Das Gespräch mit Hinrich Schmidt-Henkel über seinen Werdegang und seine Arbeit als Literaturübersetzer lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Irgendwie ist alles ein Zufall.
Das fängt schon mit Jon Fosse an, dem Autor, der im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis erhielt und über den Hinrich Schmidt-Henkel sagt, er habe ihn zufällig entdeckt: „Man könnte auch sagen: Fünf Minuten später hätte ein anderer Jon Fosse entdeckt.“
Damals, im Jahr 1995, regnete es in Bergen, erinnert sich Schmidt-Henkel. In der Innenstadt habe er ein paar Museen besucht und in einer Regenpause geschaut, was das Theater gerade spielte. Und siehe da, im Programm stand ein Stück von Jon Fosse. „Ich war sofort neugierig“, sagt er. „Wie schreibt der wohl fürs Theater?“
Schmidt-Henkel hatte einige Jahre zuvor – wieder so ein Zufall – bei einem Übersetzerseminar in Oslo einen Roman von Jon Fosse von einem Büchertisch gegriffen und einige Seiten seiner Prosa gelesen. „Ich war sehr verwundert über den Stil“, sagt er. Laut Schmidt-Henkel schreibt Jon Fosse „mimetisch-naturalistisch“. Das Feuilleton der „Zeit“ drückt es so aus: „Fosses Prosa ist lakonisch verknappt und lyrisch verdichtet, lebt von Wiederholungen und Variationen ähnlicher Motive, spiegelt die verwirrten Gedankengänge melancholischer Individuen.“
„Eine Herausforderung und grandioses Material“
Nach seiner Reise nahm Schmidt-Henkel über den norwegischen Dramatikerverband Kontakt zu Jon Fosse auf. Einige Tage später lagen zwei Theatermanuskripte in seinem Briefkasten: Namnet („Der Name“) und Nokon kjem til å kome („Da kommt noch wer“). Großartige Theatertexte, das habe Hinrich Schmidt-Henkel gleich bemerkt. Für Theaterpraktiker:innen seien sie eine Herausforderung und zugleich grandioses Material.
Hinrich Schmidt-Henkel, ein Mann mit dunkler Brille und sonorer Stimme, ist seit diesem Zufallsfund der Stammübersetzer von Jon Fosse. 1987 fing er an, Literatur aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen zu übersetzen. Zu den Lieblingstiteln in seinem Oeuvre zählen Morgen und Abend von Jon Fosse, Die Vögel von Tarjei Vesaas, Ravel von Jean Echenoz und Hausfrauen in der Hölle von Margherita Giacobino.
Heute gehört Schmidt-Henkel zu den renommiertesten deutschsprachigen Literaturübersetzer:innen. Als einer von wenigen ist er auch einem breiten Publikum bekannt, in der Rolle des Französischerklärers in der Arte-Sendung „Karambolage“. Für seine Leistungen wurde er dreimal für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Paul-Celan-Preis, dem Straelener Übersetzerpreis oder dem Königlich Norwegischen Verdienstorden. Geplant hatte er seine Karriere allerdings nie – im Gegenteil.
Norwegisch empirisch gelernt
Schmidt-Henkel wurde 1959 in Westberlin geboren, kam mit 12 Jahren nach Saarbrücken. An der Universität des Saarlandes studierte er Deutsch und Französisch auf Lehramt. Eine Verlegenheitslösung, wie Schmidt-Henkel im Rückblick gesteht: „Wie viele, die nicht wussten, was sie machen sollten, studierte ich einfach die beiden Schulfächer auf Lehramt, in denen ich am besten war“, sagt er. Schon im Studium zeichnete sich ab, dass Schmidt-Henkel nach dem Referendariat wohl keinen Job als Lehrer antreten würde. Die 1980er-Jahre waren eine Hochphase der Lehrerarbeitslosigkeit.
Zu seinen beiden anderen Arbeitssprachen kam Schmidt-Henkel auch per Zufall: zum Italienischen, als er als Erzieher in einem Kindergarten in der Südschweiz jobbte, und zum Norwegischen, weil er sich in einen Austauschstudenten verliebte. Schon als Kind hatte Hinrich Schmidt-Henkel Dänisch gelernt, später an der Uni auch Schwedisch. Alles Skandinavische habe er dann aber auf Norwegisch umgemünzt. Eine Sprache, die Schmidt-Henkel nicht systematisch, sondern empirisch gelernt hat. Soll heißen: Er saugte bei den Besuchen in Norwegen alles an Texten auf, was ihm begegnete – Straßenschilder, die Rückseite von Keksdosen oder die Inhaltsangabe auf Shampooflaschen.
Den Impuls zu übersetzen, habe Hinrich Schmidt-Henkel schon immer gespürt. „Im Auto habe ich zum Beispiel Radiosendungen laut ins Französische gedolmetscht“, sagt er. Das sei ihm schon auf dem Gymnasium zugute gekommen: Sein Abitur in Französisch meistert er mit 15 und einem Extrapunkt. Er war auf eine Übersetzung gekommen, die der saarländischen Landeslehrerkonferenz nicht eingefallen war.
Die hatte den Begriff discussions de base ganz einfach mit Basisdiskussionen ins Deutsche kopiert. „Klein-Hinrich hatte aber eine politisch linke Karriere hinter sich“, sagt Schmidt-Henkel. „Deshalb wusste ich: Das heißt Grundsatzdiskussionen.“
Neuübersetzung von Excercices de Style
Sein Übersetzertalent und seine Gabe, trotz hohem Sprechtempo druckreifes Deutsch zu produzieren, waren aber nicht die einzigen Voraussetzungen für den Berufseinstieg. Seine Eltern – sein Vater war der Germanistikprofessor Gerhard Schmidt-Henkel – waren mit vielen Kulturschaffenden des Saarlandes vernetzt. Unter ihnen auch zufällig der Literaturübersetzer Eugen Helmlé. Er förderte und beriet Hinrich Schmidt-Henkel von Anfang an.
Helmlé übersetzte unter anderem einen Großteil des Gesamtwerks von Raymond Queneau ins Deutsche. Der Deutschlandfunk urteilte vor zwei Jahren, seine Übersetzung der Excercices de Style, der Stilübungen, von 1961 sei „eine Pioniertat“ gewesen. Das Büchlein, im französischen Original nur 200 Seiten stark, handelt von einer profanen Alltagssituation in Paris, die in 99 verschiedenen Varianten erzählt wird – beispielsweise metaphorisch, als Notiz oder wie in einem Traum.
55 Jahre nach der Erstübersetzung von Eugen Helmlé und Ludwig Harig erscheinen die Stilübungen ein zweites Mal – diesmal übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel und seinem Ehemann Frank Heibert. Queneaus Stilübungen galten als nahezu unübersetzbar. Schmidt-Henkel sagt, das habe ihm nie eingeleuchtet. Denn mit den jeweiligen Überschriften, mögen sie auch so kryptisch sein, gebe Raymond Queneau eine Schreibanweisung für die Übersetzung vor.
„Alles innere Tempo ablegen“
Hinrich Schmidt-Henkel ist ein Übersetzer, der es sich generell nicht einfach macht. Er übersetzt auch Louis-Ferdinand Céline, den großen französischen Stilisten – und üblen Rassisten. Célines Menschenverachtung und sein Hass auf Jüd:innen höre man heraus, wenn man seine Texte wach liest, sagt Schmidt-Henkel. Nach jeder Übersetzung schwört er sich, dass es die letzte ist.
Und doch: Mit Céline führt Hinrich Schmidt-Henkel eine „Langzeitbeziehung“, wie er sagt. Genauso wie mit Jon Fosse. Auch er ist ein Schriftsteller, der Schmidt-Henkel beim Übersetzen herausfordert. Der Satzbau, die Mündlichkeit, die Wortwahl funktionierten in Fosses Nynorsk ganz anders als im Deutschen. „Alles innere Tempo muss ich zum Übersetzen ablegen“, sagt er. „Obwohl das meiner Mentalität so gar nicht entspricht.“
Fosses Wortwahl sei schlicht, sagt Schmidt-Henkel. Nur in wenigen Ausnahmen verlange seine Diktion eine poetische Übersetzung. Jon Fosse schreibe in einem vielfarbigen Grau. Und vielfarbig-grau schillert auch Morgen und Abend. In der deutschen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel hört sich der Beginn des Romans so an:
„Noch mehr heißes Wasser Olai, sagt die alte Hebamme Anna
Steh nicht in der Küchentür rum Mensch, sagt sie
Nein nein, sagt Olai
und er spürt, wie eine Wärme und eine Kälte sich überall auf der Haut ausbreiten, und er bekommt Gänsehaut und ein Glücksgefühl durchfährt ihn und steigt ihm als Tränen in die Augen und er geht schnell zum Herd und schöpft dampfend heißes Wasser in eine Schüssel, ja heißes Wasser sollst du haben, denkt Olai und er schöpft noch mehr heißes Wasser in die Schüssel und er hört die Hebamme Anna sagen jetzt ist es sicher genug, ja jetzt reicht es und Olai schaut auf und da steht die alte Anna neben ihm und nimmt die Schüssel […]“