Im Por­trait: Hin­rich Schmidt-Henkel

Hinrich Schmidt-Henkel ist einer der wenigen sichtbaren Übersetzer:innen in Deutschland. Seit den 1990er-Jahren ist er der Stammübersetzer von Literaturnobelpreisträger Jon Fosse. Von

Der Übersetzer Hinrich-Schmidt-Henkel vor einem Mikrofon
Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel. (c) Ebba D. Drolshagen

Das Gespräch mit Hin­rich Schmidt-Hen­kel über sei­nen Wer­de­gang und sei­ne Arbeit als Lite­ra­tur­über­set­zer lässt sich in weni­gen Wor­ten zusam­men­fas­sen: Irgend­wie ist alles ein Zufall.

Das fängt schon mit Jon Fos­se an, dem Autor, der im ver­gan­ge­nen Jahr den Lite­ra­tur­no­bel­preis erhielt und über den Hin­rich Schmidt-Hen­kel sagt, er habe ihn zufäl­lig ent­deckt: „Man könn­te auch sagen: Fünf Minu­ten spä­ter hät­te ein ande­rer Jon Fos­se entdeckt.“

Damals, im Jahr 1995, reg­ne­te es in Ber­gen, erin­nert sich Schmidt-Hen­kel. In der Innen­stadt habe er ein paar Muse­en besucht und in einer Regen­pau­se geschaut, was das Thea­ter gera­de spiel­te. Und sie­he da, im Pro­gramm stand ein Stück von Jon Fos­se. „Ich war sofort neu­gie­rig“, sagt er. „Wie schreibt der wohl fürs Theater?“

Schmidt-Hen­kel hat­te eini­ge Jah­re zuvor – wie­der so ein Zufall – bei einem Über­set­zer­se­mi­nar in Oslo einen Roman von Jon Fos­se von einem Bücher­tisch gegrif­fen und eini­ge Sei­ten sei­ner Pro­sa gele­sen. „Ich war sehr ver­wun­dert über den Stil“, sagt er. Laut Schmidt-Hen­kel schreibt Jon Fos­se „mime­tisch-natu­ra­lis­tisch“. Das Feuil­le­ton der „Zeit“ drückt es so aus: „Fos­ses Pro­sa ist lako­nisch ver­knappt und lyrisch ver­dich­tet, lebt von Wie­der­ho­lun­gen und Varia­tio­nen ähn­li­cher Moti­ve, spie­gelt die ver­wirr­ten Gedan­ken­gän­ge melan­cho­li­scher Individuen.“

„Eine Her­aus­for­de­rung und gran­dio­ses Material“

Nach sei­ner Rei­se nahm Schmidt-Hen­kel über den nor­we­gi­schen Dra­ma­ti­ker­ver­band Kon­takt zu Jon Fos­se auf. Eini­ge Tage spä­ter lagen zwei Thea­ter­ma­nu­skrip­te in sei­nem Brief­kas­ten: Namnet („Der Name“) und Nokon kjem til å kome („Da kommt noch wer“). Groß­ar­ti­ge Thea­ter­tex­te, das habe Hin­rich Schmidt-Hen­kel gleich bemerkt. Für Theaterpraktiker:innen sei­en sie eine Her­aus­for­de­rung und zugleich gran­dio­ses Material.

Hin­rich Schmidt-Hen­kel, ein Mann mit dunk­ler Bril­le und sono­rer Stim­me, ist seit die­sem Zufalls­fund der Stamm­über­set­zer von Jon Fos­se. 1987 fing er an, Lite­ra­tur aus dem Nor­we­gi­schen, Fran­zö­si­schen und Ita­lie­ni­schen zu über­set­zen. Zu den Lieb­lings­ti­teln in sei­nem Oeu­vre zäh­len Mor­gen und Abend von Jon Fos­se, Die Vögel von Tar­jei Vesaas, Ravel von Jean Echenoz und Haus­frau­en in der Höl­le von Mar­ghe­ri­ta Giacobino.

Heu­te gehört Schmidt-Hen­kel zu den renom­mier­tes­ten deutsch­spra­chi­gen Literaturübersetzer:innen. Als einer von weni­gen ist er auch einem brei­ten Publi­kum bekannt, in der Rol­le des Fran­zö­si­sch­er­klä­rers in der Arte-Sen­dung „Karam­bo­la­ge“. Für sei­ne Leis­tun­gen wur­de er drei­mal für den Über­set­zer­preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se nomi­niert und viel­fach aus­ge­zeich­net, etwa mit dem Paul-Celan-Preis, dem Strae­l­e­ner Über­set­zer­preis oder dem König­lich Nor­we­gi­schen Ver­dienst­or­den. Geplant hat­te er sei­ne Kar­rie­re aller­dings nie – im Gegenteil.

Nor­we­gisch empi­risch gelernt

Schmidt-Hen­kel wur­de 1959 in West­ber­lin gebo­ren, kam mit 12 Jah­ren nach Saar­brü­cken. An der Uni­ver­si­tät des Saar­lan­des stu­dier­te er Deutsch und Fran­zö­sisch auf Lehr­amt. Eine Ver­le­gen­heits­lö­sung, wie Schmidt-Hen­kel im Rück­blick gesteht: „Wie vie­le, die nicht wuss­ten, was sie machen soll­ten, stu­dier­te ich ein­fach die bei­den Schul­fä­cher auf Lehr­amt, in denen ich am bes­ten war“, sagt er. Schon im Stu­di­um zeich­ne­te sich ab, dass Schmidt-Hen­kel nach dem Refe­ren­da­ri­at wohl kei­nen Job als Leh­rer antre­ten wür­de. Die 1980er-Jah­re waren eine Hoch­pha­se der Lehrerarbeitslosigkeit.

Zu sei­nen bei­den ande­ren Arbeits­spra­chen kam Schmidt-Hen­kel auch per Zufall: zum Ita­lie­ni­schen, als er als Erzie­her in einem Kin­der­gar­ten in der Süd­schweiz jobb­te, und zum Nor­we­gi­schen, weil er sich in einen Aus­tausch­stu­den­ten ver­lieb­te. Schon als Kind hat­te Hin­rich Schmidt-Hen­kel Dänisch gelernt, spä­ter an der Uni auch Schwe­disch. Alles Skan­di­na­vi­sche habe er dann aber auf Nor­we­gisch umge­münzt. Eine Spra­che, die Schmidt-Hen­kel nicht sys­te­ma­tisch, son­dern empi­risch gelernt hat. Soll hei­ßen: Er saug­te bei den Besu­chen in Nor­we­gen alles an Tex­ten auf, was ihm begeg­ne­te – Stra­ßen­schil­der, die Rück­sei­te von Keks­do­sen oder die Inhalts­an­ga­be auf Shampooflaschen.

Den Impuls zu über­set­zen, habe Hin­rich Schmidt-Hen­kel schon immer gespürt. „Im Auto habe ich zum Bei­spiel Radio­sen­dun­gen laut ins Fran­zö­si­sche gedol­metscht“, sagt er. Das sei ihm schon auf dem Gym­na­si­um zugu­te gekom­men: Sein Abitur in Fran­zö­sisch meis­tert er mit 15 und einem Extra­punkt. Er war auf eine Über­set­zung gekom­men, die der saar­län­di­schen Lan­des­leh­rer­kon­fe­renz nicht ein­ge­fal­len war.

Die hat­te den Begriff dis­cus­sions de base ganz ein­fach mit Basis­dis­kus­sio­nen ins Deut­sche kopiert. „Klein-Hin­rich hat­te aber eine poli­tisch lin­ke Kar­rie­re hin­ter sich“, sagt Schmidt-Hen­kel. „Des­halb wuss­te ich: Das heißt Grund­satz­dis­kus­sio­nen.“

Neu­über­set­zung von Excer­ci­ces de Style

Sein Über­set­zer­ta­lent und sei­ne Gabe, trotz hohem Sprech­tem­po druck­rei­fes Deutsch zu pro­du­zie­ren, waren aber nicht die ein­zi­gen Vor­aus­set­zun­gen für den Berufs­ein­stieg. Sei­ne Eltern – sein Vater war der Ger­ma­nis­tik­pro­fes­sor Ger­hard Schmidt-Hen­kel – waren mit vie­len Kul­tur­schaf­fen­den des Saar­lan­des ver­netzt. Unter ihnen auch zufäl­lig der Lite­ra­tur­über­set­zer Eugen Helm­lé. Er för­der­te und beriet Hin­rich Schmidt-Hen­kel von Anfang an.

Helm­lé über­setz­te unter ande­rem einen Groß­teil des Gesamt­werks von Ray­mond Que­neau ins Deut­sche. Der Deutsch­land­funk urteil­te vor zwei Jah­ren, sei­ne Über­set­zung der Excer­ci­ces de Style, der Stil­übun­gen, von 1961 sei „eine Pio­nier­tat“ gewe­sen. Das Büch­lein, im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal nur 200 Sei­ten stark, han­delt von einer pro­fa­nen All­tags­si­tua­ti­on in Paris, die in 99 ver­schie­de­nen Vari­an­ten erzählt wird – bei­spiels­wei­se meta­pho­risch, als Notiz oder wie in einem Traum.

55 Jah­re nach der Erst­über­set­zung von Eugen Helm­lé und Lud­wig Harig erschei­nen die Stil­übun­gen ein zwei­tes Mal – dies­mal über­setzt von Hin­rich Schmidt-Hen­kel und sei­nem Ehe­mann Frank Hei­bert. Que­ne­aus Stil­übun­gen gal­ten als nahe­zu unüber­setz­bar. Schmidt-Hen­kel sagt, das habe ihm nie ein­ge­leuch­tet. Denn mit den jewei­li­gen Über­schrif­ten, mögen sie auch so kryp­tisch sein, gebe Ray­mond Que­neau eine Schreib­an­wei­sung für die Über­set­zung vor.

„Alles inne­re Tem­po ablegen“

Hin­rich Schmidt-Hen­kel ist ein Über­set­zer, der es sich gene­rell nicht ein­fach macht. Er über­setzt auch Lou­is-Fer­di­nand Céli­ne, den gro­ßen fran­zö­si­schen Sti­lis­ten – und üblen Ras­sis­ten. Céli­nes Men­schen­ver­ach­tung und sein Hass auf Jüd:innen höre man her­aus, wenn man sei­ne Tex­te wach liest, sagt Schmidt-Hen­kel. Nach jeder Über­set­zung schwört er sich, dass es die letz­te ist.

Und doch: Mit Céli­ne führt Hin­rich Schmidt-Hen­kel eine „Lang­zeit­be­zie­hung“, wie er sagt. Genau­so wie mit Jon Fos­se. Auch er ist ein Schrift­stel­ler, der Schmidt-Hen­kel beim Über­set­zen her­aus­for­dert. Der Satz­bau, die Münd­lich­keit, die Wort­wahl funk­tio­nier­ten in Fos­ses Nyn­orsk ganz anders als im Deut­schen. „Alles inne­re Tem­po muss ich zum Über­set­zen able­gen“, sagt er. „Obwohl das mei­ner Men­ta­li­tät so gar nicht entspricht.“

Fos­ses Wort­wahl sei schlicht, sagt Schmidt-Hen­kel. Nur in weni­gen Aus­nah­men ver­lan­ge sei­ne Dik­ti­on eine poe­ti­sche Über­set­zung. Jon Fos­se schrei­be in einem viel­far­bi­gen Grau. Und viel­far­big-grau schil­lert auch Mor­gen und Abend. In der deut­schen Über­set­zung von Hin­rich Schmidt-Hen­kel hört sich der Beginn des Romans so an:

„Noch mehr hei­ßes Was­ser Olai, sagt die alte Heb­am­me Anna
Steh nicht in der Küchen­tür rum Mensch, sagt sie
Nein nein, sagt Olai
und er spürt, wie eine Wär­me und eine Käl­te sich über­all auf der Haut aus­brei­ten, und er bekommt Gän­se­haut und ein Glücks­ge­fühl durch­fährt ihn und steigt ihm als Trä­nen in die Augen und er geht schnell zum Herd und schöpft damp­fend hei­ßes Was­ser in eine Schüs­sel, ja hei­ßes Was­ser sollst du haben, denkt Olai und er schöpft noch mehr hei­ßes Was­ser in die Schüs­sel und er hört die Heb­am­me Anna sagen jetzt ist es sicher genug, ja jetzt reicht es und Olai schaut auf und da steht die alte Anna neben ihm und nimmt die Schüssel […]“


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