten Sanskritversionen.
Worum geht es im Papageienbuch? Die Rahmenhandlung ist eine Mischung aus hinduistischem Mythos und Boulevardkomödie: Der Kaufmannssohn Madanasena, jung verheiratet mit der schönen Prabhawati, vernachlässigt um der Liebe willen Rechtschaffenheit und Reichtum, die nach indischer Ethik doch die notwendigen Voraussetzungen sind, um die Liebe als höchstes Lebensziel zu erreichen. Sein besorgter Vater schickt ihn auf Geschäftsreise; ein Papagei und eine Predigerkrähe (sprechfähiger indischer Vogel) sollen während seiner Abwesenheit Prabhawati trösten. Tatsächlich sind die Vögel ein Königspaar der Gandharwen (halbgöttliche Sänger im Gefolge des Himmelsgottes Indra), die zur Strafe dafür, dass sie mit ihrem Gesang einen Asketenschüler von einer Zeremonie ablenkten, in dieser Gestalt von Indra auf die Erde verbannt wurden. Erst wenn sie Madanasena nützlich geworden sind, dürfen sie in den Himmel zurückkehren.
Die Gelegenheit kommt bald: Der Sohn des örtlichen Fürsten verliebt sich in Prabhawati und schickt Botinnen aus, die sie seinen Avancen geneigt machen sollen. Die junge Strohwitwe lässt sich überreden und will sich zum Prinzen begeben. Als die Krähe ihr Vorhaltungen macht, versucht sie diese zu töten; der Papagei wählt einen anderen Weg: Er billigt den geplanten Ehebruch zum Schein, rät ihr aber, dabei so klug vorzugehen wie die Heldin oder der Held einer Geschichte, die er ihr erzählt und deren Ausgang sie erraten soll. Das kann sie nicht, verbringt die Nacht mit Nachgrübeln und verpasst so die Gelegenheit.
Ein durchgängiges Thema der auch kulturhistorisch interessanten Geschichten ist die Überlistung der Dummen, Leichtgläubigen und Abergläubischen durch die (meist unmoralischen) Klugen; ironischerweise geht es oft um gewitzte Ehebrecherinnen: Unter dem Vorwand, ihr theoretisches Rüstzeug zu liefern, hält der Papagei sie von der praktischen Umsetzung ab. Nach siebzig Tagen mit ebenso vielen Geschichten kehrt Madanasena zurück. Prabhawati beichtet ihm ihre Absichten, der Papagei bewegt ihn mit einer letzten Geschichte zur Vergebung und erlangt für sich selbst und die Krähe die göttliche Erlösung.
Morgenroths Übersetzung ist insgesamt sehr leserfreundlich, trotz der unvermeidlich zunächst verwirrenden Fülle an indischen Namen und Begriffen. Die Schreibweise ist konsequent eingedeutscht (etwa sch statt ś oder sh, tsch statt c oder ch, keine Akzente oder Längenzeichen), die Sprache ist bemerkenswert klar und ohne rhetorische Schnörkel oder allzu blumenreiche Metaphern, wirkt aber deswegen keineswegs farblos. Ein charakteristisches Beispiel aus der Rahmenhandlung:
Da deine Eltern bemerken mussten, dass du dich einzig der Huldigung des Liebesgottes widmest, ist Kummer in ihre Herzen eingezogen. Die schwere Schuld, die du mit ihrem Gram auf dich geladen hast, wird von Tag zu Tag größer und macht deine Wünsche zunichte. (Morgenroth, S. 20).
Die gleiche Stelle bei Richard Schmidt:
Da deine Eltern sehen, dass du in den Beschäftigungen des Ungleichpfeiligen (Fußnote: Des Liebesgottes.) aufgehst, stehen sie kummererfüllten Herzens da. Infolge ihres Grames trifft dich gar schwere Schuld, die Tag und Nacht sich weiter ausbreitet und dein Wohlergehen verbrennt. (Schmidt, S. 9).
Dass eine Übersetzung von 1899 altertümlicher klingt als eine von 1968 ist keine Überraschung, aber der zeitliche Abstand alleine erklärt die Unterschiede nicht. Im Gegenteil ist Morgenroths „Huldigung“ ein geradezu archaischer Ausdruck, der freilich mit seinen religiösen Konnotationen im Kontext besser am Platz ist als Schmidts blasses „Beschäftigungen“, das sich in die sonst so gehobene Sprache („kummererfüllten Herzens“, „gar“) nicht überzeugend einfügt. Morgenroths Wortwahl ist in sich stimmiger.
„Dein Wohlergehen verbrennt“ ist mutmaßlich wörtlicher als „macht deine Wünsche zunichte“, aber Morgenroth scheint grundsätzlich größeren Wert darauf zu legen, den Text so zu formulieren, dass er im Deutschen natürlich wirkt. Gerade bei einem nach Entstehungszeit und ‑ort so exotischen Text steht jede Übersetzung zuerst vor der prinzipiellen Frage, ob das Original so wörtlich wie möglich wiedergegeben werden soll, auch unter Beibehaltung von Formulierungen und grammatikalischen Konstruktionen, die in der Zielsprache ungewohnt wirken, oder ob der Text so übertragen wird, wie er aussehen würde, wenn er von vorneherein in der Zielsprache verfasst wäre – die Forderung Luthers aus seinem Sendbrief vom Dolmetschen.
Morgenroth orientiert sich stärker als Schmidt an Luthers Methode, richtet sich aber wohl auch stärker an ein zwar belesenes, aber nichtakademisches Publikum. In der Vermeidung nicht unmittelbar verständlicher Umschreibungen ist Morgenroth jedoch nicht immer konsequent, beispielsweise findet sich an anderer Stelle auch bei ihm die Bezeichnung „Ungleichpfeiliger“ für den Liebesgott Kama, der wie sein antikes Pendant Eros/Amor als Bogenschütze dargestellt wird; sonst gibt er Götterbeinamen meist auf Sanskrit wieder und übersetzt sie erst im Anhang. In der Ersten Ermahnung, die bei Morgenroth in die Fünfte Erzählung eingebettet ist (in den Vorlagetexten bildet sie die Sechste Erzählung), wird Ganescha, der Gott der Klugheit, auf knapp vier Seiten mit sechs verschiedenen Sanskrit-Namen bezeichnet; hätte Morgenroth (wie beim „Ungleichpfeiligen“) die Übersetzungen gleich in den Text gesetzt, wäre nachvollziehbarer gewesen, dass immer dieselbe Gestalt gemeint ist.
Eine auffällige Eigenheit orientalischer Literaturen sind die in den Prosatext eingelegten zahlreichen Verspartien, die von den Figuren rezitiert werden – teils Zitate aus älteren Dichtungen, teils Volksweisheiten. Diese sind, jedenfalls in der vorliegenden Ausgabe, farblich abgehoben, und Morgenroth gelingt es, einen eingängigen Rhythmus zu finden. Auch hierfür ein Beispiel (aus der Zweiten Erzählung):
Alter, Vermögen und häusliche Not,
Liebeserlebnis, Geheimnis und Plan,
eigene Schande und eigener Furz;
darüber schweigt der Verständige still. (Morgenroth, S.42)
Schmidt übersetzt dagegen in Prosa:
Alter, Vermögen, Schande im Hause, Geheimnisse, Berathungen, wenn man den Beischlaf ausgeübt, einen Afterlaut gelassen und Verachtung erlitten hat: das soll ein Verständiger nicht ausposaunen. (Schmidt, S. 25)
„Afterlaut“ mag einen gewissen poetischen Charme haben, aber „ausposaunen“ wirkt umso plumper. Auch hier ist Morgenroths Übersetzung in sich stimmiger und passt besser zu der bodenständigen Lebensphilosophie, die sich durch das ganze Werk zieht.
Der umfangreiche Anhang bietet Übersetzungen der meisten Eigennamen und Erklärungen zur Übersetzung von Wortspielen: Die Pointe der Sechsundsechzigsten Erzählung (die bei Schmidt fehlt) basiert auf dem Gleichklang von Man samwartata („Kommt zu mir!“) und Mansam wartata („Holt Fleisch!“); Morgenroth findet dafür die recht elegante, weil gut in den Kontext passende, Lösung „Kommt zu mir mit Fleiß!“ und „Kommt zu mir mit Fleisch!“
Auch die indische Alltagskultur, das Weltbild, verschiedene religiöse Strömungen usw. werden erläutert, erfreulicherweise sachlich-neutral, ohne dass beispielsweise das Kastensystem im Lichte der marxistischen Klassenlehre kommentiert würde. Das scheint bei einer Übersetzung aus der DDR erwähnenswert; freilich mag die politische Einflussnahme bei einem „Orchideenfach“ wie Indologie eher gering gewesen sein.
Insgesamt ist Wolfgang Morgenroths Übersetzung des altindischen Klassikers auch nach über fünfzig Jahren noch hervorragend lesbar, trotz der kleinen Inkonsequenzen beim Umgang mit Eigennamen. Jedem, der sich für die orientalisch-europäische Erzähltradition interessiert oder einfach für unterhaltsame Lektüre mit interkulturellem Lerneffekt, kann diese Ausgabe empfohlen werden.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag wurde ohne Kenntnis der Originalsprache verfasst. Mehr zum Thema hier.